Wissenschaftsbasiert und praxisorientiert: Qualifizierungen bei pro familia
Warum berufliche Fort- und Weiterbildung?
Die Tätigkeit in einer Beratungsstelle verlangt, die sich verändernden Lebensbedingungen der Menschen zu kennen, zu verstehen und sie im Hinblick auf das Arbeitsfeld zu ref lektieren. Insbesondere die Lebenswelten von Jugendlichen verändern sich rasant. Veränderte Bedingungen wie etwa eine Pandemie, aber auch der Fachkräftemangel kann mitunter »steile Lernkurven« in ganzen Arbeitsfeldern notwendig machen – oder vielmehr ermöglichen. Die Notwendigkeit des Lernens über die gesamte Lebensspanne hinweg ist deswegen nicht nur Konsens geworden, sondern ist eine Bedingung professioneller Anpassung an diese Veränderungen. Die Einführung des Deutschen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen (DQR) 2011 und die Veränderungen der Universitäts- und Hochschulausbildung, die 1999 mit der Bologna-Reform angestoßen wurden, tragen diesen Entwicklungen strukturell und institutionell ebenfalls Rechnung.
Berufliche Fortbildungen bieten in einer dynamischen Gesellschaft die Chance, die Kompetenzen und Fähigkeiten der Fachkräfte für die Anforderungen und Herausforderungen der Arbeitsbereiche weiterzuentwickeln sowie ethische und werteorientierte Grundhaltungen zu vermitteln. Gerade Themen wie Sexualität, Partnerschaft, Familienplanung und Reproduktion unterliegen weitreichenden Veränderungen in Gesellschaft, Wissenschaft und Forschung. Neben praxisrelevanter Wissensvermittlung sowie Einbettung aktueller Forschung und Fachdebatten gewinnt daher auch die Umsetzung von Querschnittsthemen für die berufliche Qualifizierung an Bedeutung, etwa der Themen Inklusion, Menschenrechtsorientierung, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Selbstbestimmung oder Diskriminierungssensibilität. Damit sind die aktuellen Anforderungen an qualitativ hochwertige berufliche Fortbildung hoch gesteckt.
Fortbildungen des pro familia Bundesverbands
pro familia ist der führende Fach- und Dienstleistungsverband im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte in Deutschland. Als Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V. 1952 in Kassel gegründet, ist pro familia heute eine der größten nichtstaatlichen Organisationen für Sexual-, Schwangerschafts- und Partnerschaftsberatung in Deutschland mit 200 Beratungsstellen bundesweit und insgesamt rund 1.200 Mitarbeitenden in den Regionen (vgl. pro familia, BZgA FORUM 2-2022 2022). pro familia ist Gründungsmitglied der International Planned Parenthood Federation (IPPF).
Seit den 1960er-Jahren führt der pro familia Bundesverband Fortbildungsveranstaltungen durch, die sich aufgrund der Rahmenbedingungen der Arbeit und des fachlichen Fortschritts der Arbeitsbereiche stetig weiterentwickelt haben. Heute liegt der Konzeption der Fortbildungen des pro familia Bundesverbands das internationale Framework der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte zugrunde (vgl. IPPF, 1997; 2009). Wissenschaftlich fundiert und praxisorientiert, bieten die Veranstaltungen eine Mischung aus Wissensvermittlung, themenzentrierter Selbsterfahrung und dem Einüben beraterischer, sexualpädagogischer, medizinischer und anderer für die Berufsrolle notwendigen Kompetenzen. Sie sind somit auf die Bedarfe von Mitarbeiter*innen in anerkannten Schwangerschaftsberatungsstellen ausgerichtet. Ziel aller Qualifizierungsmaßnahmen ist es, die Fachkräfte für eine klient*innenzentrierte Arbeit zu qualifizieren und die Menschenrechtsorientierung in allen pro familia-Dienstleistungsbereichen umzusetzen.
Bei der Weiterentwicklung der Angebote haben Kriterien der Qualitätssicherung eine entscheidende Rolle gespielt. Das heute noch angewendete Qualitätssicherungssystem wurde in den 1990er-Jahren im Rahmen einer Projektförderung durch die BZgA zusammen mit der Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung in der Medizin (GESOMED, 1998) entwickelt. Das Fort- und Weiterbildungsangebot des pro familia Bundesverbands wird seitdem aufgrund von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität bewertet. Die Ergebnisse geben Impulse für weitere Schritte der Qualitätsentwicklung: notwendige konzeptionelle Weiterentwicklungen, Erfassung der Bedarfe für neue thematische Angebote und Formate, Einbindung der Fort- und Weiterbildung in die fachlichen und gesellschaftspolitischen Diskussionen im Verband und in weiteren Fachverbänden. Ein internes BenchmarkingSystem macht die Evaluationsergebnisse über mehrere Jahre hinweg vergleichbar und Trends sichtbar.
Gesetzliche Grundlagen für Institutionelle Beratung
Mit dem Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (SchKG) regelt der Gesetzgeber nicht nur einen umfassenden Rechtsanspruch auf Beratung während der Schwangerschaft. Damit geht auch die Verpflichtung von Bund und Ländern einher, ausrei chend anerkannte Beratungsstellen unterschiedlicher weltanschaulicher Trägerschaft zu fördern und dafür zu sorgen, dass »hin reichend persönlich und fachlich qualifiziertes und der Zahl nach ausreichendes Personal« (§ 9 SchKG) vorhanden ist.
Schwangerschafts- und Familienplanungsberatung sowie sexuelle Bildung (laut Gesetz: Sexualaufklärung) ist damit im Rahmen der sogenannten Institutionellen Beratung zu verorten, die sowohl einen gesellschaftlichen als auch einen gesetzlich verankerten Auftrag hat. Organisiert in kontinuierlich öffentlich geförderten Beratungsstellen, bedeutet die Institutionelle Beratung das Bekenntnis zu einem multiprofessionellen Team sowie zu Standards für Beratung und Qualität der Angebote, wie sie etwa der Deutsche Arbeitskreis für Jugend-, Ehe- und Familienberatung (vgl. DAKJEF, 1993) formuliert hat, in dem pro familia Mitglied ist.
Mit diesem gesetzlichen und gesellschaftlichen Auftrag im Rücken qualifiziert der pro familia Bundesverband heute Berater*innen und sexuelle Bildner*innen auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen und fachlichen Standards und bezieht die Impulse aus der Praxis ein. Der Aspekt des Persönlichkeitslernens ist dabei Teil der professionellen Selbstreflexion und Rollenfindung. Neben der Qualifizierung in beratenden und pädagogischen Arbeitsbereichen haben sich bei pro familia auch Fortbildungen etabliert, die für die Arbeit im Erstkontakt und die Leitung einer Beratungsstelle qualifizieren, denn vor allem hier werden Weichen für die barrierearme Erreichbarkeit und den niedrigschwelligen Zugang zu den Angeboten gestellt. Im Folgenden soll es jedoch um die historische Entwicklung der Qualifizierung in den beiden Arbeitsbereichen Schwangerschaftsberatung und sexuelle Bildung gehen.
Meilensteine der Fortbildung im Bereich sexuelle Bildung
Folgt man den Themen der Fortbildungen, die pro familia seit den 1960er-Jahren mit steigender Intensität und Nachfrage durchgeführt hat, so waren die ersten beiden Jahrzehnte geprägt von einer wissenschaftlichen Selbstvergewisserung und zunehmenden Professionalisierung. Das heißt, es wurde einerseits intensive Recherche und Rezeption in den Sexualwissenschaften betrieben. Fortbildungen waren damals immer auch ein Forum für die kritische und selbstreflexive Diskussion des aktuellen wissenschaftlichen Sachstands sowie der gesellschaftspolitischen Debatte über Sexualität und Sexualaufklärung. Gleichzeitig wurden intensiv Methoden der reflexiven Persönlichkeitsentwicklung erprobt und durchgeführt.
Die ersten sexualpädagogischen Seminare fanden seit 1963 noch in Kooperation mit dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband statt und waren insofern Pionierarbeit, als dass die Entwicklung der wissenschaftlichen Diskussionen über die Sexualpädagogik bzw. sexuelle Bildung, wie wir sie heute kennen, noch am Anfang stand. Sie richteten sich vornehmlich an Lehrkräfte und andere pädagogische Fachkräfte wie etwa an »Heimerzieher*innen«. Bis zum Ende der 1960er-Jahre wuchs die Zahl der Beratungsstellen von pro familia rasch an. Seit Mitte der 1970er-Jahre wurden kontinuierlich Seminare für Mitarbeiter*innen abgehalten, da die Tätigkeit von pro familia im Feld der offenen Jugendarbeit stetig gewachsen war und eine entsprechende Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter*innen Vorrang hatte. In dieser Zeit differenzierten sich die Themen der Fortbildung aus in die außerschulische Arbeit mit Jugendlichen, Theorieseminare, Gruppenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit, um für gesellschaftliche Akzeptanz zu werben und für das Thema zu sensibilisieren.
Seit den 1990er-Jahren wurden die Curricula Schritt für Schritt einer Revision unterzogen und weiterentwickelt, wobei zusätzlich neue Themen auf dem Lehrplan erschienen, etwa geschlechtsspezifische Sexualpädagogik sowie der Umgang mit sexualisierter Gewalt und Täterarbeit. In dieser thematischen Öffnung zeigt sich der Einfluss der Zweiten Frauenbewegung und der feministischen Debatten im Verband. Gleichzeitig veränderten sich die Herangehensweisen der Veranstaltungen, was sich an der Titelwahl zeigt (»Von Menschen und Mäusen« 1997, »Lust und Liebe« 1998, »Starker Auftritt« 1998 zum Thema Öffentlichkeitsarbeit für die Sexualpädagogik). Die sexualpädagogischen Mitarbeiter*innen von pro familia schöpften hier aus ihrem Erfahrungsreichtum, insbesondere bezüglich der methodischen Umsetzung von sexualpädagogischen Themen der letzten Jahrzehnte, und prägten mit der Weiterentwicklung der Qualifizierungsmaßnahmen Generationen von Sexualpädagog*innen. Allein in den 1990er-Jahren nahmen insgesamt über 550 Teilnehmende an sexualpädagogischen Fortbildungen des pro familia Bundesverbands teil.
Modellprojekt Zusatzausbildung
Ein Meilenstein der curricularen Entwicklung wurde mit dem Modellprojekt »Zusatzausbildung in der Sexualpäda gogik« 1996 bis 1998 erreicht, finanziert durch die BZgA und durchgeführt vom pro familia Bundesverband in Kooperation mit der Fachhochschule Merseburg. Das Modellprojekt wurde wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Ein umfassendes Curriculum wurde erarbeitet und erprobt, zu dem elf thematische Fortbildungsmodule, ein begleitendes Praxisprojekt, Supervision sowie Zwischenprüfung, Praktikumsbericht und eine Abschlussprüfung gehörten. Die Praxisorientierung war hier bereits stark verankert und wurde u. a. sichergestellt, indem erfahrene spezialisierte pro familia-Mitarbeiter*innen zu zentralen Themen der Praxis als Referent*innen eingesetzt wurden (vgl. pro familia, 2001).
Die sexualpädagogische Arbeit, so wurde im Abschlussbericht festgehalten, unterlag in dieser Zeit einem Paradigmenwechsel, der sich auch auf die Anforderungen an die sexualpädagogischen Fachkräfte und damit auf die Bedarfe in der Fortbildung auswirkten. Neben Aufklärung und Prävention als »traditionelle« Aufgaben der Sexualpädagogik wird für Ende der 1990er-Jahre diagnostiziert, dass Orientierungshilfe in einer sich pluralisierenden, durch die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Werteorientierungen geprägten Gesellschaft eine weitere Aufgabe geworden ist, mit der Sexualpädagog*innen in der Praxis konfrontiert sind. Zu dieser Zeit – und auch dies schlägt sich im Resümee des Modellprojektes nieder – hat sich das sexualpädagogische Feld sowohl professionalisiert als auch diversifiziert: So nehmen nicht nur Fachkräfte anerkannter Schwangerschaftsberatungsstellen teil, sondern auch pädagogische Fachkräfte aus anderen Bereichen. Die Bedarfe dieser unterschiedlichen Zielgruppen sind jedoch unterschiedlich. So ist es auch zu erklären, dass das erfolgreiche Projekt nicht verstetigt wurde, sondern einen entscheidenden Impuls für die sexualpädagogische Aus- und Fortbildung an den Hochschulen einerseits und eine curriculare Neuentwicklung für die Fortbildung sexualpädagogischer Fachkräfte in Beratungsstellen andererseits gegeben hat.
Paradigmenwechsel und neue Zielgruppen
Die vom pro familia Bundesverband heute noch regelmäßig durchgeführte berufsbegleitende Fortbildung »Grundlagen sexualpädagogischer Arbeit« ist auf Grundlage der Projekt erkenntnisse (weiter-)entwickelt worden. Die Neubewertungen des Curriculums nehmen ebenfalls die fachlichen Paradigmenwechsel auf: (1) Das Feld der sexualpädagogischen Fachkräfte hat sich noch weiter ausdifferenziert, und so sind neben unterschiedlichen institutionellen Angeboten auch private sexualpädagogische Anbieter zu finden. Entsprechend hat sich die Fortbildung des Bundesverbands fokussiert auf die in Beratungsstellen oder vergleichbaren Einrichtungen tätigen sexualpädagogischen Fachkräfte, um deren besonderen Auftrag und deren Rahmenbedingungen auch im Fortbildungscurriculum zu treffen. (2) Zudem wird sexualpädagogisches Arbeiten heute in einem weiteren Kontext der sexuellen Bildung verstanden; Aspekte des lebenslangen Lernens und der sexuellen Gesundheit verweisen auf Zielgruppen auch jenseits von Kindern und Jugendlichen. Felder der sexualpädagogischen Beratung, der sexuellen Bildung für Senior*innen, Eltern, etc. sind fachlich zu entwickeln. (3) Sexualpädagogische Methoden müssen daraufhin überprüft werden, ob Kinder und Jugendliche, aber auch erwachsene Menschen hinreichend erreicht werden: Gibt es passende Angebote für die außerschulische Arbeit? Wie werden Menschen in den verschiedenen digitalen Räumen und in Sozialen Medien angesprochen? Sind Angebote der sexuellen Bildung über alle zeitgemäßen Kommunikationswege erreichbar?
Darüber hinaus sieht pro familia seine Aufgabe darin, die menschenrechtliche Dimension der Sexualpädagogik bzw. sexuellen Bildung auszuarbeiten und damit die Verankerung im internationalen Framework der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte zu konkretisieren. Daran arbeitet pro familia seit den 1990er-Jahren bis heute: Elke Thoss, die damalige Bundesgeschäftsführerin, hält im Rahmen der Zusatzausbildung Sexualpädagogik 1997 einen Vortrag, in dem sie die Paradigmenwechsel innerhalb der Sexualpädagogik eng an die Paradigmenwechsel der (internationalen) Familienplanung knüpft und die Menschenrechtsorientierung der Angebote anmahnt. Sexualpädagogik sieht sie darin als die Befähigung zur selbstbestimmten Sexualität. Sexualpädagog*innen haben dabei auch die Aufgabe, die komplexen globalen wie lokalen Bedingungen für ihr Wirken zu reflektieren. In den folgenden Jahrzehnten war und ist es immer wieder Aufgabe des Verbands gewesen, eine umfassende sexuelle Bildung, die an den Menschenrechten orientiert ist, für die sexualpädagogische Praxis konkret zu machen, beispielsweise wurden mit der Handreichung »Jetzt erst Recht!« (2012) Methoden für die Praxis entwickelt. Aktuell geht es im Projekt »SRR konkret« darum, das Thema der sexuellen Rechte auf die Lebenssituation von Menschen zu beziehen und konkret zu machen, was sie von sexuellen und reproduktiven Rechten haben (https://www.sexuelle-rechte. de/). Sexuelle Bildung ist dabei ein Themenfeld von vielen.
Meilensteine der Fortbildungen zur Schwangerschaftsberatung
Die ersten Fortbildungen zur Schwangerschaftskonfliktbe ratung wurden von pro familia ab 1975 angeboten. Mit der Reform des § 218 StGB von 1973 wurden im Rahmen des Bundesprogramms »Ergänzende Maßnahmen zur Reform des § 218« sogenannte Modellberatungsstellen eingerichtet, für deren Mitarbeiter*innen eine erste Fortbildung entwickelt wurde. Diese umfasste zum einen Fachvorträge zu medizinischen, psychischen und juristischen Aspekten des Schwangerschaftsabbruchs und zum anderen Gruppenarbeit nach Themenzentrierter Interaktion (TZI). Die Gruppenarbeit sollte vor allem der psychischen Entlastung der Berater*innen dienen, die sich zwischen 1973 und 1977 mit einem unerwartet starken Anstieg der Konfliktberatungen konfrontiert sahen und über Überlastung klagten, wie aus Berichten der ersten Fortbildungen hervorgeht. So berichtet eine Trainerin: »Schwangerschaftskonfliktberatung unterscheidet sich erheblich von anderen Beratungen wie Familienplanung und Sexualberatung, weil sie meist als Zwangsberatung angesehen wird und immer unter Zeitdruck steht. Dies ist eine psychische und physische Überforderung der Berater, hier erwarten sie Unterstützung und Lösungsmöglichkeiten, wenn sie zum Kurs kommen.«
In den Fokus der Fortbildung rückten in der Folge zum einen konkrete organisatorische Hilfsmittel wie das Anlegen eines schriftlichen Dokumentationssystems. Zum anderen nahmen Selbsterfahrungseinheiten und die Auseinandersetzung mit möglichen Konfliktpotenzialen und eigenen Spielräumen zunehmend mehr Raum in der Fortbildung ein.
Zunehmend wurde das Fortbildungsangebot dann auch um beraterisch-methodische Wissensinhalte erweitert. So stand im Zentrum eines ab 1976 stattfindenden zweiten Kurses das Erlernen von Elementen der klient*innenzentrierten Gesprächsführung. Das Themenspektrum erweiterte sich in den folgenden Jahren stetig, orientiert an den Anforderungen an die Berater*innen, den Rahmenbedingungen der Beratungspraxis und dem sich verändernden gesetzlichen Rahmen.
Parallel zu dem ständig wachsenden Umfang der sozialrechtlichen Regelungen und dem Aufgabenspektrum der Schwangerschaftsberatung nahm auch der Umfang der Fortbildung zu, die 1985 aus zwei und seit 2012 aus drei aufeinander aufbauenden Teilen besteht. Insbesondere in den 2010er-Jahren erweiterte sich das Aufgabenspektrum der Konfliktberatung: Durch die Einführung des Gendiagnostikgesetzes (GenDG) 2010/11 erhielten Schwangere einen Beratungsanspruch auf die psychosoziale Beratung vor, während und nach pränataldiagnostischen Maßnahmen. Als fachliche Ergänzung der ärztlichen Beratung, die medizinische Aspekte abdecken kann, ermöglicht die psychosoziale Beratung eine Bearbeitung der emotionalen Situation der Frauen bzw. des Paares.
2014 wurde die Vertrauliche Geburt gesetzlich verankert (Gesetz zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der Vertraulichen Geburt); ein Verfahren, das Frauen, die ihre Schwangerschaft geheim halten möchten oder müssen, unterstützt und medizinische Betreuung und Beratung rund um die Geburt gewährleistet. Auch dieses Verfahren ist Teil der grundlegenden Qualifizierung geworden.
Die Fortbildung befähigt Berater*innen dazu, fachlich kompetente Hilfe und Information zu allen Themen rund um Verhütung, Sexualität, (ungewollte) Schwangerschaften, Geburt, Frühe Hilfen und staatliche Transferleistungen anzubieten, denn all diese Themen können Gegenstand eines Beratungsgesprächs sein. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Fortbildung ist die individuelle Auseinandersetzung mit dem unauflösbaren Widerspruch, dass in § 5 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ausdrücklich die ergebnisoffene Beratung gewünscht wird, während der § 219 festlegt, dass die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigt werden soll. Ein zentrales Ziel der Fortbildung ist es daher, eine eigene professionelle Haltung innerhalb der besonderen Bedingungen dieser Beratung zu entwickeln.
Aktuelle Herausforderungen im Bereich beruflicher Qualifizierung
Bestehende Angebote in der beruflichen Fort- und Weiterbildung waren durch den Einschnitt der Pandemie, aber auch durch bereits vorher vorhandene Anforderungen der zunehmenden Digitalisierung herausgefordert. Wie kann in digitalen Begegnungen per Video, Chat, Mail oder auch Telefon Beziehungsaufbau, Vertrauensbildung, Persönlichkeitslernen stattfinden? Wie kann Datenschutz und Vertraulichkeit gewährleistet bleiben? Wie müssen Methoden und Gesprächsführung angepasst werden? All dies musste von Fachkräften schnell und teils unter Krisenbedingungen erprobt und erlernt werden. Für die Qualifizierungsmaßnahmen des pro familia Bundesverbands haben die intensiven zwei Jahre Pandemie einen enormen Innovationsschub gegeben, was die Ausstattung, das technische Know-how, die Formate und die methodische Umsetzung angeht. Nicht wenige Fachkolleg*innen waren erstaunt, wie viel online geht: Nicht nur Wissensvermittlung und fachlicher Austausch konnten gewährleistet werden. Auch die Lernziele im Bereich des Persönlichkeitslernens und Reflexionsaufgaben konnten mit passenden Methoden und Formaten in Online-Settings erreicht werden. Für die zukünftige Ausrichtung der Qualifizierungsangebote heißt das, dass die Vorteile der Online- Formate weiterhin als fester Bestandteil des Programms erhalten bleiben sollten und mit den bewährten Präsenzformaten kombiniert werden. Seit die Infektionszahlen nicht mehr ganz im Zentrum der Planungen stehen, werden Blended-Learning-Formate nun entlang von Themen und Zielen der Fortbildung entwickelt, Online- und Präsenzanteile werden am Lernziel, der Gruppendynamik und den Themen ausgerichtet. Damit sind berufliche Qualifizierungen auch ein Stück weit familienfreundlicher geworden – ein Bedarf, der sich in den letzten Jahren durch den Generationenwechsel der Fachkräfte in den Beratungsstellen vermehrt zeigt. Das Blended Learning bietet ein Potenzial, das noch längst nicht ausgeschöpft ist, und so ist eine zentrale Herausforderung, diese neuen Formate auszuloten, ihre Grenzen auszutesten und dabei systematisch die neuen Inhalte der Fortbildungen, die sich durch die Digitalisierung der Beratung und der sexuellen Bildung ergeben, fachlich weiterzuentwickeln.
Literatur
Deutscher Arbeitskreis für Jugend-, Ehe- und Familienberatung (DAKJEF) (1993). Institutionelle Beratung im Bereich der Erziehungsberatung, Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Partnerschafts- und Sexualberatung, http://www.dakjef.de/pdf/institutionelle_beratung.pdf
Deutscher Qualifikationsrahmen für Lebenslangen Lernen (verabschiedet vom Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen (AK DQR), 22. März 2011, www.dqr.de/dqr/shareddocs/downloads/media/ content/der_deutsche_qualifikationsrahmen_fue_lebenslanges_lernen.pdf?__ blob=publicationFile&v=1 (rev. 22.09.22)
International Planned Parenthood Federation (IPPF) (1997). Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte. Frankfurt am Main, https:// www.profamilia.de/fileadmin/profamilia/ippf_charta.pdf
International Planned Parenthood Federation (IPPF) (2009). Sexuelle Rechte: Eine IPPF-Erklärung. London, https://www.profamilia.de/fileadmin/profamilia/ippf_charta.pdf
https://www.profamilia.de/fileadmin/profamilia/verband/IPPF_Deklaration_Sexuelle_Rechte.pdf
pro familia Bundesverband und Gesellschaft für sozialwissen schaftliche Forschung in der Medizin (GESOMED) (1998). Evaluation des Fort- und Weiterbildungsangebotes des pro familia Bundesverbandes. Bericht über die Einführung eines Qualitätssicherungssystems 1996–1998. Frankfurt am Main.
pro familia Bundesverband (2012). Jetzt erst Recht. Eine Handreichung – Menschenrechtsbasierte Sexualpädagogik mit Jugendlichen. Mit drei Praxisbeispielen. Frankfurt am Main, https://www.profamilia.de/fileadmin/publikationen/Fachpublikationen/BV_Jetzt_erst_RECHT_2012.pdf
pro familia Bundesverband (2001). Modellprojekt Zusatzausbildung in der Sexualpädagogik. Abschlussbericht. Reihe Sexualpädagogik. Frankfurt am Main.
pro familia Bundesverband (2022). Jahresbericht 2021. Frankfurt am Main, https://www.profamilia.de/fileadmin/profamilia/verband/jahresbericht_2021.pdf
Alle Links und Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Zitation
Ommert, A., & Picard, C. (2022). Wissenschaftsbasiert und praxisorientiert: Qualifizierungen bei pro familia, FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2, 8–11.
Veröffentlichungsdatum
Dr. Alexandra Ommert, Gesellschaftswissenschaftlerin, ist seit 2011 Referentin für Fort- und Weiterbildung beim pro familia Bundesverband und hatte darüber hinaus verschiedene Projekt leitungen inne, u. a. zum Thema Verhütung und Verhütungskosten.
Kontakt: alexandra.ommert(at)profamilia.de
Dr. Christin Picard, Erziehungswissenschaftlerin, ist seit 2012 Referentin für Fort- und Weiterbildung beim pro familia Bundesverband.
Kontakt: christin.picard(at)profamilia.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Qualifizierung im Bereich sexueller Bildung
- Wissenschaftsbasiert und praxisorientiert: Qualifizierungen bei pro familia
- Qualifizierung zur Hebamme
- Das Forschungsprojekt »Beyond Digital Violence«
- Teach LOVE: Psychologische Weiterbildung mit Herz und Expertise
- Lehrkräftefortbildungen im Rahmen der bundesweiten Initiative »Trau dich!«
- Studie zu Sexualaufklärung im schulischen Kontext in vier Ländern der europäischen WHO-Region
- Ein blinder Fleck: Inklusive Materialentwicklung für blinde und sehbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche
- FachForumFortbildung der BZgA zu „Sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend“