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FORUM 1–2017

Sexuelle Bildung aus Perspektive von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen und deren Hauptbezugspersonen

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Eine Interviewstudie gibt Aufschluss über das Sexualwissen von jungen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und deren Interessen und Fragen zur Sexualität. Zum Vergleich wurden auch Eltern und andere Bezugspersonen zum Thema Sexualaufklärung befragt.

Ausgangslage

Da lange Zeit die Auffassung herrschte, Menschen mit Beeinträchtigungen hätten keine gelebte Sexualität, war das Sexualverhalten von Menschen mit Behinderungen in der öffentlichen Wahrnehmung schlichtweg nicht existent bzw. hatte nicht zu existieren. In Sachsen lebten zum 31.12.2015 knapp 400000 amtlich anerkannte schwerbehinderte Menschen (Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen). Die sogenannten seelisch-geistigen Behinderungen erfuhren in den letzten Jahren die größte Zunahme, mittlerweile ist fast jeder vierte Schwerbehinderte in Sachsen von einer kognitiven Beeinträchtigung und/oder psychischen Erkrankung betroffen. Bei den unter 25-Jährigen bilden diejenigen mit kognitiver Beeinträchtigung die größte Gruppe. Unter allen Menschen mit Beeinträchtigungen sind sie am stärksten Vorbehalten und Ängsten ausgesetzt. Eine kognitive Beeinträchtigung wurde in der Vergangenheit mit den Attributen asexuell und infantil assoziiert, Betroffene zum geschlechtslosen Objekt degradiert (Herrath 2013). Die Spezifik der Sexualität von Menschen mit kognitiven Einschränkungen liegt in der Diskrepanz von physischer und psychischintellektueller Entwicklung, die es erschwert, sexuelle Wünsche altersentsprechend zum Ausdruck zu bringen (Walter 2005). Die Auffassung mangelnder sexueller Bedürfnisse begünstigte in vielen Fällen eine geschlechtsneutrale Erziehung, begleitet von fehlenden Ablöseprozessen wie Überbehütung und Infantilisierung durch das Elternhaus. Parallel zur Asexualität existierten in der Öffentlichkeit Negativauffassungen über depriviertes und unangemessenes Verhalten in Form erhöhter Triebhaftigkeit, basierend auf fehlenden Lern- und Erfahrungsräumen, die mangelndes Körperbewusstsein und Wissensdefizite über Fremd- und Eigenbedürfnisse begünstigen (Specht 2013). In der bereits frühzeitigen und strukturell starken Geschlossenheit des Lebensraums von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung weithin gesonderte Beschulung (Mühl 2008), wenig inklusive Freizeitangebote, geschützte Arbeitsplätze und betreute Wohnsituation mit mangelnder Intim- und Privatsphäre (Stöppler 2014) – fand die Sexualität keine oder wenig Beachtung. Fand sie trotzdem statt, wurde sie als störend und sanktionswürdig empfunden. Sowohl Eltern im häuslichen Umfeld als auch Pädagog_innen1 in Behinderteneinrichtungen reagierten darauf mit Ablehnung, Überforderung und eher restriktiven Entscheidungen, z. B. einer pauschalisierten Empfängnisverhütung bei Frauen (Achilles 2010; Walter 2005; Specht 2013).

Bildungsangebote und Ausbildungsrichtlinien sind für alle Schulformen in umfassender und sehr differenzierter Form in den Lehrplänen verankert (KMK 2010); ihre Umsetzung hängt wesentlich von den handelnden Akteuren ab. Da in vielen Institutionen die Auffassung herrschte, mit sexualpädagogischen Angeboten »schlafende Hunde zu wecken«, reduzierte sich das Angebot an sexueller Bildung auf ein Minimum, meist mit Konzentration auf die Vermeidung unerwünschter Folgen sexuellen Handelns (Herrath 2013). Folglich hat sich über die Jahre ein starker Präventionscharakter entwickelt, der neben der allgemeinen Vermeidung sexueller Aktivitäten in erster Linie Schwangerschaften und weiterführend auch Elternschaft verhindern soll. Unterstützt wird der schulische Pragmatismus in vielen Fällen von den Elternhäusern und Erziehungsberechtigten
der Jugendlichen mit kognitiven Einschränkungen. Aus Angst vor Missbrauch und Ausbeutung sind Eltern besonders daran interessiert, Heranwachsende vor Negativerfahrungen zu bewahren (Wazakili et al. 2009). Sie negierten oder ignorierten generell die Existenz von Sexualität und zeigten wenig Interesse an aufklärerischen Maßnahmen zur selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Sexualität ihrer Kinder (Michel/Häußler-Sczepan 2005). Im Ergebnis stehen Heranwachsende mit kognitiven Einschränkungen einer wenig aufgeschlossenen Gesellschaft, überforderten Lehrkräften und sorgenvollen Erziehungsberechtigten gegenüber, wenn es um sexuelle Interessen und Aufklärung geht.

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen sexueller Bildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Sowohl die handelnden Akteure als auch die thematische Schwerpunktsetzung werden in den Blick genommen und zu den individuellen Interessenlagen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bezug gesetzt. Speziell aus Elternsicht werden Kommunikationsstrukturen im familiären Kontext, Handlungsoptionen sowie Unterstützungs möglichkeiten dargestellt.

Die Datengrundlage bilden 42 Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie je einer Hauptbezugsperson, meist der Mutter. Die Jugendlichen waren zwischen 13 und 26 Jahren alt und besuchten eine Förderschule für geistig Behinderte oder eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WfbM) in Sachsen. Ihre Beeinträchtigungen variierten von mild bis moderat,2 eine spezifische Kategorisierung erfolgte aufgrund der heterogenen und teils unstrukturierten Diagnosestellungen nicht. Bei der Befragung handelte es sich um einen Methodenmix aus qualitativen und quantitativen Elementen. Die Interviews mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen fanden mündlich face to face und mit wenigen Erzählsequenzen statt. Die Interviews mit den Hauptbezugspersonen erfolgten nach Wunsch des Befragten face to face oder telefonisch.

Sexuelle Bildung aus Betroffenenperspektive

Um einen Einblick in das abrufbare Sexualwissen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu erhalten, wurde der Einstieg in die Befragung mit zwei Wissensfragen zum Koitus und zur Konzeption gestaltet. Die Beschreibung des Begriffs »Geschlechtsverkehr« war für viele Jugendliche und junge Erwachsene mit großen Schwierigkeiten verbunden, jedoch weniger auf der Wissensebene als vielmehr auf der emotionalen Ebene. Mit der Frage zum Koitus assoziierten die Befragten unangenehme Gefühle oder Peinlichkeit, was vermuten lässt, dass ihnen der Erfahrungshintergrund fehlt, mit nicht vertrauten Personen über Sexualität zu sprechen. Auf der Wissensebene waren die Aussagen meist wenig detailliert und von diffusem Halbwissen bzw. der Sorge um mögliche Konsequenzen gekennzeichnet: Felix (15): »Also, wenn – also wenn er halt – wenn er, also wenn der Mann in der von Frau halt zum Orgasmus kommt, dass die Spermien halt zu der Gebärmutter halt sucht den Weg. Und dann halt zu der Eizelle und dass dann daraus halt ein Kind entsteht.«

Mit der Beantwortung der Frage »Weißt du, wie Babys entstehen?« hatten die Befragten weniger Berührungsängste. Die subjektiven Ideen von Konzeption variierten stark nach ihren zugeschriebenen Bedeutungen: Neben dem eigentlichen Grundprinzip der Befruchtung als Basis einer Schwangerschaft (Beatrice, 23: »Das ist so wie ein kleines Ei, durch Befruchtung. […] Der Mann hat Samen. Die vereinen sich dann zusammen.«) existierten Beschreibungen von Maßnahmen und Symptomen während der Schwangerschaft (Jessica, 21: »Wenn hier das mit der Fruchtblase ist ... Wenn sie anfängt zu platzen, da müssen Frauen dann ins Krankenhaus. Wenn das dann losgeht mit den Wehenschmerzen.«) und Verhaltensmustern (Martin, 22: »Na, aus Mann und Frau, wenn die zusammen schlafen.«). Meist handelte es sich um verknappte, auf das Wesentliche reduzierte Aussagen. Parallel dazu existierten diffuse bzw. falsche Aussagen: »Wenn man [Kinder] macht. Und der Mann den Speichel bei die Frau. Dann nistet sich, also die Speichel, nistet sich dann im Körper ein. Und dann ist die Frau schlecht. Übelkeit. Und dann kommt ein Kind« (Jennifer, 20). Die Kenntnisse der zuvor beschriebenen Vorgänge erlangten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen primär aus dem schulischen Setting. Eine typische Antwort lautete: »Na, von der Schule her. Hatten wir schon alles im Unterricht darüber« (Sascha, 22).

Sowohl die Frequenz als auch der Umfang an Aufklärungsunterricht schienen in den meisten Fällen auf ein Minimum reduziert worden zu sein, mit der Konsequenz, dass den meisten Befragten, insbesondere den Älteren, nur noch wenige konkrete Inhalte präsent waren.

Den Schilderungen zufolge fanden Aufklärungsinhalte während des regulären Unterrichts durch die Lehrkraft statt, seltener durch externe Fachpersonen oder in Form von Projekttagen und Exkursionen. In der didaktischen Umsetzung kamen in der Erinnerung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen neben Bildern und Arbeitsblättern auch Materialien wie Aufklärungsfilme und Puppenmodelle zum Einsatz. Stefanie, 23: »Ich hatte mal ein Projekt gemacht, da ging es um Liebe, Sex, Küssen und Kuscheln und Beisammensein.« Trotz fehlender Detailkenntnisse und Erinnerungen kann die schulische Sexualaufklärung als prägnantes Ereignis innerhalb des Bildungsprozesses definiert werden, insbesondere dann, wenn anschauliche Materialien verwendet und der Erlebnischarakter erfüllt wurden.

Ergänzend zur Schule standen den Befragten für Aufklärungsgespräche oder Gespräche über Sexualität die Eltern bzw. vorrangig die Mutter zur Verfügung. Nur vereinzelt erlebten sich die Befragten durch den eigenen Erfahrungshintergrund als aufgeklärt; alternative Quellen wie Bücher oder Filme wurden nur am Rande erwähnt und stärker mit dem Fokus Stimulierung als mit Aufklärung assoziiert: Jakob, 14: »Ich habe das mal in einem Buch gelesen. Und hab mal in meinem Laptop mal Filme geguckt. So was wie Pornos.«

Trotz großer Schwierigkeiten bei der Erinnerung der thematischen Gestaltung der schulischen sexuellen Bildungsangebote zeigte sich ein deutliches Bild: Verhütung, Schwangerschaft und Geburt sowie der Aufbau und die Entwicklung der Geschlechtsorgane waren die von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen am häufigsten genannten Themen. Angebote zu den Themen Verliebtsein, Intimitäten, emotionale Nähe und Gestaltung von Paarbeziehungen wurden meist erst auf Nachfragen erinnert. Biologische Fakten und Funktionalismus dominieren die schulischen Bildungsangebote in der Erinnerung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ein Thema stand dabei an erster Stelle: Verhütung! Es nimmt in der sexuellen Bildung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen generell einen zentralen Stellenwert ein, oft mit einer eindeutigen Botschaft:

I.: »Kannst du dich noch erinnern, was die euch genau erzählt hat?«

Conny, 20: »Bloß: Soll aufpassen, wenn uns Sex haben, aufpassen. Nicht gleich kleine Familie machen. Mal richtig aufpassen. Dann gibt’s auch was zum Ziehen. So wie Gummis zum Drüberziehen.« Dass Verhütungsmaßnahmen ebenso dem Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionen dienen, wird zur Nebensache. Kernbotschaft der Sexualaufklärung ist und bleibt die Prävention gegen (primär von Dritten) ungewollte Schwangerschaften.

Dem schulischen Bildungsangebot steht der subjektive Informationsbedarf der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gegenüber (vgl. Abb. 1). Kennenlernen, Flirten, eine Partnerschaft leben sowie Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit waren die Favoriten unter den sexuellen Themen bei Jugendlichen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Darin spiegelten sich sowohl die eigenen Bedürfnisse nach Nähe und Partnerschaft als auch der eigene Erfahrungshinter grund: Zwei Drittel der Befragten ohne aktuell festen Partner wünschten sich Informationen über das Flirten und Kennen lernen. Und insgesamt 8 von 42 Befragten hatten laut eigenen Aussagen noch nie einen festen Freund/eine feste Freundin.

Etwa die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gab an, keine Gesprächspartner_innen für den Austausch über sexuelle Fragen zur Verfügung zu haben. Dabei fanden sich Hinweise, dass vor allem Mädchen und junge Frauen sowie jüngere Befragte nicht über die nötigen Handlungskompetenzen verfügen, sich aktiv geeignete Gesprächspartner_innen zu suchen. Sie bilden damit im Ver gleich zu anderen jungen Menschen mit Beeinträchtigun gen die Personengruppe mit den geringsten Ressourcen an Informationsquellen und emotionaler Unterstützung im kommunikativen Austausch über Liebe und Sexualität (und evtl. auch andere Themen). Exemplarisch steht der folgende Dialog mit David, 17:

I: »Redest du mit anderen über Liebe und Sex? Also mit deinen Freunden oder so?«

D: »Nein.«

I: »Mit niemandem?«

D: »Nein.«

I: »Also auch nicht mit den Erziehern oder so?«

D: »Nein.«

I: »Nicht über die Freundinnen?«

D: »Es bleibt bei mir.«

Unter denjenigen, denen Vertrauenspersonen zur Verfügung standen, nahmen Peers eine zentrale Stellung für sexuelle Fragen ein, vor allem bei den männlichen Befragten. Vertrauenspersonen in sexuellen Angelegenheiten waren somit die (besten) Freunde und/oder WG-Mitbewohner_innen. Bei den Mädchen und jungen Frauen stammten die Vertrauenspersonen hingegen vorzugsweise aus dem engsten weiblichen Familienkreis, mit Verweis auf eine immanente Verständnisleistung durch Geschlechtskonformität. Beatrice, 23: »Mit meiner Schwester und mit meiner Mama – das ist nämlich Frauensache.«

Sexuelle Bildung aus Eltern und Betreuerperspektive

Weitaus detailliertere Auskünfte über das Aufklärungs geschehen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen lieferten deren Hauptbezugspersonen, in den meisten Fällen war das die Mutter.

Der Anlass für das erste Aufklärungsgespräch wurde zum Großteil durch sie selbst initiiert, sodass die Sexualaufklärung als reaktive Handlung der Eltern auf diverse Ereignisse und Situationen erfolgte, die eine Auseinandersetzung mit der Thematik erforderlich machten. Die am häufigsten genannten Ereignisse waren die erste feste Freundin/der erste beste Freund, die Thematisierung von Sexualität im schulischen Kontext sowie das Einsetzen der Menstruation. Biankas Mutter: »Erst, wo sie ihre Tage bekommen hat. Ja, erst, wo sie ihre Tage bekommen hat. Da sind wir erst mal mit dem ganzen Thema in Berührung gekommen. Vorher war das für uns noch tabu.«

Weitere Anlässe für innerfamiliäre Aufklärungsgespräche waren konkrete Fragen und die Neugier der Jugendlichen, aber auch pornografischer Konsum oder die Geburt eines Kindes im nahen sozialen Umfeld. Insbesondere bei Jungen und jungen Männern konnten die Eltern/Betreuer_innen ein erhöhtes Interesse an visuellen Darstellungen von sexuellen Vorgängen beobachten. Max’ Mutter: »Wo er oft mal so reagiert auf gewisse Bildchen oder wenn er im Fernsehen mal irgendwas gesehen hat, wenn die sich küssen oder so.«

Damit initiiert in den meisten Fällen ein bestimmtes Ereignis die Auseinandersetzung mit der Geschlechtlichkeit des Kindes, die im Vorfeld verdrängt, negiert und tabuisiert wurde. Kontrastierend dazu gab es vereinzelt Eltern, die Sexualaufklärung als integrativen und präventiven Bestandteil der allgemeinen Erziehungsarbeit gestalteten. Die aktive und selbstorganisierte Haltung zur Sexualaufklärung lässt sich anhand folgender Beispiele darstellen: Saschas Mutter: »Ich denke, es war einfach, dass ich ihn bilden wollte.« Eine andere Mutter antwortete auf die Frage, ob es einen Anlass gab »Nein. Das war für’s Vorausschauen« (Sophies Mutter).

Während die Jugendlichen als primäre Aufklärungsinstanz schulische Angebote erinnerten, benannten die Hauptbezugspersonen in erster Linie sich selbst, gefolgt von der Schule bzw. den Lehrkräften. Natalies Mutter: »Von mir. Und von der Schule mit. Die darf man nicht außen vor lassen, die haben auch so was gemacht.«

Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Hauptbezugspersonen und der Wahrnehmung der Kinder/ Klient_in nen erklärt sich vermutlich aus den unterschiedlichen Darbietungsformen von Sexualaufklärung. Die Aufklärungsarbeit im Elternhaus bzw. innerhalb der betreuten Wohnform erfolgte meist in Form von Gesprächen als latenter und fortlaufender Prozess, orientiert am Bedarf und den Interessen des Kindes. Den Jugendlichen und jungen Erwachsenen blieben daher die Aufklärungsgespräche durch Eltern und Betreuer_innen in der Erinnerung weniger präsent als die expliziten und z.T. exklusiven schulischen Angebote.

Aus Sicht der Hauptbezugspersonen standen die meisten ihren Kindern/Klient_innen als Gesprächspartner_innen in sexuellen Fragen zur Verfügung. Die Mutter (resp. die Betreuerin/der Be treuer) als Vertrauensperson war für beide Geschlechter gleichermaßen präsent. Der Vater, der Betreuer sowie Perso nen aus dem Freundeskreis stellten vorzugsweise für die Söhne und jungen Männer zentrale Ansprechpartner, für die Töchter und jungen Frauen zusätzlich zur Mutter noch die Schwester. Auch hier entstand eine Diskrepanz in den Wahr nehmungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen und der Hauptbezugspersonen, die vermutlich auf der oben er wähnten reaktiven Haltung der Eltern im Aufklärungsprozess sowie der passiven Gesprächsführung mancher Jugendlicher und jungen Erwachsenen basiert.

Ähnlich wie im schulischen Kontext dominiert die Aufklärungsgespräche und die Kommunikation über sexuelle Fragen im Wesentlichen ein Thema: die Verhütung. Die Intention dahinter zielt unmissverständlich auf die Prävention ungewollter Schwangerschaften, nur marginal auf sexuell übertragbare Infektionen. Fokussiert und initiiert wird die Auseinandersetzung mit schwangerschaftsverhütenden Maßnahmen primär von den Hauptbezugspersonen, weshalb sie auch in der sexuellen Bildung oberste Priorität erlangt. Verhütung und ungewollte Schwangerschaft/Elternschaft ist das zentrale Thema, das sich ganz besonders bei Müttern und Betreuer_innen von jungen Frauen im Verlauf des gesamten Interviews wiederholt. Sexuelle Selbstbestimmung, Körperwahrnehmung, körperliche Veränderungen, Paarbeziehungen und andere Themen der sexuellen Aufklärung finden peripher Eingang in die Gespräche, da sie häufig der Anlass für Fragen des Kindes/Klienten sind, erhalten aber nie den Raum und die Ausführlichkeit in der Auseinandersetzung wie das Thema Verhütung. Marias Mutter: »Ja, wir haben darüber gesprochen, dass [das] passiert. Und haben über Verhütung gesprochen und über ihre … über ihr Lebenskonzept auch. Ja, viel auch über Verhütung. Weil sie sehr gern auch Kinder haben möchte. Was natürlich in der Situation ganz schwierig ist. Und für uns auch ganz schwierig ist, das auszuhalten. Weil man guckt ja natürlich auch weiter, wie es gehen könnte.«

Hinter der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Verhütung stand nicht selten ein hohes Sicherheitsbedürfnis der Eltern in Verbindung mit Vorstellungen eines sexuell deprivierten Milieus, in dem sich das Kind bewegt. Connys Mutter: »Jetzt hat sie eine Verhütung für die nächsten drei Jahre. Und das ist schon wichtig, dass nichts passiert erst mal. Gerade Behindertenwerkstatt … man weiß ja auch nicht.«

Neben der Verhütung erfolgten die Gespräche zur Sexualität vor allem auf der emotionalen Ebene. Geschlechtsunabhängig dominierten Fragen zu Partnerschaft, Kontaktmöglichkeiten und emotionaler Nähe. Sie bestätigen den hohen Stellenwert der sogenannten weichen Themen für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Beatrices Mutter: »Wie kann ich überhaupt eine Beziehung aufbauen? Wie gelingt es mir also, wirklich jemanden kennenzulernen, der wirklich für mich jetzt geeignet wäre? Das wäre so das, wo sie sich sicherlich auch Fragen stellt.«

Gespräche über Pornografie, Selbstbefriedigung und Körperhygiene fanden erwartungsgemäß häufiger mit männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen statt. Mit den Mädchen und jungen Frauen wurden hingegen geschlechtsrelevante körperliche Prozesse wie die Menstruation und die entwicklungsbedingten körperlichen Veränderungen diskutiert, meist in Verbindung mit der bereits erwähnten Präven tion von ungewollten Schwangerschaften sowie dem Schutz vor sexueller Ausbeutung. Sogenannte sexuelle Randthemen fanden selten Eingang in die Gespräche zwischen den Hauptbezugspersonen und den Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Die sexuelle Bildung von Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen sehen die meisten der Hauptbezugspersonen als eine Herausforderung. Deutlich zu spüren war die Unsicherheit über die Aufnahmefähigkeit der Kinder/Klient_innen. Viele Eltern und Betreuer_innen stellten sich die Frage, welche Bildungsinhalte tatsächlich von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen verstanden und erinnert wurden. Die fehlende Rückmeldung von Seiten der Jugendlichen/jungen Erwachsenen verstärkte die Unsicherheit noch. Unterschiede zu Menschen ohne kognitive Beeinträchtigung würden sich zudem aus einer geringeren Eigeninitiative zur Gesprächsbereitschaft ergeben. So antwortet eine Mutter auf die Frage nach ihren Gefühlen, mit ihrer Tochter über sexuelle Themen zu sprechen. Natalies Mutter: »Ja, ich empfinde es immer als schwierig, weil man nicht weiß, was man vermitteln soll oder muss und was nicht. Was sie versteht und was sie nicht versteht oder umsetzen kann. Inwieweit das wichtig ist auch für das Leben.«

Die eigentliche Spezifik der Sexualaufklärung von Jugendlichen mit Beeinträchtigung bezieht sich weniger auf Inhalte als auf Didaktik, wie es Florians Betreuer formulierte:

I: »Sehen Sie Unterschiede?«

FB: »Bei der Vermittlung, ja. Also nicht bei den Inhalten. Bei der Vermittlung schon, ja.«

I: »Worin würden die bestehen Ihrer Meinung nach?«

FB: »Na zum Beispiel, dass man es in Leichter Sprache ausdrückt. Zum Beispiel. Ich glaube, dass es mehr Erklärungsbedarf da gibt. Schon.«

Materialien in Druckform (Bücher, Broschüren) sowie audiovisuelle Medien (Filme) erschienen den Befragten geeignete Darbietungsformen, aber auch digitale Medien sowie haptische Materialien wurden genannt. Oft fielen dabei die Attribute »einfach« und »anschaulich«, was mit dem Wunsch nach Bildern und Anschauungsmaterial korreliert.

Die Möglichkeit einer autonomen Informationsbeschaffung mithilfe digitaler Medien wurde als eher problematisch eingestuft, ebenso die Netzwerke und Peergroups, in denen sich Jugendliche und junge Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen bewegen. Sie werden als wenig zuverlässig und valide in der Informationsvergabe beschrieben. Jessicas Vater: »Jugendliche ohne Behinderung haben mehr die Freunde, die Cliquen, die offene Aussprache, mehr die Literatur, den PC, die ganzen Medien, die sie nutzen können für die … mal schnell heimlich im Computer was geguckt. Naja, das kann man nun nicht. Die fragt uns zwar, wenn sie mal an den Computer gehen kann und den einschalten kann, aber über die ersten fünf Klicks kommt sie nicht hinaus. Sie weiß gar nicht, was da für eine Welt noch dahintersteckt.«

Schlussfolgerungen für die Praxis

In Jugendsexualitätsstudien wurden die Mütter als zentrale und zeitlich stabile Aufklärungs- und Vertrauenspersonen ermittelt (BZgA 2010; Heßling/Bode 2015). In unserer Untersuchung zu Aufklärungspersonen für Jugendliche und junge Erwachsene mit Körper- und Sinnesbeeinträchtigungen wird dagegen die Schule bzw. werden die Lehrkräfte zur zentralen Aufklärungsinstanz (vgl. Wienholz et al. 2013; BZgA 2017). Sie schaffen den adäquaten Rahmen für sexuelle Bildungsangebote. Jedoch liefern die Aussagen der Jugendlichen Hinweise auf eine minimierte, meist einseitig pragmatische Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität, die den Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen nicht gerecht wird. Seitens der Hauptbezugspersonen zeigen sich steuernde und limitierende Strukturen (Langzeitverhütung, Mobilitätsabhängigkeit, Kommunikationskultur), die mehr dem Bedürfnis nach Kontrolle und Gestaltungsspielraum für die subjektive Zufriedenheit der Eltern entsprechen als den sexuellen und partnerschaftlichen Interessen und Bedürfnissen der heranwachsenden Kinder.

Alle Menschen haben laut UN-Behindertenrechtskonvention (UN 2006) unabhängig vom Behindertenstatus ein Recht auf Bildung, inklusive des Rechts auf sexuelle Bildung mit dem Ziel einer aktiven Lebensbewältigung in größtmöglicher Selbstständigkeit und Selbstbestimmung und der Umsetzung einer erfüllenden und verantwortungsvollen Sexualität. Die Empfehlungen zielen daher auf eine konsequente und ganzheitliche sexualpädagogische Aufklärung mit umfassenden und geeigneten sexuellen Bildungsangeboten für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen (Prochnow Penedo 2014). Das Ziel sollte die Vermittlung grundlegenden Sexualwissens, sozialer und sexueller Handlungskompetenzen und als angemessen erachteter Verhaltens- und Kommunikationsregeln sein (vgl. Lache 2015). Durch die geringere Merkfähigkeit und das reduzierte Sprachverständnis von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ergeben sich auf der didaktischen Ebene besondere Herausforderungen für die Aufklärungsarbeit. Zu nennen sind hier einfache, wenig detaillierte und anschauliche Erklärungen mit haptischen und visuellen Materialien sowie ein größerer zeitlicher Rahmen mit vielen Wiederholungen, Geduld und Einfühlungsvermögen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch die Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit, um im Bedarfsfall auf geeignete Hilfestrukturen, Materialien und Anlaufstellen zurückgreifen zu können.

Fußnoten

1 Auf Wunsch der Autorin behalten wir in diesem Beitrag den Gendergap als Mittel der Darstellung aller Geschlechtsidentitäten bei (d. Red.).

2 Die Einteilung ist der amerikanischen Literatur entnommen, im deutschen Sprachraum spricht man von leicht bis mittelgradig; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Hrsg.) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Genf: WHO.

Literaturangaben

Achilles, I. (2010). Was macht Ihr Sohn denn da? Geistige Behinderung und Sexualität. München: Ernst Reinhardt Verlag

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2010). Jugendsexualität 2010. Repräsentative Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern. Ergebnisse der aktuellen Repräsentativbefragung. Köln: BZgA

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2017): Junge Erwachsene mit Beeinträchtigungen – Sexualität, Verhütung, soziale Beziehungen. In Druck

Herrath, F. (2013). Menschenrecht trifft Lebenswirklichkeit: Was behindert Sexualität? In: Clausen, J./Herrath, F. (Hrsg.): Sexualität leben ohne Behinderung. Das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, S. 19–34.

Heßling, A. & Bode, H. (2015). Jugendsexualität 2015. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativen Wiederholungsbefragung. Köln: BZgA

Kultusministerkonferenz (KMK) (2010). Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1999 bis 2008. Dokumentation Nr. 189. 2010. www.kmk.org/fileadmin/pdf/Statistik/Dok_189_SoPaeFoe_2008.pdf (Stand: 13.3.2017).

Lache, L. (2015). Sexualität und Autismus. Die Bedeutung von Kommunikation und Sprache für die sexuelle Entwicklung. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Michel, M. & Häußler-Sczepan, M. (2005). Behinderung. In: Cornelißen, W. (Hrsg.). Gender-Datenreport. Kommentierter Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, S. 497–579.

Mühl, M. (2008). Sonderbeschulung im Vergleich mit gemeinsamem Unterricht. In: Nußbeck, S.; Biermann, A. & Adam, H. (Hrsg.) (2008). Sonderpädagogik der geistigen Entwicklung. Handbuch Sonderpädagogik. Band 4. Göttingen, S. 590–617.

Prochnow Penedo, S. (2014). Selbstbestimmung und Teilhabe junger Erwachsener mit geistiger Behinderung: Anspruch und Wirklichkeit der Umsetzung pädagogischer Leitlinien für die schulische Bildung und Vorbereitung junger Erwachsener mit geistiger Behinderung auf die nachschulische Lebenswirklichkeit. Dissertation. Oldenburg.

Specht, R. (2013). Sexualität und Behinderung. In: Schmidt, R. B. & Sielert, U. (Hrsg.). Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. 2. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa, S. 288–301.

Stöppler, R. (2014). Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung. München: Ernst Reinhardt Verlag.

Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen. www.statistik.sachsen.de/genonline/online (Stand: 5.4.2017).

United Nations (2006). Final report of the Ad Hoc Committee on a Comprehensive and Integral International Convention on the Protection and Promotion of the Rights and Dignity of Persons with Disabilities. www.un.org/esa/socdev/enable/rights/ahcfinalrepe.htm (Stand: 16.4.2016).

Walter, J. (2005). Sexualität und geistige Behinderung. Gesellschaft für Sexualerziehung und Sexualmedizin Baden-Württemberg e. V. 6. Auflage. Heidelberg: Edition »S«.

Wazakili, M.; Mpofu, R. & Devlieger, P. (2009). Should Issues of Sexuality and HIV and AIDS be a Rehabilitation Concern? The Voices of Young South Africans with Physical Disabilities. Disability and Rehabilitation 31/1: 32–41.

Wienholz, S.; Seidel, A.; Michel, M. & Müller, M. (2013). Jugendsexualität und Behinderung. Ergebnisse einer Befragung an Förderschulen in Sachsen. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung, Bd. 36. Köln.

 

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Sabine Wienholz

Dr. rer. med. Sabine Wienholz ist seit April 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Schulpädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Schulentwicklungsforschung der Universität Leipzig tätig. Davor arbeitete sie viele Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Teenagerschwangerschaften sowie (Jugend-)Sexualität und Behinderung. Sabine Wienholz ist zudem Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexualwissenschaft e. V. (GSW), Mitglied bei pro familia Sachsen, im Arbeitskreis Sexualpädagogik Leipzig sowie im Verein Leben mit Handicaps e. V.

 

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Fachheft

Jugendsexualität und Behinderung

Ergebnisse einer Befragung an Förderschulen in Sachsen

Es gibt wenig Studien darüber, wie aufgeklärt Jugendliche mit Behinderung sind, wie sie das erste Mal erleben oder wie sie verhüten. Dieses Fachheft präsentiert die Befragungsergebnisse zu Einstellungen und Verhaltensweisen von sächsischen Jugendlichen mit Behinderungen in Bezug auf Aufklärung, Sexualität und Verhütung.
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Im November 2014 startete eine Folgestudie zum Projekt "Jugendsexualität und Behinderung" mit der Zielgruppe…
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