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FORUM 1–2017

Sexualaufklärung für Menschen mit Beeinträchtigungen

Die Aktivitäten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Themenfeld

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Es ist eine wichtige Aufgabe der BZgA, Angebote und Materialien so zu gestalten, dass Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gleichermaßen mit den Präventionsbotschaften im Bereich Sexualaufklärung und Familienplanung erreicht werden können. Auf welcher Grundlage und wie dies geschieht, skizzieren die Autorinnen dieses Beitrags.

Rechtliche Grundlagen

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bestärkt Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrem Recht, in allen Fragen zu Ehe, Partnerschaft, Familie und Elternschaft selbst zu entscheiden.1 Im September 2011 veröffentlichte die Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention. Teil dieser Umsetzung ist der Abbau von Barrieren in allen Lebensbereichen. In vielen Organisationen sind Maßnahmen, die Menschen mit Beein träch tigungen in ihrer selbstbestimmten Sexualität unterstützen, noch nicht umfassend berücksichtigt. Seit dem Beitritt Deutschlands zur UN-BRK setzt auch die BZgA diese Regelungen und Bestimmungen verstärkt und sukzessiv um. So initiierte sie im Mai 2012 das Projekt »Sexualaufklärung und Behinderung«. Die wichtigsten Grundsätze dieses Projekts sind die Stärkung von Empowerment, Partizipation und Kompetenz von Menschen mit Beeinträchtigungen.

Die BZgA ist zudem über das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG)2 beauftragt, unter Beteiligung der Länder und in Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der Familienberatungseinrichtungen aller Träger, Konzepte und bundeseinheitliche Maßnahmen zur Sexualaufklärung und Familienplanung zu erarbeiten und zu verbreiten.

Umgesetzt wird diese gesetzliche Aufgabe u.a. durch die Erstellung von Rahmenkonzepten zur Sexualaufklärung und die Durchführung von wissenschaftlichen Studien und Forschungsprojekten. Sie dienen als Grundlage, um zielgruppenspezifische Materialien mit hoher Praxistauglichkeit zu entwickeln, die auf eine breite Akzeptanz stoßen und rege Verwendung in der Praxis finden.

Studien und Konzepte als Basis

Auf Grundlage des mit den Bundesländern abgestimmten Rahmenkonzepts zur Sexualaufklärung ist das Konzept zur Sexualaufklärung von Menschen mit Beeinträchtigungen erstellt worden. »Ziel ... ist es, Menschen mit Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Voraussetzungen dabei zu unterstützen, einen aufgeklärten, selbstbestimmten (und verantwortungsvollen/selbstverantwortlichen) Umgang mit Sexualität zu leben bzw. leben zu können« (BZgA 2015, S. 19). Weiterhin wird Bezug genommen zu den Rahmenbedingungen und Begriffsbestimmungen, dem Thema Behinderung als Lebenserfahrung und den Auswirkungen auf Sexualität, Partnerschaft und Elternschaft. Darüber hinaus werden die Grundannahmen und Ziele der Sexualaufklärung benannt. So wird Sexualaufklärung als ganzheitliche Sexualaufklärung verstanden unter Berücksichtigung zielgruppenspezifischer Besonderheiten. Mit weiteren Themenfeldern und konkreten Maßnahmen zur Umsetzung dieser Aufgabe schließt das Konzept ab.3

Um der wissenschaftlichen Fundierung gerecht zu werden, sind qualitätsgesicherte Verfahren wie wissenschaftliche Erhebungen und Evaluationen unabdingbar. Die Verfahren müssen verschiedene Zielgruppen, ihre Beeinträchtigungsformen (z.B. bei der Wahl der Kommunikationsmittel) und die unterschiedlichen Lebenswelten (z.B. Wohnen in Einrichtungen) der Menschen berücksichtigen. Menschen mit Beeinträchtigungen dabei als »Expertinnen und Experten in eigener Sache« zu sehen ist in Forschung und Evaluation essenziell.

Die BZgA hat drei Erhebungen der Universität Leipzig gefördert, die sowohl partizipativ als auch barrierefrei gestaltet wurden:

  • »Jugendsexualität und Behinderung«,
  • »Familienplanung bei jungen Erwachsenen mit Behinderung« und
  • »Teilhabechancen an sexueller Bildung Jugendlicher mit kognitiven Einschränkungen«.

 

Während sich die ersten beiden Erhebungen vor allem der Zielgruppe der Jugendlichen (im Alter von 12 bis 18 Jahren) und jungen Erwachsenen (18- bis 25-Jährige) mit Sinnes und/oder Körperbehinderungen widmete, setzte die letztgenannte Studie den Fokus auf die Zielgruppe der jungen Erwachsenen mit kognitiven Einschränkungen (im Alter von 18 bis 25 Jahren). Die Befragungen erfolgten entweder mittels Fragebogen, der nach dem Maßstab der Barrierefreiheit entwickelt und vorab getestet wurde. Oder es wurden mündliche Face-to-Face-Interviews durchgeführt, um Hürden beim eigenständigen Lesen und Schwierigkeiten beim Lesen-Sinnverständnis bei jungen Erwachsenen mit kognitiven Einschränkungen vorzubeugen. Bei diesen multiperspektivischen Befragungen wurden teilweise auch Erziehungsberechtigte und Lehrkräfte befragt, um eine umfassende Sicht auf diese junge Zielgruppe und ihr soziales Umfeld zu erhalten. Die Studien liefern wertvolle Erkenntnisse zu den Themen Aufklärung in Schule und Elternhaus, erste sexuelle Erfahrungen und Verhütung, körperliche Entwicklung, Partnerwahl, Kinderwunsch, Einstellungen zur Sexualität von Menschen mit kognitiven Einschränkungen sowie Gewalterfahrungen.4

Angebote für Jugendliche – ein Beispiel für die Umsetzung

Ziel der BZgA ist es, Jugendliche mit Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Voraussetzungen dabei zu unterstützen, einen aufgeklärten, selbstbestimmten (und verantwortungsvollen/selbstverantwortlichen) Umgang mit Sexualität zu leben bzw. leben zu können. Dabei muss Sexualaufklärung auf Informationsvermittlung, Motivations- und Kommunikationsförderung ausgerichtet sein (BZgA 2015). In der Entwicklung und bei der Überarbeitung von Medien und Angeboten zur Sexualaufklärung müssen Bedarfe und Barrieren geprüft und berücksichtigt werden. Barrieren in der Informationsvermittlung können auf unterschiedlichen Ebenen bestehen. Angebotene Medien müssen technisch, grafisch und sprachlich den Bedarfen von Menschen mit Beeinträchtigungen gerecht werden, damit sie für sie nutzbar sind und die Informationen sie erreichen. Die Medien und Angebote zur Sexualaufklärung werden entsprechend gesetzlichen Vorgaben5 und wissenschaftlichen Ergebnissen überarbeitet; die unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen werden dabei gemäß dem Grundgedanken der Inklusion berücksichtigt.

Ein Beispiel für die verschiedenen Ebenen der Umsetzung bietet die Überarbeitung des Jugendportals zur Sexualaufklärung www.loveline.de. Die Internetseite wird stetig technisch und inhaltlich angepasst. Neben Bild- und Videobeschreibungen wurden die Bedienbarkeit der Seite und ihr Aufbau verändert. So wird die Seite nun zum Beispiel von unterstützenden Computerprogrammen mit Vorlesefunktion erkannt und benutzbar. Die Texte auf der Seite wurden sprachlich vereinfacht und um die Rubrik »kurz & knapp« ergänzt. In dieser Rubrik sind die zentralen Informationen eines Themas vorab zusammengefasst. Wichtige Botschaften können so einfach und schnell erfasst und verstanden werden. Dies erleichtert leseungewohnten Menschen den Zugang zu Informationen. Weiterhin wurde die Bildwelt der Seite verändert. Es wurden mehr Bilder von Jugendlichen mit Beeinträchtigungen integriert, um sie deutlich als Teil der Zielgruppe abzubilden. Das Thema Beeinträchtigungen soll in Wort und Bild aufgegriffen werden. Derzeit werden ebenfalls Informationen für Jugend liche mit Beeinträchtigungen in Texten und Verweisen ergänzt. Wie diese Informationen aufbereitet und auf der Seite integriert werden, wird partizipativ mit Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung erarbeitet. Das Internet angebot bietet die Möglichkeit, Anpassungen umgehend in ihrer Usability und Akzeptanz bei den Zielgruppen zu testen.

Auch bei der Bewerbung der Internetseite hat die BZgA Barrieren abgebaut, um eine breitere Zielgruppe ansprechen zu können. Es wurden Flirtpostkarten entwickelt, die zum einen auf das Angebot von www.loveline.de verweisen und zum anderen emotional ansprechend die Themen Gefühle, Flirten und Nähe aufgreifen. Die Botschaften sind in Leichter Sprache formuliert und werden durch eine Abbildung unterstützt. Eine der Abbildungen wurde erhaben gestaltet, damit sie gefühlt werden kann. Alle Botschaften sind auch in Braille schrift auf den Postkarten zu lesen. Mit den Postkarten wird ein Medium angeboten, das inklusiv Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen auf Informationen zu Themen der Sexualaufklärung hinweist. Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass die Postkarten vielseitig verteilt und eingesetzt werden.6

Angebote für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren

Um die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Wohneinrichtungen zu unter stützen, bedarf es Qualifizierungmaßnahmen von Mitar bei tenden, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Dies zeigte auch eine Befragung von Mitarbeitenden in Wohnein rich tungen der Eingliederungshilfe (Ortland 2016; s.a. den Beitrag von B. Ortland in diesem Heft). Aus diesem Grund fördert die BZgA das mehrjährige partizipative Projekt »ReWiKs«. Hieran beteiligt sind die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, die Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe sowie die Humboldt-Universität zu Berlin. In dem Projekt sollen Mitarbeitende weitergebildet werden, die vorrangig mit Bewohnerinnen und Bewohnern mit kognitiver Beeinträchtigung arbeiten. Erstellt werden ein Reflexionsmanual, ein Praxishandbuch sowie ein zweiteiliges Fortbildungshandbuch mit Materialien für Mitarbeitende und für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. An die Entwicklung der Materialien schließt eine partizipative Praxiserprobung an. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen werden in allen Phasen des Projektes als Expertinnen und Experten in eigener Sache einbezogen und befragt, um die Anwendbarkeit, Handhab barkeit und Nachhaltigkeit der Materialien zu überprüfen. Das Reflexions manual und das Praxishandbuch wird es auch in einer Version in Leichter Sprache geben.7

Das Ziel: selbstständig informieren und selbstbestimmt entscheiden

Es ist eine wichtige Aufgabe der BZgA, auch in Zukunft die bestehenden Angebote und Materialien so anzupassen, dass Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gleichermaßen erreicht werden können. Sich selbstständig informierenzu können ist die Grundlage, um selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Folglich müssen Menschen mit Beeinträchtigungen die technischen Gegebenheiten vorfin den, um sich problemlos und eigenständig informieren zu können. Ihre Belange müssen bedacht werden und in die Informationen einfließen. Der Zugang zu Gesundheitsinfor mationen, insbesondere die Inhalte zu Sexualaufklärung und Familienplanung, sollen im Sinne einer inklusiven Gesellschaftstetig überprüft und verbessert werden.

 

Fußnoten

1 UN-BRK, Artikel 23: www.behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommenueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-3101/ [Zugriff am 6.7.2017]

2 Schwangerschaftskonfliktgesetz: www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html [Zugriff am 6.7.2017)

3 Beide Rahmenkonzepte können kostenfrei über die BZgA bestellt werden. Demnächst steht auch eine Version in Leichter Sprache zur Verfügung.

4 Weitere Informationen zu den Studien sind auf dem Forschungskanal der BZgA zusammengestellt: www.forschung.sexualaufklaerung.de.

5 Behindertengleichstellungsgesetz, BGG (2016)

6 Die Flirtpostkarten sind bestellbar unter www.bzga.de.

7 Weitere Informationen zum Projekt sind auf dem Forschungskanal der BZgA zusammengestellt: www.forschung.sexualaufklaerung.de.

Literaturangaben

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2015): Sexualaufklärung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Köln: BZgA

Ortland, B. (2016): Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Grundlagen und Konzepte für die Eingliederungshilfe. Stuttgart: Kohlhammer Verlag

Alle Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

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Veröffentlichungsdatum

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Miriam Tomse
Mirjam Tomse ist Dipl.-Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Referentin im Bereich Sexualaufklärung bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit dem Schwerpunkt Inklusion.

Stefanie Paschke
Stefanie Paschke ist Dipl.-Heilpädagogin und wissenschaftliche Referentin im Bereich Nationale und Internationale Zusammenarbeit, Forschung und Fortbildung bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Dort arbeitet sie schwerpunktmäßig zu den Themen Sexualität und behinderung sowie Prävention sexualisierter Gewalt.

 

Alle Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

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