Sexualaufklärung in der Grundschule – Evaluation des Medienpakets „Dem Leben auf der Spur“
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Die Evaluation fokussiert sich auf die Perspektive der Lehr- und Fachkräfte an Grund- und Förderschulen und ihre Bewertung des Medienpakets in Bezug auf seinen Inhalt, auf die Darstellungsformen und die Nutzung der einzelnen Materialien in der pädagogischen Praxis. Berücksichtigt wurden auch Fragestellungen zum Kontext der Sexualaufklärung an Grund- und Förderschulen. Für eine ganzheitliche Betrachtung kam ein Mixed-Methods-Design aus quantitativer Onlinebefragung und qualitativen Online-Fokusgruppen zum Einsatz, ergänzt um einen Online-Bewertungsbogen für die Teilnehmenden an den Fokusgruppen.
Stichprobe
An der deutschlandweiten Onlinebefragung nahmen 350 Lehrkräfte an allgemeinen Schulen und 220 Förderpädagoginnen und -pädagogen teil. Die Stichprobe war nicht repräsentativ, aber sie erreichte eine ausgewogene Verteilung auf die Bundesländer unter Berücksichtigung verschiedener Ortsgrößen und Schultypen.
Die Onlinebefragung fand von Mitte April bis Ende Juli 2023 statt und diente auch zur Rekrutierung von Teilnehmenden für die Online-Fokusgruppen. Von Juli bis August 2023 wurden insgesamt acht Fokusgruppendiskussionen mit jeweils vier bis fünf Teilnehmenden durchgeführt. Fünf dieser Online-Fokusgruppen bestanden aus Lehrkräften an allgemeinen Schulen und drei aus Förderpädagoginnen und -pädagogen.
Das Medienpaket „Dem Leben auf der Spur“ besteht aus der namensgebenden Geschichte „Dem Leben auf der Spur“, dem Wendeplakat „Wenn Eizelle und Samenzelle sich treffen“, dem Lexikon „Das kleine Körper ABC", dem Faltblatt „Das Baby im Bauch der Mutter“ sowie jeweils einem Anschreiben an die Eltern und Erziehungsberechtigten beziehungsweise die Lehr- und Fachkräfte. Die Materialien sind gesammelt in einer Versandtasche erhältlich.
Ergebnisse
Stellenwert der Sexualaufklärung an der Grundschule
Die Ergebnisse der Onlinebefragung zeigen eindeutig, dass die Lehr- und Fachkräfte die Sexualaufklärung an Grund- und Förderschulen als sehr wichtig erachten (ø 9.2 auf einer 10er-Skala). In der tatsächlichen Lehrpraxis nimmt das Thema aber einen niedrigeren Stellenwert ein (ø 7.2 an allgemeinen Schulen und ø 6.1 an Förderschulen auf einer 10er-Skala).
Bewertung der Zusammenarbeit mit beteiligten Gruppen
Während sich die themenbezogene Zusammenarbeit im Schulkollegium und mit der Schulleitung als eher unproblematisch erweist, wird die Zusammenarbeit mit den Eltern und Erziehungsberechtigten von über der Hälfte der Teilnehmenden als (etwas) schwierig empfunden. Erfahrenere Lehr- und Fachkräfte nehmen einen Wandel der Wünsche, Bedürfnisse und Bedenken im Bereich der Sexualaufklärung wahr, der sich in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie in der Arbeit mit den Kindern bemerkbar macht.
Bekanntheit, Einsatz und Bewertung des Medienpakets
Zwei Drittel der befragten allgemeinen Lehrkräfte gaben an, das Medienpaket zu kennen (66 %), während knapp die Hälfte der Förderpädagoginnen und -pädagogen das Medienpaket nicht kennt (44 %).
Auch ist die Mehrfachnutzung des Medienpakets seitens der allgemeinen Lehrkräfte im Vergleich zu den Förderpädagoginnen und -pädagogen deutlich höher. Unter den Förderpädagoginnen und -pädagogen ist der Anteil der Teilnehmenden, die das Medienpaket trotz Bekanntheit noch nicht genutzt haben, deutlich höher als bei den allgemeinen Lehrkräften.
Zugehörige beider Gruppen gaben an das Medienpaket auch bei der Arbeit mit Kindern mit Förderbedarf einzusetzen. Allgemeine Lehrkräfte bewerten das Medienpaket in der Eignung für Schülerinnen und Schüler deutlich positiver als Förderpädagoginnen und -pädagogen. Etwas mehr als ein Fünftel der Förderpädagoginnen und -pädagogen, die das Medienpaket bereits mit Kindern mit Förderbedarf verwendet haben, geben an, dass das Medienpaket weniger bis gar nicht geeignet ist für Kinder mit Förderbedarf. Der hohe Anteil an „teils, teils“-Antworten spricht für eine Ambivalenz bezüglich dieser Fragestellung.
Die Gesamtbewertung des Medienpakets im Rahmen der Onlinebefragung bewegte sich dennoch für beide Gruppen im Notenbereich „gut“.
Digitale Fokusgruppen – Erklärungen für die quantitativen Ergebnisse
Die Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit Eltern würden einerseits von elterlichen Vorbehalten und andererseits von einem Desinteresse gegenüber dem Thema stammen. Der Wandel der Sexualaufklärung in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler sei unter anderem davon geprägt, dass die Kinder über das Internet und die sozialen Medien einen erleichterten Zugang zu sexualisierten Inhalten hätten, ohne diese einordnen zu können.
Beispielhafte Aussagen zur Zusammenarbeit mit Eltern und Erziehungsberechtigten
Allgemeines Desinteresse
„Am Elternabend haben in meiner Klasse gar keine Eltern teilgenommen. Am Elternabend zur Sexualkunde [waren es] in der Parallelklasse 2 von 24. Also 2 Elternteile haben bei uns insgesamt teilgenommen von 47. Wenn man die Eltern getroffen hat, dann haben sie sich mit einem schon über das Thema ausgetauscht, aber großes Interesse bestand eigentlich nicht.“
(Lehrkraft | Berufserfahrung: 5 Jahre | mittlerer Sozioökonomischer Status an der Schule | Dorf | Bayern)
Positive Erlebnisse in der Zusammenarbeit
„Ich habe einen Workshop gemacht mit Eltern und interaktiv versucht, die Eltern ins Gespräch zu bringen. Die Eltern haben unheimlich viel gelacht und fanden das ganz toll. Daraus haben [die Eltern] auch Wünsche für den Unterricht entwickelt. Gleichzeitig war dann aber von meiner Seite auch ganz klar, dass ein Bildungsauftrag da ist. Es geht nicht nur um die Wünsche der Eltern, sondern auch um den von unserer öffentlichen Seite bestehenden Auftrag.“
(Lehrkraft | Berufserfahrung: 25 Jahre | mittlerer Sozioökonomischer Status an der Schule | Dorf | Niedersachsen)
Lücken im Lehrplan
„Sowas wie Transidentität oder alternative Familienformen gibt es natürlich nicht im Lehrplan. Es ist auch eigentlich das ganze Aufklärungsthema nicht als ein Thema, so wie es im alten Lehrplan früher war[, im Lehrplan enthalten]. Da war einfach ein komplettes Thema und das konnte man richtig ordentlich abarbeiten. Jetzt nicht mehr, sondern es ist in verschiedenen einzelnen Teilbereichen unterteilt […].“
(Förderpädagogin/-pädagoge | Berufserfahrung: 20 Jahre | niedriger Sozioökonomischer Status an der Schule | Großstadt | Bayern)
Probleme mit Elternteilen
„Nachdem ich einen großen Streit mit einem Vater hatte, der nicht wollte, dass sein Kind am Sexualkundeunterricht teilnimmt, hab ich geguckt, wie das in anderen Bundesländern ist. Ich komme aus Hessen, und da steht zum Beispiel Genderidentität überhaupt nicht mit drin, also das existiert da nicht […]. Der hat sich sehr schlau gemacht, der Vater, was man alles nicht darf. […] Ich [würde] mir wünschen, dass es [im Lehrplan] steht, dann habe ich eine bessere Diskussionsgrundlage, das fehlt da gänzlich. Ich glaube, das ist bei uns in Hessen einfach ein bisschen veraltet.“
(Förderpädagogin/-pädagoge | Berufserfahrung: 16 Jahre | niedriger Sozioökonomischer Status an der Schule | Großstadt | Hessen)
Den inhaltlichen Kern der Diskussionen bildeten das Medienpaket „Dem Leben auf der Spur“ und seine Bestandteile. Zur Nutzung des Medienpakets in der Versandtasche aus Karton wurde mehrfach angemerkt, dass das Anschreiben an die Lehrkräfte nicht in jeder Versandtasche enthalten sein müsse. Diese werde in vielen Fällen ungeöffnet an die Kinder ausgehändigt.
Während die Inhalte des Anschreibens an die Lehr- und Fachkräfte als eher oberflächlich eingestuft wurden, wurden die Inhalte des Anschreibens an die Eltern und Erziehungsberechtigten als zu komplex eingeschätzt. Der Einsatz von Fachbegriffen würde viele Eltern überfordern. Dennoch sei ein solches Anschreiben für die Zusammenarbeit mit Eltern wichtig und sehr hilfreich. Die Teilnehmenden wünschten sich das Anschreiben in einfacher Sprache sowie als Fremdsprachenversionen, die bei Bedarf online bestellt oder selbst ausgedruckt werden können.
Einschätzungen der Fokusgruppenteilnehmenden
Eignung des gesamten Medienpakets wird durch die allgemeinen Lehrkräfte überwiegend gut oder sehr gut bewertet. Förderpädagoginnen und -pädagogen bewerten das gesamte Medienpaket zu etwas mehr als der Hälfte als gut oder sehr gut.
Die Geschichte und das Wendeplakat erfuhren in den Online-Fokusgruppen am meisten Kritik. Die aktive Einbindung in den Unterricht sei durch den textlichen Umfang und die narrative Komplexität der Geschichte schwierig an Grundschulen bis unmöglich an Förderschulen. Einige Lehrkräfte sahen das Wendeplakat als zu groß für den Schreibtisch und zu klein für die Tafel an. Die Textstellen zur Abfolge der Befruchtung wurden als zu komplex und umfangreich und die Schrift als zu klein wahrgenommen.
Das Lexikon und das Faltblatt wurden überwiegend positiv bewertet. Die Kinder würden sich mit diesen Bestandteilen auch außerhalb des Unterrichts beschäftigen. Dabei wurde insbesondere das kleine Format positiv hervorgehoben.
Beispielhafte Aussagen zur Eignung des Medienpakets
Hygieneartikel
„Es gibt ja nicht nur Tampons oder auch Binden, sondern es gibt ja auch die Tasse. Dass man vielleicht auch ein bisschen neuere Methoden, auch umweltmäßig, (…) darstellt.“
(Lehkraft | Berufserfahrung: 2 Jahre | niedriger Sozioökonomischer Status an der Schule | Kleinstadt | Baden-Württemberg)
„Was meine Kinder meinten, dass manche Wörter fehlen, zum Beispiel Begriffe zur Hygiene, also Tampon, Binde oder Kondom. Das wäre für sie auch nochmal wichtig gewesen, [diese Begriffe] nachschlagen zu können.
(Lehrkraft | Berufserfahrung: 5 Jahre | mittlerer Sozioökonomischer Status an der Schule | Dorf | Bayern)
Verhütung
„Ich würde mir wünschen, dass die einzelnen [Verhütungsmethoden] da stehen, weil sie eher das vielleicht schon mal irgendwo gehört haben, Kondome oder Pille oder sowas. Das steht alles nur unter dem Überbegriff Verhütung.“
(Förderpädagogin/-pädagoge | Berufserfahrung: 5 Jahre | mittlerer Sozioökonomischer Status an der Schule | Kleinstadt | Sachsen-Anhalt)
Nachschlagewerk für individuellen Gebrauch der Kinder
„Das finde ich ist eine ganz tolle Sache, dass die Kinder wirklich selbstständig nachgucken können, gerade wenn sie sich nicht trauen nachzufragen. Die sind dann vielleicht zu cool und zu groß, um Dinge zu fragen, wo sie denken, eigentlich müsste ich doch wissen, was das ist. Aber hier können sie ganz einfach still und heimlich nochmal nachschauen und das finde ich eine richtig gute Sache.“
(Lehrkraft | Berufserfahrung: 5 Jahre | hoher Sozioökonomischer Status an der Schule | Dorf | Nordrhein-Westfalen)
Nützlichkeit durch Format
„Ich finde eigentlich so wie es ist, ist es eigentlich sehr ansprechend für die Kinder, weil es auch so klein ist, dass sie es auch einfach in ihr Etui packen können. Man hat auch dann gesehen, [einige] haben zwischendurch einfach ein bisschen gelesen in der Pause, weil das Interesse halt auch da war.“
(Lehrkraft | Berufserfahrung: 5 Jahre | hoher Sozioökonomischer Status an der Schule | Großstadt | Niedersachsen)
Verbesserungspotenziale – materialübergreifend
Fokussierung auf die Zielgruppen und ihre Bedarfe:
- Reduktion der Informationskomplexität an kritischen Stellen, mehr Klarheit in den Darstellungsformen (insbesondere Geschichte, Wendeplakat, aber auch Anschreiben für die Eltern und Erziehungsberechtigte)
- Größere Schrift für schwache Leserinnen und Leser
- Ggf. tiefergehende Hilfestellungen für Lehr- und Fachkräfte
Füllung thematischer Lücken:
- Pubertät und die Gefühle, die damit zusammenhängen
- Menstruation, Hygieneartikel (bereits sehr relevant für manche Schülerinnen dieser Altersgruppe)
Reflexion problematischer inhaltlicher Aspekte (Übergriffigkeit und Diskriminierungshandlungen in der Geschichte, Humor)
ggf. Integration ergänzender digitaler Module
Digitale Angebote
Die allgemeinen Lehrkräfte sowie Förderpädagoginnen und -pädagogen sehen im Sexualaufklärungsunterricht deutlich Potenzial für digitale Angebote. Als besonders geeignete Formate werden Lernvideos und interaktive Websites gesehen.
Erkenntnisse aus dem Online-Bewertungsbogen und den Online-Fokusgruppen
„Lernvideos“, eine „interaktive Website“ sowie „Apps für Smartphones/Tablets“ werden durch den Großteil der allgemeinen Lehrkräfte sowie Förderpädagoginnen und -pädagogen als geeignet für die Sexualaufklärung bewertet („Lernspiele“ von der Mehrheit der allgemeinen Lehrkräfte, aber nicht der Förderpädagoginnen und -pädagogen).
Förderpädagoginnen und -pädagogen geben in den Fokusgruppen an, dass für Kinder mit Förderbedarfen Lernspiele eine zu ablenkende Wirkung haben könnten.
Geschichte
„Ich sehe auch nicht so wirklich einen Mehrwert, warum [die Geschichte] in Papierform bestehen bleiben müsste. Es ist ja kein Deutschunterricht, sondern Sachunterricht und da finde ich etwas Interaktives oder einen Film schon gut, weil dadurch doch mehr Informationen rübergebracht werden können. Die [können] dann auch wirklich bei allen ankommen“
(Lehrkraft | Berufserfahrung: 5 Jahre | hoher Sozioökonomischer Status an der Schule | Dorf | Nordrhein-Westfalen)
Wendeplakat„Dieses Wendeplakat in der Form und so ausführlich und in der Größe könnte man vielleicht eher digitalisieren, dass man das interaktiv anklicken kann.“
(Lehrkraft | Berufserfahrung: 2 Jahre | mittlerer Sozioökonomischer Status an der Schule | Großstadt | Nordrhein-Westfalen)
Lexikon und Faltblatt
„Nein, also zum Beispiel das Baby im Bauch und auch das Körper-ABC, das sind so Sachen, die sollten die Kinder auch weiterhin in der Hand haben können.“
(Lehrkraft | Berufserfahrung: 16 Jahre | mittlerer Sozioökonomischer Status an der Schule | Dorf | Nordrhein-Westfalen)
Trotz Kritik am Medienpaket sah die Mehrheit der allgemeinen Lehrkräfte und Förderpädagoginnen bzw. -pädagogen das Medienpaket als eher geeignet für die Sexualaufklärung an und würde es an Kolleginnen und Kollegen weiterempfehlen.