Die Professionalisierung der Onlineberatung
Ein Überblick über die Entwicklung der Onlineberatung im Bereich der Sozialen Arbeit und die Herausforderungen in der Zukunft.
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Geschichte der Onlineberatung
Onlineberatung erlebt aufgrund der Pandemiebedingungen eine starke Steigerung der Nachfrage (Deutscher Caritasverband, 2020; Hitzel-Abdelhamid, 2020). Diese steigende Nachfrage geht mit einer immer größeren Selbstverständlichkeit digitaler Kommunikation in der Bevölkerung einher (Reindl, 2018). Unabhängig davon weisen technologievermittelte Beratungsformen eine lange Tradition auf, die schon lange vor dem Jahr 2020 begann. Nimmt man eine weite Perspektive ein, so kann die Gründung der Telefonseelsorge im Jahr 1956 als Beginn der medial vermittelten Beratung gesehen werden (Wenzel, 2008). Mit der Einführung der Telefonseelsorge wurde erstmals ein Beratungsansatz umgesetzt, der ohne gleichzeitige persönliche Anwesenheit funktionierte und in dem sich die Beteiligten darauf eingelassen haben, eine Kommunikationsform zu verwenden, bei der sämtliche optischen Kanäle fehlen. Mit dem Aufkommen des Internets etablierten sich neue Kommunikationsformen, die schon Mitte der 1990er-Jahren für textbasierte Beratungsangebote genutzt wurden, wie z. B. sextra.de von pro familia (Reindl, 2018). Inzwischen existieren große Angebote zur Onlineberatung in den meisten Feldern der Sozialen Arbeit, teilweise trägerübergreifend organisiert von Fachverbänden (z. B. bke-elternberatung.de), teilweise als Element des Gesamtangebots von großen Trägern der freien Wohlfahrtspflege (z. B. caritas.de/onlineberatung), die überwiegende Mehrheit der Angebote basierte auf textbasierten Formaten. In den letzten Jahren veränderte das Aufkommen von Messengerdiensten wie WhatsApp oder Threema die allgemeinen Kommunikationsgewohnheiten großer Teile der Bevölkerung. Daher entwickelten sich parallel Ansätze zur messengerbasierten Beratung (z. B. Zauter & Lehmann, im Druck). Eine weitere eher neue Variante der Onlineberatung sind Blended-Counseling-Konzepte. Dabei werden keine neuen Beratungstechnologien verwendet, sondern es werden Elemente der Präsenzberatung und Methoden der Onlineberatung kombiniert (Hörmann, 2018).
Seit Corona genießt die Videoberatung am meisten Aufmerksamkeit. Sie wäre technisch schon länger möglich, bis zu Beginn der Coronakrise wurde sie allerdings nur in Spezialbereichen durchgeführt. Seit Februar ist diese Form der Beratung bei vielen Stellen, die bisher ausschließlich Präsenzberatung angeboten haben, zumindest als Notlösung zum Einsatz gekommen.
Formen der Onlineberatung
Onlineberatung nutzt verschiedene digitale Kommunikationsformen. Dabei können Mail-, Forums- und Chatberatung als die klassischen Formen gesehen werden, in denen nach wie vor ein Großteil der Onlineberatungen im deutschsprachigen Raum durchgeführt werden. Die beiden neueren Formen, Messenger und Videoberatung, sind dem gegenüber noch nicht so weit verbreitet.
- Mailberatung: Der Begriff »Mailberatung« hat sich inzwischen in der fachlichen Diskussion eingebürgert, obwohl er ein Fehlkonzept in sich trägt. Die typische E-Mail erfüllt keinerlei Datenschutzanforderungen und ist daher in keinem Fall für Beratung geeignet. Daher bieten seriöse Online-Beratungsstellen asynchrone Einzelberatung über spezielle Webseiten an. Hier können sich die Ratsuchenden anonym und zeitversetzt mit den Beratenden austauschen (Engelhardt, 2018).
- Forenberatung: Kommunikation über Webforen war bereits in der Frühphase des Internets im Bereich der Selbsthilfe weit verbreitet (Brunner, Engelhardt & Heider, 2009). Mit dem Aufkommen professioneller Beratungsangebote entwickelten sich auch Beratungsforen, in denen sich Ratsuchende, unterstützt durch Fachkräfte, anonym austauschen konnten. Auch hier erfolgt die Beratung asynchron, allerdings ist die Forenberatung nicht auf den Einzelkontakt ausgelegt, sondern die Kommunikation erfolgt öffentlich und unter Beteiligung von anderen Nutzer*innen. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass andere Betroffene den Beratungsprozess verfolgen, ohne selbst in Erscheinung zu treten, oder auch Peer-Unterstützung anbieten (Engelhardt, 2018).
- Chatberatung: Während die ersten beiden Formate asynchron stattfinden, ist der Chat eine synchrone textbasierte Kommunikationsform. Bei dieser Form der Beratung kann direkt mit den Ratsuchenden kommuniziert werden, wobei hier die Kommunikation dem gesprochenen Gespräch am nächsten kommt. Gerade Menschen, denen es schwerfällt, eine längere schriftliche Kommunikation in der Einzelberatung zu führen, können in diesem Medium mit den Beratenden auf einer informelleren Ebene in Kontakt treten (Eichenberg & Kühne, 2014).
- Messengerberatung: Die Kommunikation über Messenger ähnelt dem Chat, auch wenn hier längere Pausen in der Kommunikation möglich sind. Gerade aufgrund der Kürze der Beiträge ist es in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten, inwieweit in diesem Medium Beratung möglich ist (Engelhardt, 2018). Evaluationen erster messengerbasierter Beratungsangebote zeigen aber, dass dieses Format sowohl zur Unterstützung von Beratungsprozessen in anderen Medien geeignet ist als auch als vollwertige Onlineberatung verwendet werden kann (Zauter & Lehmann, im Druck).
- Videoberatung: Videoberatung findet synchron statt und neben den akustischen Informationen besteht über die Videoverbindung die Möglichkeit, das Gesicht des Gesprächspartners zu sehen; allerdings ist es wichtig zu beachten, dass diese Form der Beratung bei den Ratsuchenden sehr viele technische Ressourcen und Kompetenzen erfordert (Wenzel et al., 2020).
Onlinekommunikation als methodische Herausforderung und Chance
Die Besonderheiten der Onlinekommunikation wurden mit verschiedenen Modellen und Theorien beschrieben, die unterschiedliche Aspekte beleuchten, die für eine Beratung im digitalen Medium relevant sind.
Einen sehr defizitorientierten Blickwinkel nimmt das »Kanalreduktionsmodell« ein, das den Mangel an »Kommunikationskanälen« wie etwa fehlende Gestik und Mimik in der digitalen Kommunikation in den Vordergrund stellt. Dabei wird insbesondere davon ausgegangen, dass so die Kommunikation in digitalen Medien entfremdet und unpersönlich wird (Döring, 2019). Demgegenüber arbeitet Engelhardt (2018) mit Vergleichen zu Gedichten und anderen künstlerischen Texten heraus, dass auch in reiner Textkommunikation tiefgreifende emotionale Themen verhandelt werden können. Gerade in der Onlineberatung hat sich überdies gezeigt, dass die Erstellung ausführlicher Texte bereits selbst einen therapeutischen Nutzen entfaltet (Heimes, 2014). Das »Filtermodell« der computervermittelten Kommunikation sieht demgegenüber vor allem die Herausfilterung sozialer Hinweisreize wie Alter oder sozioökonomischer Status als zentrales Merkmal. Dadurch können sowohl positive Effekte wie eine vorurteilsfreiere Kommunikation als auch problematische Auswirkungen wie unkontrollierte Aggressionsausbrüche entstehen (Kiesler et al., 1984). Die »Theorie der medialen Reichhaltigkeit« geht davon aus, dass die unterschiedlichen Kommunikationsmedien unterschiedlich für bestimmte Kommunikationsaufgaben geeignet sind. Dabei werden Medien, die sehr reichhaltig in Bezug auf die möglichen Kommunikationskanäle sind, für komplexere Kommunikationsanlässe genutzt, während einfache Fragen in weniger reichhaltigen Medien bearbeitet werden können (Sheer & Chen, 2004). Dieser Ansatz ist gerade im Kontext des Blended Counseling interessant, in dem verschiedene Kommunikations- und Beratungsmedien kombiniert werden. In der »Theorie der sozialen Informationsverarbeitung« wird schließlich davon ausgegangen, dass die Kommunikationspartner*innen dazu in der Lage sind, die bestehenden Einschränkungen des jeweiligen Mediums durch ihr Kommunikationsverhalten auszugleichen (Walther, 1992). Die Entwicklung der eigenen Sprache im Internet, in der die Schriftsprache um Elemente wie Emojis und Akronyme (z. B. LOL = laughing out loud) bereichert wird, stützt diese Theorie (Engelhardt, 2018).
Professionalisierung
Diese verschiedenen Modelle, die jeweils eigene Aspekte der Onlinekommunikation in den Vordergrund stellen, machen deutlich, dass die zentrale Herausforderung der Onlineberatung darin liegt, das Set an Kommunikationskanälen, das im jeweiligen Fall zur Verfügung steht, kritisch auf seine Chancen und Risiken zu prüfen und optimal auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zuzuschneiden. Weiterhin ist es entscheidend, in den zur Verfügung stehenden Kanälen die An liegen der Ratsuchenden zu verstehen und gut zu kommunizieren. Diese hermeneutischen Fähigkeiten müssen erlernt werden, allerdings werden sie in den klassischen Beratungsausbildungen und beratungsnahen Studiengängen bisher kaum vermittelt (Reindl, 2018). Daher entwickelten Akteur*innen Schulungskonzepte zur Onlineberatung. Die Deutschsprachige Gesellschaft für psychosoziale Onlineberatung (DGOB) hat dazu Richtlinien zur Anerkennung von Onlineberater*innen entwickelt, die Aufwand und vermittelte Kompetenzen von Onlineberater*innen festlegen (DGOB, 2020). Diese Anerkennung stellt momentan die einzige externe Zertifizierung von Weiterbildungen in der Onlineberatung dar.
Neben der methodischen Komponente sind auch technische Aspekte für professionelle Onlineberatung von Bedeutung. Insbesondere die Einhaltung von Datenschutz und Datensicherheit ist eine unumgängliche Voraussetzung für professionelle Onlineberatung. Die meisten Standardtechnologien sind hierfür ungeeignet, und es empfiehlt sich, Onlineberatungssoftware von Anbietern zu verwenden, die die Einhaltung der DSGVO und ggf. der Regelungen für Berufsgeheimnisträger garantieren können (Reindl et al., 2020). Zwar ist hier die Einhaltung der Vorgaben durch DSGVO und ggf. das Strafrecht überwacht, allerdings existieren hier keine Strukturen, die speziell für die Onlineberatung die Einhaltung der technischen Anforderungen überprüfen.
Es wird deutlich, dass die technische und methodische Ausgestaltung von Onlineberatung ein hohes Maß an Professionalität voraussetzt. Aktuell gibt es Ansätze, die Professionalität zu institutionalisieren, jedoch ist der Prozess noch lange nicht abgeschlossen. Dies führt schon heute dazu, dass es für Ratsuchende im Internet nicht leicht ist, zu erkennen, welche Beratungsangebote den hohen professionellen Standards genügen und wo Vorsicht geboten ist. Die Szenarien für die zukünftige Entwicklung der Onlineberatung machen deutlich, dass sich diese Probleme noch verstärken könnten.
Entwicklungen und Herausforderungen in der Zukunft
Aktuell ist zu beobachten, dass Fragestellungen der Sozialen Arbeit im Internet nicht mehr ausschließlich von den traditionellen Akteuren im Sozialbereich bearbeitet werden. So warnt Kreidenweis (2018), dass sich immer mehr gewinnorientierte Unternehmen als Plattformbetreiber für soziale Dienstleistungen in Position bringen. Auf solchen Plattformen werden aktuell noch vor allem Betreuungsdienstleistungen angeboten, der Schritt zu Beratungsplattformen ist nicht mehr weit. Die so entstehende Plattformökonomie bietet zwar die Chance, kundenorientiert Beratungsleistungen im Internet vorzuhalten, die Erfahrungen mit anderen Plattformen wie Amazon bieten jedoch Grund zur Sorge, dass solche Angebote auf Kosten der Qualität der Beratung gehen können. Hier wird es in der Zukunft nötig werden, professionelle Standards einzufordern bzw. die Nichteinhaltung transparent zu machen.
Eine weitere Entwicklungslinie sind die verschiedenen Formen der künstlichen Intelligenz, die irgendwann Beratung komplett automatisieren könnte. Erste Umsetzungen in Deutschland zeigen, dass künstliche Intelligenzen bereits heute dazu trainiert werden können, in Texten menschliche Emotionen zu erkennen (Lehmann et al., 2020). Zwar ist noch kein vollwertiger Beratungsroboter entwickelt worden, die Ergebnisse aus den verschiedenen Bereichen legen jedoch nahe, dass solche Konzepte in den nächsten Jahren umgesetzt werden könnten (Grandeit et al., 2020). Auch hier besteht die Notwendigkeit, sicherzustellen, dass neue Angebote den professionellen Standards der Onlineberatung entsprechen.
Onlineberatung ist eine große Chance für zeitgemäße Beratung unterschiedlichster Zielgruppen. Das bestehende fachliche Wissen macht sie schon heute zu einer hochwertigen Alternative zu klassischen Beratungssettings. Es muss jedoch jetzt und in der Zukunft sichergestellt sein, dass Ratsuchende im Internet erkennen, wo sie seriöse und professionelle Beratung zu ihren Anliegen erhalten. Daher ist eine weitere Institutionalisierung der Professionalität in der Onlineberatung eine zentrale Aufgabe für die Zukunft.
Veröffentlichungsdatum
Prof. Dr. Robert Lehmann
Dozent für Geschichte, Theorien und Handlungslehre der Sozialen Arbeit an der Technischen Hochschule Nürnberg.
Kontakt: robert.lehmann(at)th-nuernberg.de
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
- Die Professionalisierung der Onlineberatung
- Digitale Beratung in der Krise – Corona fördert Telefon- und Videointerventionen
- Präsenzberatung und Technik sinnvoll verbinden
- Digitale Beratung: Europäische Telefondienste bieten zunehmend auch Beratung per Chat und E-Mail an
- Der Krisenkompass der TelefonSeelsorge®
- Viel Kummer in Zeiten von Corona
- »Aber dann kam Corona ...«
- Liebe und Sexualität in der Onlineberatung
- »Schreiben ist lauter als denken und leichter als sagen«1
- Hebammenarbeit mittels digitaler Medien
- Frühe Hilfen – Entwicklung und Etablierung von digitalen Maßnahmen zur Unterstützung eines analogen Arbeitsfeldes
- PROJEKTSKIZZEN: Das Forschungsprojekt »Schwangerschaftsberatung während der Covid-19-Pandemie aus Sicht von Beratungsfachkräften«
- PROJEKTSKIZZEN: Beratung im digitalen Zeitalter. Über das donum vitae-Modellprojekt »HeLB« und die Coronakrise
- PROJEKTSKIZZEN: Die Digitalisierung des Sozialen und der Beitrag der Freien Wohlfahrtspflege am Beispiel der Onlineberatung der Caritas
- Infothek - Ausgabe 02/2020