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Leitlinien schwere Sprache

10 Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung (in schwerer Sprache)

12/2021
Die Leitlinien sind das Herzstück des ReWiKs-Projekts, sie beschreiben eine normative, wissenschaftlich fundierte Zielperspektive. Mithilfe der Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung können Veränderungsbedarfe zur Erweiterung sexueller Selbstbestimmung Erwachsener mit Behinderungen in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe ermittelt und differenziert erläutert werden.

Leitlinie 1 - Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung

Erwachsene Menschen mit Behinderungen leben ihre Sexualität selbstbestimmt und werden dabei bedarfsorientiert, alters- und entwicklungsgemäß begleitet. Sie sind Expertinnen und Experten für sämtliche Belange ihrer Sexualität. Alle Menschen haben das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. In Wohneinrichtungen werden unter Beteiligung der Bewohnerinnen, Bewohner und Mitarbeitenden die notwendigen Bedingungen geschaffen, die für die Umsetzung dieses Rechts notwendig sind. Eine Begleitung der Bewohnerinnen und Bewohner erfolgt individuell abgestimmt auf die von ihnen benannten oder ggf. bei eingeschränkter Mitteilungsfähigkeit bei ihnen vermuteten Bedarfe. Leitend sind die Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner selbst. Sexuelle Selbstbestimmung ist begrenzt durch das Recht auf Unversehrtheit anderer.

Leitlinie 2 - Das Recht auf Partnerschaft, Ehe, Familie und Elternschaft

Erwachsene Menschen mit Behinderungen entscheiden selbstbestimmt über Partnerschaft, Ehe, Familie und Elternschaft. Bewohnerinnen und Bewohner kennen ihre Rechte in Bezug auf Partnerschaft, Ehe, Familie und Elternschaft und treffen in diesen Bereichen selbstbestimmt Entscheidungen. Mitarbeitende und Einrichtungsleitung schaffen die Bedingungen für eine ergebnisoffene Beratung und Aufklärung bei Fragen zu Fortpflanzung, Verhütung und Familienplanung. In den Wohneinrichtungen werden Bewohnerinnen und Bewohner über die Möglichkeit der Elternschaft informiert. Sie werden ggf. bei der Umsetzung dieser an dem Ort unterstützt, der den Wünschen und Bedarfen der Eltern und Kinder gerecht wird. Zudem ermöglichen räumliche und personelle Rahmenbedingungen das Leben als Paar oder Familie.

Leitlinie 3 - Vertretung der Interessen gegenüber Dritten

Bewohnerinnen und Bewohner vertreten ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gegenüber Dritten, wie z. B. Mitarbeitenden der Einrichtungen, Angehörigen und rechtlichen Betreuerinnen und Betreuern. Bei Bedarf werden sie dabei unterstützt. Bewohnerinnen und Bewohner realisieren ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Nicht alle sind in der Lage, ihre Wünsche und Bedarfe in Bezug auf die individuelle sexuelle Selbstbestimmung gegenüber Dritten (z. B. Mitarbeitenden und Einrichtungsleitung der Wohneinrichtung, Kostenträgern, Angehörigen, rechtlichen Betreuerinnen und Betreuern) zu vertreten. In diesen Fällen handeln Mitarbeitende im Auftrag sowie gemäß den Wünschen der Bewohnerinnen und Bewohner und unterstützen diese dabei – wenn nötig auch gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen in der Wohneinrichtung. Im Einverständnis der Bewohnerinnen und Bewohner stärken bzw. vertreten Mitarbeitende deren Position auch dann, wenn Angehörige bzw. rechtlich Betreuerinnen und Betreuer Schwierigkeiten haben, die Sexualität der Bewohnerinnen und Bewohner anzuerkennen oder in deren Realisierung zu unterstützen. Sie suchen aktiv das Gespräch mit den Angehörigen und rechtlichen Betreuerinnen und Betreuern und setzen sich mit ihnen auch über unterschiedliche Vorstellungen auseinander.

Leitlinie 4 - Sexuelle Selbstbestimmung in der Einrichtungskultur

Sexuelle Selbstbestimmung ist ein selbstverständlicher Bestandteil der Einrichtungskultur. Alle Bewohnerinnen, Bewohner und Mitarbeitende auf allen Hierarchieebenen tragen dazu bei, dass eine positive und reflektierte Grundhaltung in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung die Arbeit und das Leben in der Wohneinrichtung trägt. Alle im Team fühlen sich verantwortlich für die Realisierung von Möglichkeiten der sexuellen Selbstbestimmung und deren Schutz. Sie entwickeln eine offene Gesprächskultur und nehmen sich in angemessener Weise Zeit für den Austausch über sexuelle Fragen. Sie verstehen das Thema auch als einen Teil der Öffentlichkeitsarbeit und definieren es als ihre politische Aufgabe.

Leitlinie 5 - Strukturelle und personelle Rahmenbedingungen für den Privatbereich

Einrichtungen der Eingliederungshilfe verfügen über strukturelle und personelle Rahmenbedingungen, die die sexuelle Selbstbestimmung sowie eine geschlechtersensible Assistenz und Pflege der Bewohnerinnen und Bewohner sicherstellen. In den Einrichtungen besteht Konsens, dass die Realisierung sexueller Selbstbestimmung eine gendersensible und Intimität wahrende Haltung sowie deren praktische Umsetzung in der Assistenz und Pfl ege der Bewohnerinnen und Bewohner beinhaltet. Auf allen Hierarchieebenen sind die Mitarbeitenden dafür verantwortlich, die Personalsituation so zu gestalten, dass dies realisiert werden kann. Bewohnerinnen und Bewohner sind für das Einbringen ihrer Wünsche verantwortlich. Zudem werden strukturelle Bedingungen realisiert, die zur Wahrung der Privat- und Intimsphäre beitragen (z.B. durch die Gestaltung adäquater Räumlichkeiten).

Lietlinie 6 - Bedarfsorientierte Unterstützung zur sexuellen Selbstbestimmung

Bewohnerinnen und Bewohner können in den Einrichtungen das bedarfsorientierte Angebot individuell ausgestalteter Assistenz und Begleitungnutzen, um sexuell selbstbestimmt leben zu können. Bewohnerinnen und Bewohner entscheiden über ihren individuellen Assistenz- und Begleitungsbedarf. Mitarbeitende sind fachlich
in der Lage, zwischen den verschiedenen Bedarfen in der Assistenz und Begleitung der Bewohnerinnen und Bewohner zu differenzieren und demgemäß zu handeln: Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten sind häufiger als andere auf Personen angewiesen, die sie gut kennen und die ihre Ausdrucksformen zuverlässig entschlüsseln können. Andere Bewohnerinnen und Bewohner brauchen vertraute Mitarbeitende, mit denen sie über private und intime Themen sprechen können. Wiederum andere Bewohnerinnen und Bewohner wünschen sich den Austausch mit weniger bekannten Personen (z. B. aus Beratungsstellen), um Themen der sexuellen Selbstbestimmung zu kommunizieren. Die Mitarbeitenden haben die Verschiedenheit der Bedarfe im Blick und bieten individuelle Assistenz und Begleitung an.

Leitlinie 7 - Gesellschaftliche Teilhabe außerhalb von Wohneinrichtungen

Einrichtungen der Eingliederungshilfe leisten einen aktiven Beitrag zur gesellschaftlichen Teilhabe von Erwachsenen mit Behinderungen. Die Bewohnerinnen und Bewohner einer Einrichtung haben über unterschiedliche Wege innerhalb und außerhalb der Institution verschiedene Möglichkeiten des Kennenlernens einer Partnerin oder eines Partners. Zur Realisierung von (Sexual-) Kontakten begegnen Bewohnerinnen und Bewohner anderen Menschen mit und ohne Behinderungen auch außerhalb der Einrichtung in verschiedenen Kontexten (Bildung, Freizeit etc.). Mitarbeitende unterstützen die Bewohnerinnen und Bewohner bei Bedarf. In den Einrichtungen wird für die strukturell notwendigen Voraussetzungen gesorgt.

Leitlinie 8 - Zugang zu Informationen über sexuelle Selbstbestimmung

Bewohnerinnen und Bewohner können bedarfsorientiert einschlägige interdisziplinäre Netzwerke zur Realisierung ihrer sexuellen Selbstbestimmung nutzen. Sie haben über verschiedene Wege Zugang zu themenspezifischen Informationen. Die Einrichtungen der Eingliederungshilfe schaffen die dazu notwendigen Voraussetzungen und sind Bestandteil dieser Netzwerke. Externe Fachkräfte mit dem „Blick von außen“ sind oft hilfreich, um Entwicklungsprozesse bei allen Beteiligten zu unterstützen. Dazu
werden in der Einrichtung Netzwerke mit verschiedenen Institutionen (z. B. Beratungsstellen oder anderen Einrichtungen) geschaffen, die bedarfsorientiert kontaktiert werden. Die Kontaktaufnahmen sind durch die Bewohnerinnen und Bewohner selbst und bei Bedarf auch durch die Mitarbeitenden möglich. Auch zeitgemäße mediale Wege (z. B. internetbasierte Beratung) stehen zur Verfügung und werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern genutzt. Auf Wunsch werden sie dabei unterstützt.

Leitlinie 9 - Schutz vor sexualisierter Gewalt

Bewohnerinnen und Bewohner sind in Einrichtungen der Eingliederungshilfe vor sexualisierter Gewalt geschützt. Alle Mitarbeitenden wissen um die deutliche Gefährdung der Bewohnerinnen und Bewohner in Bezug auf sexualisierte Gewalt durch verschiedene Täterinnen und Täter (z. B. Mitarbeitende, Bewohnerinnen und Bewohner, Angehörige, Fremde). In den Einrichtungen gibt es ein einrichtungsspezifisches Schutzkonzept in Bezug auf sexualisierte Gewalt.

Leitlinie 10 - Fortbildungen für Mitarbeitende

Mitarbeitende in Einrichtungen der Eingliederungshilfe sind für das Themenfeld der sexuellen Selbstbestimmung erwachsener Menschen mit Behinderungen qualifiziert und bilden sich kontinuierlich fort. Das Wissen um lebenslange sexuelle Entwicklung allgemein und mögliche Besonderheiten bei Menschen mit verschiedenen Formen
von Behinderungen ist bei allen Mitarbeitenden vorhanden. Auf dieser Grundlage ist eine fachlichqualifizierte und reflektierte Begleitung, Assistenz, Beratung und Information gewährleistet. Hierzu gehören die Wissensvermittlung, der Abbau von Vorurteilen und die Reflexion eigener Haltungen gegenüber vielfältigen sexuellen Identitäten und Orientierungen (z. B. Hetero-, Homo-, Bi-, Inter- und Transsexualität). Die Themenvielfalt im Bereich Sexualität ist sowohl in der Ausbildung der Mitarbeitenden, aber vor allem handlungsfeldspezifisch in der Fort- und Weiterbildung fest verankert.

Veröffentlichungsdatum

Prof. Dr. Sven Jennessen
Prof. Dr. Barbara Ortland
Prof. Dr. Kathrin Römisch

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
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