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FORUM 1–2017

Sexuelle Selbstbestimmung – und dann

Mehr als 20 Jahre Begleitete Elternschaft in der Bundesrepublik Deutschland

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Vereinzelt entstanden Mitte der 1990er-Jahre aus der sozialpädagogischen Praxis heraus spezielle Unterstützungsangebote für Eltern mit Behinderungen, die bundesweit nachgefragt wurden. Seitdem spricht man von »Begleiteter Elternschaft«, wenn es in Deutschland um die Unterstützung von geistig behinderten Menschen mit Kindern in ihrer sozialen Funktion als Eltern geht. Sie wurden zunehmend nicht mehr von ihren Kindern getrennt (Vlasak et al. 2015).

Anfänge in Schleswig-Holstein und Brandenburg

Zuerst waren es vereinzelte Anbieter von sozialen Diensten für Menschen mit Behinderungen, vor allem im norddeutschen Raum, die diesen Begriff prägten. Vor mehr als 20 Jahren zogen behinderte Eltern mit ihren Kindern aus der ganzen Bundesrepublik nach Kiel in die Marie-Christian-Heime. Das Familienprojekt in Friesack/Mark in Brandenburg war einer der ersten Anbieter eines stationären, konzeptionell unterlegten Wohnprojekts für Familien der Begleiteten Elternschaft, das durch ein Zusammenwirken von Jugend hilfe und Eingliederungshilfe beiden Bedarfen der Familien gerecht wurde. Inzwischen gibt es fast in jedem Bundesland – wenn auch noch nicht überall und nicht überall ausreichend viele – Angebote der Begleiteten Elternschaft.

Landesarbeitsgemeinschaft Begleitete Elternschaft
Brandenburg und Berlin

Eine besondere Situation entwickelte sich im Bundesland Brandenburg. Dort wurde die Begleitete Elternschaft schon seit den 1990er-Jahren durch das Landesjugendamt (heute Ministerium für Bildung, Jugend und Sport) unterstützt. Im Oktober des Jahres 2000 wurde ein erster Fachtag organisiert, auf dem sich eine Arbeitsgemeinschaft für die damals sechs Brandenburger Anbieter zusammen fand. Später schlossen sich auch Anbieter aus Berlin der Landesarbeitsgemeinschaft an.1 Sie hat inzwischen einen Verein gegründet, der sich mit der Weiterentwicklung der Begleiteten Elternschaft in Brandenburg beschäftigt und vom Landesministerium für Bildung, Jugend und Sport unter stützt wird. Unter seiner Regie wurde eine Qualifizierungs reihe »Begleitete Elternschaft« in bisher fünf Modulen ent wickelt.2 Außerdem unterstützt der Verein Forschungsvorha ben im Bereich Begleitete Elternschaft. Ein Kurs für Eltern mit geistiger Behinderung wird jährlich angeboten.3 Neben dem zweitägigen Jahrestreffen im Juni organisiert der Verein inzwischen jedes Jahr im Herbst einen Fachtag für die Fach öffentlichkeit. Für 2018 ist erstmals ein Fach- und Familien tag für und mit betroffenen Familien geplant.

Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG)
Begleitete Elternschaft

Im Jahr 2002 trafen sich in Bremen dreizehn Anbieter von Begleiteter Elternschaft, um eine Bundesarbeitsgemeinschaft zu gründen.4 Man hatte in den Einrichtungen und sozialen Diensten mit vielen Schwierigkeiten und Problemen zu kämpfen und erhoffte sich, durch regelmäßige Treffen diese gemeinsam bearbeiten, die Unterstützungsangebote weiter entwickeln und die Situation für behinderte Eltern jeweils vor Ort verbessern zu können. Die Unterstützung von Menschen mit Behinderung, die Eltern waren oder Eltern werden wollten, sollte auf praxisnaher Ebene evidenzbasiert verbessert werden. Seither trifft sich die »BAG Begleitete Elternschaft« jährlich für zwei Tage in wechselnden Regionen der Bundesrepublik. Inzwischen gibt es über 30 feste Mitglieder. Zu jedem der Treffen kommen auch Gäste, die sich neu mit dieser Thematik beschäftigen und sich von den langjährigen Mitgliedern Beratung und Unterstützung erhoffen.

Rechtliche Grundlagen

Gemäß den rechtlichen Grundlagen des Deutschen Sozialgesetzbuches (SGB) können Eltern mit Behinderungen Hilfe zur Erziehung (für die Familie) sowie Eingliederungshilfe und Unterstützung ihrer Teilhabe (für den behinderten Elternteil) einfordern. Für Kinder von Eltern mit Behinderungen können Rechte auf Erziehung, Versorgung, Schutz und Beteiligung geltend gemacht werden. Nach dem Über einkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), welches von der EU 2010 formal bestätigt wurde, ergibt sich für die Bundesregierung der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention von 2011; auch für einige Bundesländer gibt es Aktionspläne.

Jugendhilfe versus Eingliederungshilfe

Wenn es auch kein Leistungsangebot »Begleitete Elternschaft« im Katalog der Sozialgesetzgebung gibt, so können sich die Familien doch auf drei Rechtsansprüche berufen:

1. Die Eltern haben in der Regel das Recht auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII.

2. Die Eltern haben in der Regel das Recht auf Eingliederungshilfe/Unterstützung ihrer Teilhabe nach §§ 53 und 54 SGB XII.

3. Das Kind hat das Recht auf Erziehung, Versorgung, Schutz und Beteiligung (SGB VIII/Kinderrechtskonvention).

Unter all diesen Rechtsnormen verbergen sich diverse Leistungen der Jugend- und der Eingliederungshilfe. Die meisten Eltern wünschen sich Hilfe im eigenen Wohnraum in einem ambulanten Rahmen. Dies reicht jedoch manchmal nicht aus, um eine mögliche Kindeswohlgefährdung auszuschließen. Daher ist häufig – zumindest in den ersten Lebensjahren – ein intensiveres Unterstützungsangebot notwendig. Es gibt inzwischen verschiedene Finanzierungsformen, die Angebote der Eingliederungshilfe und Angebote der Jugendhilfe so kombinieren, dass eine bedarfsgerechte Unterstützung gewährt werden kann. Bis vor einigen Jahren gab es in Deutschland eine rechtlich paradoxe Situation, was die Finanzierung von Eltern mit Behinderungen in Einrichtungen gemäß § 19 SGB VIII betrifft. Hatte das Bundessozialgericht im März 2009 entschieden, dass in dem Fall vorrangig die Jugendhilfe für die Finanzierung dieser Leistung zuständig sei, so hatte das Bundesverwaltungsgericht eine gegenteilige Auffassung vertreten und im Oktober 2009 den Vorrang der Eingliederungshilfe für die Finanzierung der Leistung für junge behinderte Elternteile benannt. Zum Glück hat sich das Bundessozialgericht im Jahr 2012 dazu entschieden, seine ursprünglich geäußerte Rechtsauffassung zu revidieren. Somit sind die Sozialhilfeträger auch in Einrichtungen nach § 19 SGB VIII für die Finanzierung der Leistungen der behinderten Eltern zuständig.5

UN-Behindertenrechtskonvention

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)6 hat sich die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, »wirksame und geeignete Maßnahmen« zu treffen »zur Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft betreffen« (UN-BRK Art. 23, Abs. 1).

»Die Vertragsstaaten unterstützen Menschen mit Behinderungen in angemessener Weise bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung« (UN-BRK Art. 23, Abs. 2).

»In keinem Fall darf das Kind aufgrund einer Behinderung entweder des Kindes oder eines oder beider Elternteile von den Eltern getrennt werden« (UN-BRK Art. 23, Abs. 4).7

Damit besteht eine rechtliche Grundlage für die Arbeit mit behinderten Eltern. Gab es vor einigen Jahren noch die Option, Eltern mit Behinderungen grundsätzlich von bestimmten Leistungen der Jugendhilfe auszuschließen, ist dies heute nicht mehr einfach möglich.

Stolpersteine bei der Umsetzung der UN-BRK

In den letzten 20 Jahren sind viele Dinge für behinderte Eltern auf den Weg gebracht worden, allerdings nicht genug und nicht überall. Immer noch müssen behinderte Eltern, die mit ihren Kindern zusammenleben wollen, in andere Bundesländer umziehen, weil es vor Ort kein passendes Unterstützungsangebot gibt. Der Lebensbereich Elternschaft ist im § 54 SGB XII (Eingliederungshilfe) nicht benannt, was dazu führt, dass sich Fachkräfte in den Sozialämtern für diesen Bereich der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht für zuständig ansehen. Dabei ist der Kontakt zu den eigenen Kindern der denkbar wichtigste und weitreichendste soziale Kontakt im Leben eines jeden Menschen. Bei hohem Unterstützungsbedarf kommt es immer noch zu Trennungen der Kinder von den eigenen Eltern unmittelbar nach Geburt des Kindes. Auch sind Unterstützungsangebote von behinderten Eltern in vielen Regionen noch unbekannt. Es gibt nur wenig Informationsmaterial für Eltern in Leichter Sprache. Elternkurse sind nicht barrierefrei. Und nicht zuletzt sind die Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Eltern mit Behinderungen nach wie vor sehr hoch.

Der Deutsche Verein für öffentliche und soziale Fürsorge hat 2014 eine Empfehlung für eine praxisnahe Unterstützung von Eltern mit Beeinträchtigungen und deren Kinder herausgegeben (Michel 20158). Diese Empfehlung ist sogar in Leichte Sprache übersetzt worden. Der Verein erklärt eine inklusive Gestaltung des Sozialraums zu einer zentralen Aufgabe und fordert, dass »Eltern mit Beeinträchtigungen (…) der Zugang zu Angeboten ebenso ermöglicht wird, wie diese Eltern ohne Beeinträchtigungen offenstehen«.

Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist noch viel Arbeit und Veränderung notwendig. Eltern mit Behinderungen haben es in der Gesellschaft nicht leicht. Unterstützer in der Begleiteten Elternschaft erleben es häufig, dass sozialräumliche Angebote sich nicht auf die Bedürfnisse von behinderten Eltern einstellen. Auch fehlen hier konkrete Untersuchungen.

Forschung und Evaluation

Im deutschsprachigen Raum gibt es inzwischen einige Untersuchungen, die im Rahmen der Begleiteten Elternschaft durchgeführt wurden. Nach ersten Untersuchungen der Universität Bremen (Pixa-Kettner 1996; 20059) folgten einige Evaluationsprojekte in Brandenburg vom Landesjugendamt und der Universität Potsdam10 und zuletzt ein Forschungsprojekt von der Université de Fribourg in der Schweiz.11 Es lassen sich thematische Diplom- und vermehrt Master-Arbeiten im sozialpädagogischen universitären Umfeld finden (siehe z. B. Schiemenz 201412).

Universität Bremen

Einen wesentlichen, frühen Anteil an der Prägung Begleiteter Elternschaft in sozialpädagogischen Fachkreisen und darüber hinaus hatte die viel zu früh verstorbene Professorin Dr. Ursula Pixa-Kettner von der Universität Bremen. War sie es doch, die schon früh, gemeinsam mit ihren Studenten und Studentinnen, die erste bundesweite Forschungsstudie zur Lebenssituation von Eltern mit einer geistigen Behinderung in Bremen durchgeführt und damit dieses Thema in der Fachöffentlichkeit bekannt gemacht hatte (Pixa-Kettner et al. 1996).

Seitdem hat sich viel verändert. Die Anzahl der Menschen, die trotz einer geistigen Behinderung Mutter oder Vater werden, wuchs stark. Einen sprunghaften Anstieg der Fallzahlen kann man in der Zeit um das Jahr 2000 herum erkennen, wie eine Folgeuntersuchung aus dem Jahr 2005 zeigt (Pixa-Kettner 2005).

Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen sind behinderte Menschen so selbstbewusst geworden, dass sie einen bestehenden Kinderwunsch umsetzen, auch wenn ihnen davon abgeraten wird. Seltener als früher leben Menschen mit einer geistigen Behinderung in stationären Strukturen, sondern in Wohngemeinschaften oder in einer eigenen Wohnung. Seit 1992 ist es in allen bundesdeutschen Ländern verboten, minderjährige Jugendliche mit Behinderungen zu sterilisieren, und auch die Sterilisation von Frauen und Männern mit Behinderungen ist erschwert (§1631c BGB, § 1905 BGB).

Deutschsprachiger Raum

Hier gibt es inzwischen einige Untersuchungen, die im Rahmen der Begleiteten Elternschaft durchgeführt wurden. Nach den schon erwähnten Untersuchungen der Universität Bremen folgten einige kleinere Forschungsprojekte. In Brandenburg wurde 2004 vom Landesjugendamt Brandenburg und der Universität Potsdam die Lebenssituation von Eltern mit geistiger Behinderung und ihrer Kinder erfasst. Dabei wurden Entwicklungsverzögerungen bei den Kindern, insbesondere im sprachlichen Bereich, festgestellt. Noch spezifischer erforschte die Université de Fribourg in der Schweiz unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Orthmann die Entwicklung von 157 Kindern aus Deutschland, die im Rahmen der Begleiteten Elternschaft mit ihren Eltern gemeinsam leben; gleichzeitig wurden die Kompetenzen der behinderten Eltern getestet.13 In dieser Untersuchung wird beschrieben, dass die Kinder im Durchschnitt vor allem in der kognitiven Entwicklung deutlich kompetenter sind als ihre Eltern, jedoch weniger gut entwickelt als die Kinder ihrer jeweiligen Altersgruppe. Darüber hinaus wurde deutlich, dass Eltern mit geistiger Behinderung in den alltagspraktischen Fertigkeiten weit kompetenter sind, als es ihre kognitiven Fähigkeiten vermuten lassen würden. Im Vergleich mit anderen geistig behinderten erwachsenen Menschen stehen sie gut da. Solche hohen alltagspraktischen Kompetenzen haben ihre Kinder im Vergleich mit anderen Kindern allerdings nicht. Sowohl in der schulischen Entwicklung als auch im lebenspraktischen Bereich bedürfen die Kinder einer guten sozialpädagogischen Förderung außerhalb des Elternhauses, um die gleichen Entwicklungschancen zu haben wie andere Kinder ihres Alters.

Fußnoten

1 begleitete-elternschaft-bb.org

2 begleitete-elternschaft-bb.org/index.php

3 begleitete-elternschaft-bb.org/pdf/Berufsbegleitende_Qualifizierungen_Fach_und_Leitungskraefte.pdf

4 www.begleiteteelternschaft.de

5 Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, Mitgliederinfo 21/2012; www.lwl.org/spur-download/bag/21_12.pdf

6 www.behindertenrechtskonvention.info

7 www.behindertenrechtskonvention.info/schutz-von-ehe-und-familie-3900/

8 Michel, M. (2015): Unterstützte Elternschaft. Angebote für behinderte und chronisch kranke Eltern. Eine Analyse zur Umsetzung des Artikels 23 der UN-BRK; begleitete-elternschaft-bb.org/pdf/fachtagung2015/Unterst_Elternschaft_Analyse_Umsetzung_UN_BRK.pdf

9 www.awo-potsdam.de/files/data/pdf/Elternschaften%20von%20Menschen%20mit%20geistiger%20Behinderung.pdf

10 mbjs.brandenburg.de/media_fast/6288/expertise_zusammenleben_geistig_behinderter_eltern_mit_kinder.pdf

11 fns.unifr.ch/sepia/de/sepia-d/

12 monami.hs-mittweida.de/files/6575/Masterarbeit_Tilli+Schiemenz.pdf

13 fns.unifr.ch/sepia/de/sepia-d/

Literaturangaben

Pixa-Kettner, U. (1996). »Dann waren sie sauer auf mich, dass ich das Kind haben wollte«. Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistig behinderter Menschen mit Kindern in der BRD. Baden-Baden

Vlasak, A., et al. (2015). In: Pixa-Kettner, U. (Hrsg.): Tabu oder Normalität? Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 3. Auflage

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Annette Vlasak

Annette Vlasak war Heilerziehungsdiakonin in der DDR. Nach dem Mauerfall entwickelte sie eine Konzeption Begleitete Elternschaft, die 1997/98 schließlich mit der AWO Friesack zur Gründung des Familienprojekts führte. Als Verfolgte der DDR-Diktatur konnte sie erst in dieser Zeit berufsbegleitend studieren. Sie leitet den Bereich Ambulante Hilfen der Albatros-Lebensnetz gGmbH, wo die unterschiedlichen Jugend- und Eingliederungshilfen so kombiniert werden, dass eine bedarfsgerechte Unterstützung angeboten werden kann.

 

Alle Angaben zu Autorinnen und Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

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