Der Krisenkompass der TelefonSeelsorge®
Ein digitales Projekt für das Smartphone
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Aufgrund umfassender Erfahrungswerte war der Telefon-Seelsorge® seit Langem bekannt, dass auch sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe, Identitätsprobleme, sexualisiertes Mobbing etc. und die damit verbundenen Ängste und Depressionen den Auslöser oder psychologischen Hintergrund latenter wie massiver Suizidgedanken und Suizidwünsche bilden können. Für Betroffene ist es häufig schwierig bis unmöglich, das Erlebte offenzulegen und/oder ein Gespräch darüber zu führen. Von daher lag es nahe, mit der App Krisenkompass ein rein digital aufgebautes und »stimmfernes« (also ohne die eigene Stimme funktionierendes), sowie »kontaktfreies« (von sozialer Begegnung entferntes) Instrument zur Erweiterung der bestehenden Angebote zu entwickeln und anzubieten.
Die App erleichtert insbesondere die Möglichkeit zur Unverbindlichkeit: User*innen können sich kundig machen, ohne jede reale oder vermutete »Sichtbarmachung« der eigenen Person. Hierdurch ist Hilfestellung möglich, ohne auf irgendjemanden angewiesen zu sein. Sie erleichtert das Umgehen von Scham: Fragen, Ideen, Fantasien, Wünsche, die mit einem eigenen möglichen Suizidwunsch einhergehen, sind in vielen Fällen in hohem Maße schambesetzt. Eine Kontaktaufnahme zu einem realen Menschen ist sehr erschwert und zum Teil im subjektiven Erleben gar nicht möglich. Eine App ist als »anonymer Kasten« und im Sinne einer subjektiv nötigen Kontaktlosigkeit genau das Medium, das unpersönlicher und damit angstfreier genutzt werden kann.
Die App stärkt die Selbstwirksamkeit: Als Notfallset für die Hosentasche steht sie an allen Tagen des Jahres 24 Stunden am Tag on- und offline zur Verfügung. Das stärkt das Gefühl, sich in schwierigen Situationen schnell selbst unterstützen zu können. Alle sonstigen Angebote der Telefon-Seelsorge® finden ihre Leistungsgrenze an der zeitlichen und mentalen Verfügbarkeit der Mitarbeitenden. Die App kann als Instrument zusätzlich und ergänzend oder anstatt persönlicher Kontakte genutzt werden.
Fachlichkeit als Basis
Der Krisenkompass ist als erste deutschsprachige App in diesem Feld von einem kleinen Team von Fachkolleg*innen aus den Feldern Sozialwissenschaft, Sozialpädagogik und Supervision mit Kompetenzen in Traumatisierung, Kommunikation, Lehr- und Lernentwicklung konzipiert worden. Zudem ist das Nationale Suizidpräventionsprogramm in Deutschland (NaSPro) in die Entwicklung einbezogen worden. Die technische Umsetzung ist bewusst in enger Verzahnung mit einer kleinen IT-Ideenschmiede erfolgt, um immer wieder die Optik und Gestaltung optimieren zu können. Die nicht unerhebliche Finanzierung ist durch ein »firmenfreies« Crowdfunding erfolgt.
Hilfeebenen der App in sechs Punkten
Wissen stärken: Unter diesem Menüpunkt sind psychoedukative Hinweise aufgeführt, die möglichst konkret die Einordnung der Krise, die auftretenden Gefühle und Unsicherheiten und typische Erlebnisweisen aufgreifen und hierdurch zu einer Normalisierung der Affektlage beitragen (»Es ist normal, was ich in dieser unnormalen Zeit empfinde, denke und erlebe«).
Selbstreflexion: Hier findet sich jeweils ein geführter Fragenkatalog, der dabei hilft, sich selbst Fragen zu stellen, um einen geweiteten Blick auf das innere Erleben, Denken und den inneren Umgang mit der Krise zu bekommen. Ganz bewusst berühren die Fragen unterschiedliche Bereiche, um »blinde Flecken« in der Selbstwahrnehmung aufzuhellen. Es wird zudem darauf hingewiesen, dass dieser Fragenkatalog keine Diagnose und kein therapeutisches Gespräch ersetzt.
Krisenmomente meistern: Dieses Tool ist in besonderer Weise auf die Integration individueller Hilfsstrategien angelegt. Nach der Benennung typischer individueller Krisenmomente wird individuell präzisiert, in welchen Situationen welche Gedanken und Gefühle wahrgenommen werden, was bisher aktiv geholfen hat und was bisher besser vermieden werden sollte.
Kraftquellen: Hier bietet sich die Möglichkeit, eigene Ressourcen (Bilder, Texte, Geschichten etc.) in der App zu speichern, um sie zu gegebener Zeit schnell zur Verfügung zu haben. Neben dem Abspeichern der Ressourcen selbst ist die Aktivität des Speicherns sowie das aktive Sichbefassen mit eigenen Ressourcen und Stärken eine intendierte Absicht der App.
Kraftschöpfen: In den Anleitungen zum Kraftschöpfen nimmt die App eine zentrale Problematik kritischer Lebenssituationen auf. Diese Situationen sind fast immer von den Gefühlen der Kraftlosigkeit, Schwäche und Ohnmacht gekennzeichnet. In speziellen Übungen werden von der App imaginative Übungen, Fantasiereisen, Atemübungen zur Selbstberuhigung, zur Erdung und zur Erholung angeboten.
Stimmungen beobachten: Dieses Langzeitprotokoll eigenen Erlebens ist einerseits hilfreich, verschiedene Lebensbereiche zu »scannen«, eine Verlaufskurve der Krise zu entwickeln und damit implizit die Veränderbarkeit eigener innerer Zustände wahrzunehmen. Ebenso kann diese Selbstwahrnehmung in therapeutische, beratende, begleitende Gespräche konstruktiv eingebunden werden.
Adressaten der App
Die App ist für Menschen in akuten suizidalen Krisensituationen konzipiert: Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes beenden in Deutschland jährlich fast 10 000 Personen ihr Leben durch Suizid. Sie erhalten in der Dimension »Soforthilfe« direkt Notfallnummern, Onlinebegleitung und Anlaufstellen. Hier können Bereiche wie »Meine Soforthilfe« und »Meine Stimmungslage« selbst erstellt werden.
Menschen, die öfter an Suizid denken, finden unter Soforthilfe ein umfassendes Repertoire an Möglichkeiten, sich zu informieren und ein individuelles Profil zur Selbstbeobachtung und zur Krisenunterstützung aufzubauen.
Auch Freunde, Angehörige und Bekannte von Suizidgefährdeten sind Adressaten der App. Bei unsicherer Datenlage können wir davon ausgehen, dass häufig jeweils mehrere Menschen über eine Suizidabsicht und existenzielle Krise Bescheid wissen. Viele fühlen sich von der Situation überfordert, unsicher und hilflos. Ziel der App ist es, diesen Menschen Mut zu machen, sie zu unterstützen, aber auch über die Grenzen von Hilfe aufzuklären.
Mehr als 60 000 Menschen erleiden jährlich das Schicksal, als Angehörige oder engste Vertraute von einem Suizid betroffen zu sein. Diese Menschen leiden oft jahrelang unter den Folgen dieses Geschehens. Im Krisenkompass ist diese Dimension mit ausführlichen Informationen zu Trauerprozessen und einer großen Anzahl von Übungen und Anleitungen ausführlich bearbeitet.
Zur Gesamtanlage des Konzepts gehört auch, zwischen den Dimensionen zu wechseln: Information und das Verstehen des jeweiligen anderen (z. B. Einfühlung des/der Suizidgefährdeten in das innere Erleben eines/einer zurückgelassenen Angehörigen) ist in der App nebenbei möglich.
Zum Umgang mit den Daten
Die App ist durchgehend so konstruiert, dass persönliche Daten geschützt sind. Sie kann dauerhaft ohne Registrierung und Angabe personenbezogener Daten genutzt werden. Alle Daten werden nur lokal in der App selbst erhoben und gespeichert. Es werden nur Daten verarbeitet, die für die Bereitstellung von Funktionen notwendig sind. Dieser restriktive Ansatz ist im Konzept der TelefonSeelsorge® verankert. In allen Arbeitsbereichen verzichtet sie sehr bewusst auf bestehende technische Möglichkeiten, persönliche Profile anzulegen und Kontakte zurückzuverfolgen. Sie folgt damit Untersuchungen und Hinweisen aus den Arbeitsbereichen Telefon, Mail und Chat, in denen Fragen der Scham (»ich will niemanden davon wissen lassen ...«), des Probehandelns (»ich möchte einmal daran denken dürfen ...«), des Umgangs mit Intimität (»das soll niemand wissen ...«) und der Nichtverfolgbarkeit (»das darf kein Amt/Arzt/etc. wissen«) erforscht worden sind. Die Hinweise zum Datenexport, zu besonderen Zugriffsarten (Telefonbuch, Tonaufnahmen, Videos, Fotos und Texte), zur Nutzung von Suchfunktionen sowie zur Speicherdauer und Übertragung an Dritte sind eigens erklärt und nur möglich, wenn der User dies aktiv betreibt.
Zum Einsatz der App
Die App kann individuell zur Information sowie zur Selbsthilfe genutzt werden. Neben grundlegenden Informationen ist sie in besonderer Weise als Notfallset konzipiert. Wichtige Adressen, Unterstützer, Fragebogen zur Beschäftigung mit der Thematik, beispielhafte Texte und Lieder, Hilfen zum Aufbau von Kraftquellen und dem Meistern von Krisenmomenten sowie Anleitungen zum Kraftschöpfen sind zentrale Elemente.
In Unterricht, Gruppenarbeit, Jugendhilfe, Erwachsenen- und Weiterbildung kann der Krisenkompass sinnvoll genutzt werden, ebenso im Beratungs- und Therapiekontext (auch Jugend- und Lebenshilfeeinrichtungen). Er kann mit allen Therapie- oder Beratungskontexten kombiniert werden. Klient*innen können auf diese Weise leichter in einen Prozess der positiven Selbstwirksamkeit hinein begleitet werden. Neben den reflexiven und unterstützenden Therapieprozessen kann mit dem Krisenkompass ein Unterstützungstool etabliert werden.
Zum Verhältnis von TelefonSeelsorge® und digitaler App
TelefonSeelsorge® (1,5 Millionen Anrufe jährlich) ist seit Jahrzehnten dadurch gekennzeichnet, dass niederschwellig ein menschlicher Beratungs- und Seelsorgekontakt angeboten wird. (Die bestehenden Vor-Ort-Stellen, die einen direkten Face-to-Face-Kontakt anbieten, haben insbesondere den zeitlich unmittelbaren Kontakt mit dem Angebot der TelefonSeelsorge® gemein). Dieses Angebot ist mittlerweile technisch digital aufgestellt, wird aber realisiert durch engagierte und ausgebildete Mitmenschen, ist im engeren Sinn daher kein digitales, sondern ein persönliches, aber digital realisiertes Angebot.
Das mittlerweile etablierte Mail- und Chatangebot (35 000 Mails, bzw. 20 000 Chats im Jahr 2019) der TelefonSeelsorge® hat im Prinzip dieselbe Konstruktion. Technisch digital realisiert, nutzt sie diese Tools, um Menschen persönliche Begleitung und Unterstützung zukommen zu lassen. Dieses Angebot spricht vor allem jüngere Zielgruppen an, die bei oft schambehafteten Themen den Schutz dieser stimmlosen Kommunikation vorziehen.
Bei über drei Millionen angebotenen Apps schien es der TelefonSeelsorge® notwendig, für medienaffine Bevölkerungsgruppen (wie für die Generation Z) die Bereitstellung einer App zur Suizidprophylaxe voranzutreiben. Diese Versorgungslücke ist nun geschlossen. Der Konflikt Intervention/Beratung von Mensch zu Mensch versus Intervention per digitaler Beratung hat sich an dieser Stelle nicht gestellt. Zentraler Wirkfaktor helfender Begegnungen in den Arbeitsfeldern der TelefonSeelsorge® ist die Interaktion von Mensch zu Mensch; als »Add on« beziehungsweise vor dem Hintergrund spezieller Bedingungen (Anonymitätswunsch, Scham, Probehandeln, Kontakt/Stimmfreiheit etc.) ist die hier vorgestellte rein digitale Beratung sinnvoll, hilfreich und angemessen.
Eine Anregung zur Begriffsklärung
Mit dem Erscheinen des Krisenkompasses regen wir indirekt und gern auch die bestehende Diskussion um fachinterne Begriffsschärfungen an, die die entstandenen Formate (App, Online-, Chat-, Mailberatungen, Videotelefonie) mit all ihren sich ausdifferenzierenden Formen systematisiert und begrifflich ordnet: Qualifiziert sich Beratung schon dadurch zu digitaler Beratung, weil sie technisch digital, aber durchaus (immer noch) von realen Personen (mit Stimme oder stimmlos per Schrift) betrieben wird? Und ist am anderen Ende der Skala (rein) digitale Beratung nur das, was ohne menschlichen Kontakt betrieben wird?
Veröffentlichungsdatum
Michael Hillenkamp
Supervisor und Berater in Dortmund sowie Sprecher der katholischen Konferenz für Telefon-Seelsorge®.
Kontakt: michael.hillenkamp(at)ekkdo.de
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
- Die Professionalisierung der Onlineberatung
- Digitale Beratung in der Krise – Corona fördert Telefon- und Videointerventionen
- Präsenzberatung und Technik sinnvoll verbinden
- Digitale Beratung: Europäische Telefondienste bieten zunehmend auch Beratung per Chat und E-Mail an
- Der Krisenkompass der TelefonSeelsorge®
- Viel Kummer in Zeiten von Corona
- »Aber dann kam Corona ...«
- Liebe und Sexualität in der Onlineberatung
- »Schreiben ist lauter als denken und leichter als sagen«1
- Hebammenarbeit mittels digitaler Medien
- Frühe Hilfen – Entwicklung und Etablierung von digitalen Maßnahmen zur Unterstützung eines analogen Arbeitsfeldes
- PROJEKTSKIZZEN: Das Forschungsprojekt »Schwangerschaftsberatung während der Covid-19-Pandemie aus Sicht von Beratungsfachkräften«
- PROJEKTSKIZZEN: Beratung im digitalen Zeitalter. Über das donum vitae-Modellprojekt »HeLB« und die Coronakrise
- PROJEKTSKIZZEN: Die Digitalisierung des Sozialen und der Beitrag der Freien Wohlfahrtspflege am Beispiel der Onlineberatung der Caritas
- Infothek - Ausgabe 02/2020