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FORUM 1–2017

Empowerment im Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter

Seit 1997 bietet das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB) im niedersächsischen Wendland Sexualbegleitung an. Seitdem haben über 300 behinderte Männer und Frauen dort an ihrer sexuellen Identität gearbeitet.

Das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter in Trebel wurzelt in der deutschen Bürgerrechtsbewegung körperbehinderter Menschen in den 1970er- und 1980er-Jahren. Damals gab es starke Verbindungen zu der zehn Jahre älteren US-amerikanischen »Independent Living«-Bewegung, die auf eine kleine Gruppe behinderter Studentinnen und Stu denten an der Universität in Berkeley/Kalifornien zurückging. Aus diesem die Kommunikation prägenden Kontakt heraus wurde der Begriff »Empowerment« in die deutsche Behindertenbewegung übernommen.

Zunächst meinte Empowerment in Deutschland die Selbstermächtigung, die sich Körperbehinderte, inspiriert durch die deutsche Studentenrebellion Ende der 1960er-Jahre, geschaffen hatten. Sie legten in einem emanzipatorischen Prozess der demonstrativen Undankbarkeit (Krüppelbewegung) das Image des »Musterkrüppelchens« (dankbar, lieb, leicht zu verwalten) ab.

In den folgenden Jahrzehnten etablierten sich Selbsthilfe und Beratungszentren in Deutschland, oft »Zentren für selbstbestimmtes Leben« genannt. Das ISBB in Trebel ist ein Resultat dieses Prozesses. Eines der letzten Tabus, die individuelle sexuelle Geschichte, wurde zur Motivation für die Einrichtung dieser spezialisierten Beratungsstelle. Dem Beratungsbedarf folgend, wurden später die sexuelle Lebenssituation geistig behinderter Menschen und der Bedarf der pädagogischen Fachkräfte an Beratung zu Schwerpunkten.

Aus den eigenen Empowerment-Erfahrungen entstand ein Anleitungskonzept für den Alltag der Sozialen Arbeit: Empoweragogik. Diese Wortneuschöpfung beschreibt im Begriff schon eine Spannung. Die Macht des Erziehenden dem Zögling gegenüber scheint dem Bemächtigungsprozess des Erzogenen zu widersprechen. Bemächtigen aber kann der Mensch sich nur selbst. Im ISBB haben wir uns eine agogische1 Grundhaltung angeeignet, die wir als Unterstützung zu Selbstbemächtigung sehen.

Empowerment kann und muss ein (päd-)agogisches Ziel werden – für alle

Innerhalb der bisherigen pädagogischen Diskussion gibt es zudem die Auffassung, Empowerment könne sich nur entfalten, wenn die Protagonisten über notwendige kognitive Fähigkeiten und Reflexionsbegabung verfügen. Das schließt geistige Behinderung in weitreichender Ausprägung von Empowerment-Erfolgen aus.

Bei einer wohlwollenden agogischen Einstellung ist für einen Prozess des Empowerments jedoch nicht einmal die geringste Reflexionsfähigkeit des behinderten Menschen notwendig. Es reicht, dass er lebt, denn dann verhält er sich. Auch wenn die Logik innerhalb seines Wahrnehmungsprozesses Konsens ablehnt, verhält er sich. Wenn er atmet, handelt er. Er kann nicht nichts tun. Jedes Verhalten hat ein Vorher und Nachher und damit eine Geschichte. Und jede Geschichte hat einen Sinn: Letztlich das Bemühen, sich selbst so weit wie möglich in Wohlergehen zu erhalten. Jeder Mensch, der wahrgenommen wird, hat schon durch seine bloße Existenz eine Beziehung miterschaffen. Der Wahrnehmende kann den Sinn der Lebensgeschichte des Wahrgenommenen erkennen und ihm innerhalb dieser Logik zur Entfaltung verhelfen. Schon im Akt der bewussten Wahrnehmung liegt Empowerment. Dem Wahrgenommenen ist die Macht gegeben worden, Beziehung aufzubauen.

In der Mehrzahl der sozialen Begegnungen treffen Agogen zum Glück aber auf Menschen, deren Auftrag sie sich nicht erschließen müssen. Menschen, die auch aktiv differenzierte Beziehungen aufbauen können, die über eine Vielzahl von Kreationen Bindung schaffen.

Die aktuellste pädagogische Leitidee »Inklusion« erfährt derzeit ihre Grenzen. Es wird offensichtlich, dass das Thema Behinderung immer, wenn es in ein Leben tritt, beim Individuum und im sozialen Umfeld auf Ablehnung trifft und als Krise definiert wird. Inklusion als ein selbstverständliches Miteinander gleich von Anfang an ist seelisch nicht möglich. Das maximal Mögliche in einer solchen Krise ist Integration. Verfügen die Betroffenen dabei über eigene Stärke und Macht, so ist das außerordentlich hilfreich.

Die kulturelle Aussonderung behinderter Menschen ist kein böser Wille einer feindseligen Gesellschaft, sondern hilfloser seelischer Schutzmechanismus jedes einzelnen Menschen. Die Vorstellung der Verletzlichkeit des Lebensplans erzeugt Angst, und diese Angst erzeugt das eigentliche Tabu: die Verletzlichkeit des eigenen Lebens. Wir können den Gedanken nicht aushalten, dass Leiden und Tod, Elend und heftige Unsicherheit all unsere Anstrengungen im nächsten Augenblick sinnlos machen könnten. Diejenigen, die zum Symbol für das Leiden geworden sind, dürfen uns nicht zu nahe kommen: Kranke, Trauernde, Fremde, Infizierte, Behinderte … Die christliche Kultur hat das Leiden durch den Tod am Kreuz zu einem wichtigen Thema gemacht. Leiden musste einen Sinn bekommen. Geholfen hat das nicht wirklich. Solange das Leiden selbst sich nicht als selbstverständlicher Teil des Lebens emanzipieren kann, stehen Betroffene unter Aussonderungsdruck.

Um dem standzuhalten, brauchen Menschen ein mächtiges Selbstwertgefühl. Aber auch ein Bewusstsein ihrer eigenen kulturellen Wirkung. Können behinderte Menschen glaubhaft leben, dass ihre Behinderung nicht nur Leiden bedeutet, sondern auch Freude und Glück, lässt man sie tatsächlich integrierter leben. Können sie Krisenerfahrung als Gewinn leben, trägt das sogar zu ihrer Attraktivität bei. Leiden braucht Anerkennung, nicht Feindschaft.

Ein neuer Leitauftrag

Den aktuellen Auftrag, das Leiden zu verwalten, übernehmen zumeist spezielle Institutionen: Krankenhäuser, Hospize, Bestatter, Teams der Behindertenarbeit. Letzteren ist es mittlerweile möglich, anders als dem Anstaltspersonal im vorigen Jahrhundert, die Einrichtungen auch mal mit den Betreuten zu verlassen. Die Öffentlichkeit ist beruhigt, wenn dann die behinderten Ausflügler von Professionellen begleitet werden. Ein zu naher, persönlicher Kontakt soll vermieden werden. Bei unangepasstem Verhalten der Betreuten werden die Betreuenden persönlich verantwortlich gemacht.

Dem behinderten Menschen selbst darf und wird kein Leid zugefügt. Er wird ja schon als Leidender wahrgenommen. Die Einrichtungen haben den gesellschaftlichen Auftrag, der Öffentlichkeit zu versichern, dass es den Behinderten gut geht. Dazu müssen die Betreuten einen satten, sauberen und fröhlichen Eindruck vermitteln. Spendenorganisationen wie die Aktion Mensch oder die Fernsehlotterie produzieren in ihren Medienclips genau diesen Eindruck und sichern sich so ihre Lotterieeinnahmen.

Einrichtungsleitungen sorgen sich konsequent darum, dass keines der inneren Probleme nach außen dringt. Risikofaktoren wie Sexualität sind unerwünscht. Den meisten behinderten Menschen geht es in den Einrichtungen ja auch gut, die meisten fühlen sich wohl, und nicht alle Einrichtungen sind gleich. Je nach Einrichtungshistorie befinden sich mehr oder weniger offene oder verschlossene Kräfte in den Leitungsfunktionen und in den Betreuungsteams.

Grundrechtsverletzungen werden immer weniger von allen Mitarbeitenden toleriert, und ein fester Bestandteil von etwa 20 Prozent hat, nach meiner Erfahrung,2 Probleme damit, Betreute über Bestrafungen zu sanktionieren. Für andere bleiben Vergünstigungen und Strafen die einzigen pädagogischen Mittel.

Für die kulturoffenen (Päd-)Agogen ist Empowerment kein Fremdwort mehr. Kulturoffen meint dabei die Grundeinstellung, nach der auch Betreute Grundrechtsträger sind, also zum Beispiel ein Recht auf ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben. Kulturoffen meint eine Grundeinstellung, nach der in der Einrichtung die gleichen kulturellen Regeln und Werte gelten wie außerhalb, bei der zum Beispiel niemand nackt über den Flur laufen darf und beim Toilettengang die Tür geschlossen wird. Wenn interne und öffentliche Regeln sich zu sehr unterscheiden, entstehen neue Anstaltsmauern.

1992 ist das aktuelle Betreuungsrecht in seinen ersten Fassungen in Kraft getreten. Der Gesetzgeber legte damals sehr viel Wert auf das Selbstbestimmungsrecht. Der Wille des Betreuten hat seitdem eigentlich Vorrang. Im § 1901 Absatz 2 und 3 BGB heißt es:

(2) Der Betreuer hat die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.

(3) Der Betreuer hat Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist. Dies gilt auch für Wünsche, die der Betreute vor der Bestellung des Betreuers geäußert hat, es sei denn, dass er an diesen Wünschen erkennbar nicht festhalten will. Ehe der Betreuer wichtige Angelegen heiten erledigt, bespricht er sie mit dem Betreuten, sofern dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft.

In einem Urteil des Bundesgerichtshofs 2009 bestätigt dieser den Vorrang des Willens des Betreuten bei solchen Wünschen, die Ausdruck seines Selbstbestimmungsrechts sind.

Im Lebensalltag entscheiden die gesetzlichen Betreuer, besonders wenn es die Eltern sind, oft, ohne mit dem Betreuten überhaupt gesprochen zu haben. Das »Wohl des Betreuten« legen sie so aus, dass sie schon wissen, was zu seinem Wohle gut ist und was nicht. Die beaufsichtigenden Familiengerichte kümmert das in der Regel nicht. Sie hätten ab und zu zu prüfen, ob die Betreuenden diese Gesetzesvorgabe in ihrer Betreuungsführung berücksichtigen: »Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.«

Die Einrichtungen der Behindertenarbeit, ja sogar einzelne Mitarbeitende hätten die Möglichkeit, sich bei wahrgenommenen Verstößen an das Familiengericht zu wenden, ja, sie hätten sogar die Pflicht.

Empowerment beinhaltet die Information für behinderte Menschen über ihre Rechte und ganz besonders über ihre Grundrechte. Die Öffnung des Betreuungsrechts für Eltern als Betreuer war im Vorfeld der Verabschiedung, also in der Zeit der Gesetzesformulierung, noch nicht vorgesehen. Damals gab es Vordenker, wie Dr. Klaus Dörner aus Gütersloh, die davon ausgingen, dass sich schon genügend Ehrenamtliche werden finden lassen, die zur Betreuung bereit sind. Als Mitwirkender der damaligen Enthospitalisierungsbewegung war Dörners Popularität groß und reichte bis zur Referentenebene des Bundestags. Aber schon die ersten Referentenentwürfe erzeugten einen Sturm von Protesten, besonders aus den Reihen der Lebenshilfe, eines einflussreichen Elternverbands behinderter Menschen.

Hätten sich die Ideen der Enthospitalisierung umsetzen lassen, hätten viele Betreute freier leben können. Denn Eltern haben naturgemäß oft andere Vorstellungen vom Wohl ihrer Kinder als diese selbst. Das ist bei Nichtbehinderten nicht anders. Oft ist das hilfreich, manchmal leider nicht.

Zum Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gehört sexuelle Entwicklung

Das Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter lebt Empowerment auch in seinen bevorzugten Methoden. Die Kommunikationswege nehmen sich erlebnispädagogische Erfahrungen in Deutschland zum Vorbild.

Die wesentlichen Fragen, mit denen sich das ISBB beschäftigt, sind solche zur Sexualität, genauer gesagt zur sexuellen Geschichte des ratsuchenden Systems (Individuum mit und ohne Betreuerin/Betreuer). Das in diesem Essay bisher Gesagte ließe sich auch bei anderen Problemen behinderter Menschen anwenden, etwa beim Thema Aggression. Nun, das ISBB ist aus guten Gründen zu einer Sexualberatungsstelle geworden.

Der Vorrang nonverbaler Beratungsmethoden war uns schon zu Beginn unserer Arbeit klar. Das Verbale legt zu viel Gewicht auf Verstehen. Wir wollten die Möglichkeit geben, sich über Handeln und Verhalten mitzuteilen und zu lernen. Lernen über Handeln hat bei allen Menschen große Vorteile, bei kognitiv eingeschränkten Menschen ist nonverbaler Ausdruck eine Notwendigkeit.

Wie können wir dann aber über sexuelles Verhalten kommunizieren, besonders als Therapeuten innerhalb der Regeln unserer Berufsverbände? Um hier Lösungen zu finden, suchten wir die Zusammenarbeit mit Prostituierten und bildeten interdisziplinäre Zusammenarbeiten. Recht schnell stellten wir fest, dass Frauen und Männer aus der klassischen Prostitution mit Gefühlen eher Schwierigkeiten haben. Sie können ihren Beruf oft nur bei Ausschluss ihrer Gefühle ausüben. Wir brauchten aber andere Grundhaltungen, Gefühle und die Fähigkeit, auch unangenehme Aussagen zu vermitteln – Behinderten gegenüber, denen man doch kein Leid zufügen darf. Ohne ehrliches Feedback geht es im ISBB nicht. Also begannen wir, selbst auszubilden: Sexualbegleiterinnen und -begleiter. Sexualbegleitung ist eine wichtige Methode unserer Sexualberatung geworden.

Die Sexualbegleiterinnen und -begleiter bilden das emotional hoch besetzte Feld, in dem, besser: mit dem der Rat suchende sich verhält, vergleichbar vielleicht einem Hochkletterwald oder Segelschiff auf dem Ijsselmeer. Beides kennen Fachleute vielleicht schon aus anderen erlebnispädagogischen Settings. Unsere Sexualbegleiterinnen und -begleiter erziehen nicht, sie lassen handeln. Sie sind vorbereitet, und wir als Team bereiten mit dem ratsuchenden System zusammen nach. Im ISBB werden richtungweisende Erfahrungen gemacht.

Die Ratsuchenden verstehen zumeist unser Bild vom Trainingscamp sehr gut. »Bei uns kann man trainieren. Die Wahrheit liegt auf dem Platz.« Diesen Spruch aus der Geschichte des deutschen Profifußballs verstehen sie oft spontan.

Die bei unseren Erotik-Workshops anwesenden Betreuenden gehören zu den kulturoffenen Fachkräften. Um zu uns kommen zu können, haben sie sich alle gegen die Skeptiker in der Heimateinrichtung durchsetzen müssen, sie hatten in der Regel sie unterstützende Leitungen. Die Rat suchenden Betreuten hatten Glück und gute gesetzliche Betreuer.

Eine Rat suchende geistig behinderte Frau hatte die Angewohnheit, immer mal wieder Betreuer und Therapeuten lange sehr eng zu umarmen. Die meisten ließen das zu. Dafür mussten sie die betreffende Frau enterotisieren, zur Behinderten, zum unschuldigen Kind machen. Lernziel für die Auszubildenden war es, die Brust der Frau bei der Umarmung zu spüren, ihren Körper bei der langen und intensiven Umarmung als erotisch zu spüren. Als sie das taten, haben sie die Umarmung von sich aus abgelehnt. Sie sollten dann noch die Ablehnung kommentieren. Das war für die behinderte Ratsuchende zuerst ungewohnt. Aber aus den Ablehnungen lernte sie, wann sie auf andere erotisch wirkt und dass die anderen dann den Kontakt in aller Regel ablehnen. Das ist Empowerment.

Sie hat einen Freund, der auch anwesend war. Auf den konnten die Ablehnenden verweisen. Der fand das gut.

Ein Blick in die Zukunft

Sexualbegleitung gibt es im ISBB seit 1997. Geboren wurde sie in einem Tele fongespräch zwischen unserer langjährigen Mitarbeiterin, Nina de Vries, und mir. Seitdem hat diese Methode sich vielfach bewährt. Über 300 behinderte Männer und wenige behinderte Frauen haben an ihrer Identität als Mann und Frau gearbeitet. In Trebel haben sie zumeist im Kontext der ISBB-Sexualberatung Sexualbegleitung genutzt. Selbst nach langjähriger erfolgreicher Arbeit ist das ISBB noch Avantgarde – aber mehr auch nicht. Und das hat seinen Grund: Wir arbeiten, wie bereits gesagt, gegen einen mächtigen Gegner, die Grundangst vor der Verletzlichkeit des Lebens.

Bei einem Blick auf das Gesamtsystem der Behindertenarbeit erklärt sich das. Der öffentliche Auftrag, Behinderung auf Distanz zu halten, wird nach wie vor vom System der Behindertenarbeit gut erfüllt. Jede Behinderteneinrichtung, die quartiernah hat bauen wollen, musste sich mit Protesten aus der Nachbarschaft abquälen. Das ist der Grund, warum so viele Einrichtungen abseits liegen.

Dennoch sind alle zufrieden. Lediglich die behinderten Bewohnerinnen und Bewohner, die sich ein anderes Leben wünschen, zum Beispiel mit sexuellen Möglichkeiten wie Nichtbehinderte auch, haben den Nachteil. Sie haben nur eine Möglichkeit, sich zu wehren: Sie müssen Probleme machen und werden infolgedessen in der Regel mit Liebesentzug, Bestrafung, Medikamenten, Verachtung und manchmal mit der Forensik drangsaliert. Nur wenn sie Glück haben, treffen sie auf verständnisvolle Agogen, die dann oft selbst unter Druck geraten. Einige von ihnen schaffen es dennoch, sich Hilfe zu holen, zum Beispiel im ISBB.

Ein Paradigmenwechsel in der Pädagogik ist dringend notwendig: Empowerment. Sexuell, aber auch anderweitig frustrierte Betreute brauchen ein anderes und mehr Verständnis sowie andere Möglichkeiten, sich auszudrücken, als diffus Probleme zu erzeugen.

Das riesige System der Behindertenarbeit ist aber mit dem Istzustand zufrieden: Politik, Träger, Hochschulen und andere Ausbilder, pädagogische Wissenschaft, Leitungsebenen der Wohnheime und Werkstätten, Behindertenverbände, Elternverbände und die Mehrheit der pädagogischen Mitarbeitenden in den Teams. Sexualität wird den angeblich »schlafenden Hunden« überlassen.

Bis heute schafft es die Pädagogik, wenn auch unter Mühen, den Auftrag der breiten Öffentlichkeit zu erfüllen. Satt, sauber, fröhlicher Eindruck in Distanz. Das reicht. Nur die Verwaltungen der überörtlichen Sozialhilfe interessiert, was in den Einrichtungen passiert. Das System der Behindertenarbeit, gerade in Deutschland, ist viel zu teuer. Dezentralisierung und Selbstbestimmung sind lang fristig kostengünstiger. Heute besteht beides parallel und muss finanziert werden. Aus den Behörden kommt die For derung, über individuelle Hilfepläne das pädagogische Geschehen in den Teams zu steuern. Die Leitungen und Teams wissen natürlich, dass jeder Selbstbestimmungserfolg zu Personalabbau führen würde. Die IHPs3 werden entsprechend ausgefüllt. Das wiederum wissen die Behörden mitarbeiter inzwischen und gehen einfach vom Erfolg der pädagogischen Arbeit aus. Sie kürzen. Das führt aber genau zu dem Personalnotstand, der die notwendige agogische Arbeit so sehr einschränkt. Ein Teufelskreis.

Die Parteien könnten etwas ändern, ebenso die Medien. Als im Januar 2017 aus der Politik die Idee kam, sich auch mit staatlichen Geldern um die sexuellen Probleme behinderter und alter Menschen zu kümmern, hat die große Mehrheit der Medien ausgesprochen sachlich informiert. Es gibt also Hoffnung.

Fußnoten

1 Agogik ist ein Sammelbegriff der Sozialwissenschaften für die Lehre über das professionelle Leiten und Begleiten von Menschen jedes Alters. Agogik hat das Ziel, Menschen in ihren Sozial-, Selbst- und Fachkompetenzen zu fördern.

2 Dies beruht auf Erkenntnissen aus vielen Begegnungen im ISBB. Allein die mitreisenden Betreuer vertrauen sich oft intensiv an und beschreiben ihren Arbeitsalltag. Dazu kommen die Erkenntnisse aus meinen Supervisionen für Teams und meiner Mitarbeit in Einrichtungen.

3 IHP (Individuelle Hilfeplanung) beinhaltet eine Datenweitergabe der Einrichtungen an die Behörde, meist in Form einer PC-Datenbank, in die die Mitarbeitenden ihre agogischen Maßnahmen und deren Erfolge eintragen müssen.

Veröffentlichungsdatum

Dipl.-Psych. Lothar Sandfort

Dipl.-Psych. Lothar Sandfort, Jg. 1951, seit einem Unfall 1971 querschnittgelähmt, Rollstuhlfahrer, verheiratet, drei Kinder. Er ist Systemischer Psychotherapeut mit Schwerpunkt Nonverbale Kommunikation, Ausbilder für Sexualberatung, Sexualbegleitung, Peer Counseling und Leiter des Instituts zur Selbst-Bestimmung Behinderter in Trebel/Niedersachsen (ISBB).

 

Alle Angaben zu Autorinnen und Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

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