Viel Kummer in Zeiten von Corona
Einleitung
Die Einschränkungen und Veränderungen im Alltag infolge der Corona-Pandemie haben viele Familien vor große Herausforderungen gestellt und diese stark belastet. Eine Studie des Universitäts-Klinikums Hamburg-Eppendorf (Ravens-Sieberer et al., 2020) hat die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Heranwachsenden untersucht. Demnach haben sich die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie verringert, was deren Risiko für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten erhöht.
Auch Eltern waren und sind in besonderer Weise betroffen: Viele erlebten einschneidende Veränderungen im beruflichen Alltag und mussten infolge der Kita- und Schulschließungen die Betreuung und Beschulung ihrer Kinder übernehmen. Die Bewältigung von beidem war und ist eine immense Herausforderung für viele der 14,6 Mio. Eltern minderjähriger Kinder. Fast die Hälfte empfand die Lockdown-Phase als sehr belastend (Bujard et al., 2020).
Inzwischen sind die meisten Schulen und Kitas wieder geöffnet, aber nach wie vor gibt es vielfältige und empfindliche Störungen im Alltag der Kinder, aber auch in der Arbeitswelt der Eltern und damit im Lebensalltag von Familien. Die unterschiedlichen Belastungssituationen in Familien werden auch in zahlreichen Beratungen im Rahmen der Angebote der »Nummer gegen Kummer« immer wieder thematisiert.
Gerade in diesen schwierigen Zeiten bekommen die kostenlosen, leicht erreichbaren und »kontaktlosen« Beratungsangebote der »Nummer gegen Kummer« eine noch größere Bedeutung, da sie den Menschen die Möglichkeit bieten, über ihre Situation zu sprechen, Isolationen aufzulösen, und damit Ängste minimieren. Dies trifft auf alle Beratungsangebote der »Nummer gegen Kummer« zu: das Elterntelefon (ET), das Kinder-und Jugendtelefon (KJT) wie auch die Onlineangebote für Kinder und Jugendliche.
Struktur, Ziele und Angebote der »Nummer gegen Kummer«
Seit fast 40 Jahren finden Kinder und Jugendliche und seit 2001 auch Eltern unter der »Nummer gegen Kummer« ein offenes Ohr für ihre Anliegen. Nummer gegen Kummer e. V. (NgK) ging als mittlerweile selbstständiger, gemeinnütziger Verein aus dem Deutschen Kinderschutzbund (DKSB) hervor. Er verfolgt das Ziel, die Lebenssituation sowie die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen deutschlandweit zu verbessern. Hierfür stellt er Heranwachsenden sowie Eltern und Erziehenden in Zusammenarbeit mit seinen Mitgliedsvereinen1 auf die Zielgruppen zugeschnittene, qualifizierte und flächendeckende Beratungsangebote zur Verfügung.
Im Laufe der Jahre ist zur Umsetzung dieses Ziels ein Beratungskanon entstanden, der aktuell folgende Beratungsangebote umfasst: Über die Rufnummer 116 111 ist das KJT als kostenloses, anonymes und themenoffenes Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche aller Altersstufen deutschlandweit von montags bis samstags, jeweils von 14 bis 20 Uhr zu erreichen. Mitte der 90er-Jahre wurde das Projekt »Jugendliche beraten Jugendliche« am KJT als so genanntes Peer-Education-Projekt initiiert. Seitdem beraten samstags unter der Rufnummer des KJT speziell für diese Aufgabe ausgebildete Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren die anrufenden Heranwachsenden. Um den mit der Digitalisierung zusammenhängenden veränderten Kommunikationsgewohnheiten insbesondere von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, wurde 2003 eine weitere Beratungsform etabliert. Die Onlineberatung ist seitdem für Unterstützung suchende junge Menschen rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, per Mail erreichbar und bietet dadurch einen weiteren niedrigschwelligen Zugang zur Beratung. Seit 2019 wird die E-Mail-Beratung mit einer termingebundenen Einzel-Chatberatung ergänzt – eine Maßnahme, die sich an der Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen orientiert, denn der Chat ist laut JIM-Studie (2019) derzeit das am häufigsten genutzte Kommunikationstool in dieser Zielgruppe. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes berät zudem das ET seit 2001 ratsuchende Eltern, Erziehende sowie insgesamt an der Erziehung beteiligte Personen, um sie in ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen und in Konfliktsituationen konstruktive Hilfestellung zu geben.
Wer steht hinter der »Nummer gegen Kummer«?
Rund 3000 ausgebildete ehrenamtlich engagierte Berater*innen kümmern sich bundesweit an den Standorten der »Nummer gegen Kummer« in ihrer Freizeit um die Sorgen und Nöte der Kinder, Jugendlichen und deren Eltern. Speziell für diese Aufgabe ausgebildet,2 hören sie zu, trösten, machen Mut und motivieren zu eigenständigem Handeln. Sie nutzen in ihren Beratungen professionelle Kompetenzen, um mit ressourcenorientierter Perspektive in einem nach Möglichkeit gleichberechtigten Diskurs vorhandene Kräfte und Ressourcen der Ratsuchenden zu (re)aktivieren und zu stärken (Hurrelmann, 1988; Rogers, 2001).
Für die Beratenden ist es in der aktuellen Krisenzeit nicht einfach, Sicherheit und Zuversicht zu vermitteln. Die Beratung erfolgt häufig aus einer spontanen Idee der Ratsuchenden heraus, d. h., die Beratenden werden unvermittelt mit beschriebenen Problemsituationen oder einer akuten Krise konfrontiert. Das fordert den Ehrenamtlichen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Einfühlungsvermögen und Flexibilität ab. Neben der persönlichen Haltung, allen Ratsuchenden vorurteilsfrei und mit Achtung zu begegnen, ist der Beratungsgrundsatz »Im besten Sinne für das Kind!« handlungsleitend. Bei Bedarf klären die Beratenden über weiterführende, professionelle Hilfsangebote auf und motivieren durch konkrete Informationen über deren Arbeitsweise.
Die »Nummer gegen Kummer« hat somit sowohl direkten als auch präventiven Hilfecharakter und ist in vielen Fällen die erste Kontaktstelle zur Vermittlung weiterer Hilfen im psychosozialen Netz Deutschlands. Eine einfühlsame und vertrauliche Erstberatung senkt dabei die Hemmschwelle zum Aufsuchen weiterer Beratungsangebote und hilft, rechtzeitig die Weichen für eine positive Weiterentwicklung der Heranwachsenden zu stellen. Ratsuchende und Beratende bleiben während des gesamten Beratungsprozesses anonym.
Um Ratsuchende noch besser beraten und unterstützen zu können, kooperiert NgK bei wichtigen Themen oder auch mit Fokus auf spezifische Zielgruppen mit anderen Institutionen. Beispielhaft möchten wir hier auf zwei Kooperationen eingehen.
Das ET der »Nummer gegen Kummer« ist Ansprechpartner für alle Themen von Eltern. Diese reichen von Erziehungsproblemen, Schwierigkeiten mit Schule, im Familienkreis, bis hin zu Überforderung und Hilflosigkeit im Umgang mit Babys und Kleinkindern. Seit 2013 arbeitet NgK deshalb auch mit dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) zusammen, um vor allem Eltern mit Kindern von null bis drei Jahren noch besser auf die vielen spezifischen Unterstützungsmöglichkeiten der Frühen Hilfen aufmerksam zu machen. Viele Eltern haben dieses Angebot bereits genutzt, um im Schutz der Anonymität am ET über ihre Sorgen, Ängste oder Unsicherheiten im Umgang mit dem eigenen (Klein-)Kind sprechen zu können. Die Beratenden des ET erarbeiten gemeinsam mit den Anrufenden Lösungsstrategien und nennen, wenn gewünscht, geeignete Anlaufstellen vor Ort (z. B. Schreiambulanzen und frühkindliche Förderungsangebote).
Nummer gegen Kummer e. V. beteiligt sich ebenfalls seit 2013 aktiv an der bundesweiten Initiative »Trau dich!« zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). »Trau Dich!« ist eine umfängliche Präventionskampagne für Kinder, Eltern, Lehr- und Fachkräfte und wird insbesondere in Schulen in enger Kooperation mit kommunalen Fachberatungsstellen, Jugendämtern, Kinderschutzbünden und Bildungseinrichtungen durchgeführt. Seit Beginn der Initiative ist über die Jahre ein Anstieg der Beratungen zur Thematik »sexualisierte Gewalt« mit all seinen Facetten sowohl am KJT als auch in der Onlineberatung zu verzeichnen. Das zeigt, dass diese Projekte die gewünschte Aufmerksamkeit bringen, die in Beratung und Hilfe mündet. Auch hier macht es die Anonymität der Beratungsangebote von NgK den Betroffenen oft leichter, über das Erlebte zu sprechen. Häufig sind die Berater*innen am KJT und in der Onlineberatung die Ersten, denen sich das Kind anvertraut. Sensibel zuhören, Glauben schenken und eine vertrauensvolle Gesprächsbasis schaffen ist an der Stelle die wichtigste Aufgabe der Berater*innen.
Beratung in der Krise: Entwicklung der Anfragen
Die Beratungsangebote der »Nummer gegen Kummer« sind grundsätzlich themenoffen, Kinder, Jugendliche und auch Eltern können sich mit allen für sie wichtigen Anliegen melden. Jeder Anruf wird angenommen und die Beratungsgespräche werden anonymisiert statistisch erfasst.
Themenbezogene Daten, die über die Beratungsangebote erhoben werden, können entsprechend einen unverfälschten Blick auf die Lebens- und Problemwelt von Heranwachsenden und deren Familien vermitteln – sie sind zuverlässige und zeitnahe Gradmesser der Sorgen und Ängste von Kindern und ihren Eltern. Anders als durch Befragungen, beispielsweise im Rahmen von Studien, melden sich die Ratsuchenden hier selbstständig und auf eigene Initiative. So gelingt es, auf authentische Art und Weise die Fragen und Probleme zu erfassen, die Kinder, Jugendliche und deren Eltern von sich aus artikulieren.
Seit März 2020 ist ein deutlicher Anstieg von Anfragen sowohl an unseren Telefonen, insbesondere am ET, als auch in der Onlineberatung für Kinder und Jugendlichen zu verzeichnen (siehe Abbildung 1 und 2). NgK hat gemeinsam mit seinen Mitgliedern und mit tatkräftiger Unterstützung der vielen Tausend qualifizierten ehrenamtlich Beratenden darauf reagiert und bereits seit April 2020 die Beratungszeiten am ET und in der Onlineberatung deutlich erweitert.
Wie die Abbildungen 1 und 2 zeigen, lässt sich der Verlauf der bundesweiten Corona-Maßnahmen, insbesondere die »harte Lockdown-Phase«, recht gut am Verlauf der Anfragen ablesen.
Innerhalb der Beratungen geht es generell um die unterschiedlichsten Themen und Fragen. (Einen guten Überblick über die zahlreichen Anrufanlässe und/oder Beratungsthemen geben die jährlich von NgK herausgegebenen statistischen Jahresberichte aller Angebote.) Die Auswirkungen der Coronakrise beschäftig(t)en Kinder, Jugendliche und auch Eltern allerdings sehr und bestimm(t)en deren familiären Alltag, was sich auch in den Beratungen widergespiegelt hat.
Im Folgenden möchten wir auf der Grundlage unserer Daten von Januar bis September 2020 vor allem zwei Fragestellungen nachgehen: (1) Was beschäftigte die Ratsuchenden am meisten im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie, gibt es beachtenswerte thematische Verschiebungen? Und (2) können unsere Daten den befürchteten Anstieg von Gewalt und sexualisierter Gewalt belegen?
Beratung von Eltern – per Telefon
Im genannten Zeitraum wurden insgesamt 13 098 Beratungen am ET geführt, dies sind 59 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2019. Die Geschlechts- und Altersverteilung der Ratsuchenden sowie andere persönliche Merkmale entsprechen weitestgehend den Vorjahreswerten (Nummer gegen Kummer e. V.; 2020, Statistik 2019 ET). So sind 73 Prozent der anrufenden Frauen und 26 Prozent Männer (1 % unbekannt). 85 Prozent der Anrufe stammen von Erwachsenen zwischen 25 und 54 Jahren, wobei die 30- bis 49-Jährigen mit 73 Prozent das ET am häufigsten nutzen. 80 Prozent der Beratungen wurden mit einem Elternteil geführt, aber auch Großeltern oder Nachbarn in Sorge um Kinder haben das Angebot genutzt.
Die Eltern kontaktieren das ET meist, um über ihre vielfachen und vielfältigen Belastungen zu sprechen, Informationen zu spezifischen weiteren Hilfsangeboten zu erhalten und häufig auch, um Konfliktsituationen zukünftig angemessener begegnen zu können. Die fünf häufigsten Einzelthemen im Jahr 2020 sind: »Überforderung/Hilflosigkeit« (31,5 % aller Beratungen), »Eltern-Kind-Beziehung« (22,6 % aller Beratungen), Probleme mit »(Ex-)Partnern«, und dies häufig in Verbindung mit Fragen zum Jugendamt und Umgangsrecht (19,6 % aller Beratungen), Probleme mit »Kindern/Enkeln« (12 % aller Beratungen) und »psychische Probleme der Kinder« (11 % aller Beratungen).
Beratungsthemen am ET in der Corona-Pandemie
Ein differenzierteres Bild zu den spezifischen Anrufanlässen im Hinblick auf die aktuelle Corona-Pandemie liefern uns Daten, die NgK in einer Sondererhebung seit April 2020 erfasst.
Insgesamt haben sich im Zeitraum von April bis September 2020 2567 Ratsuchende vor diesem Hintergrund an das ET gewandt (siehe Tabelle 1). Hier zeigt sich, dass das größte Problem für die Familien die Betreuungssituation der Kinder darstellt(e). Dies ging häufig einher mit Gefühlen von Überforderung und Verunsicherung sowie dem Umgang mit Konflikten in der Familie. »Häusliche Gewalt« hingegen wurde in 102 Fällen am Telefon thematisiert (4 % der Beratungen).
Beratung von Kindern und Jugendlichen – per Telefon und online
Das Anrufaufkommen am KJT sowie auch die Anzahl der Beratungen bewegen sich 2020 ungefähr auf dem Vorjahresniveau. So wurden im Zeitraum vom 1. Januar bis 30. September 2020 73 711 Beratungen am KJT geführt, dies waren 4 Prozent weniger als 2019 (Nummer gegen Kummer e. V., 2020, Statistik 2019 KJT). Eine deutliche Steigerung zum Vorjahr hingegen haben wir in der Onlineberatung für Kinder und Jugendliche zu verzeichnen (siehe auch Abbildung 2). Hier wurden im gleichen Zeitraum insgesamt 9689 Beratungen geführt, dies sind 18 Prozent mehr als im Vorjahr (Nummer gegen Kummer e. V., 2020; Statistik 2019 OB). Um Wiederholungen zu vermeiden, wird im Folgenden vor allem auf die Beratungen am KJT eingegangen und nur bei auffällig abweichender Datenlage mit der OB ergänzt.
Während in den ersten Jahren der Telefonberatung ein überwiegender Teil der Anrufenden Mädchen und junge Frauen waren, hat sich dieses Verhältnis in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Seit Beginn der Zweitausenderjahre hat sich das Geschlechterverhältnis der Anrufenden immer weiter angeglichen (Nummer gegen Kummer e. V., 2010) und in den letzten drei Jahren sogar umgekehrt. Dieses Bild finden wir aktuell auch im Jahr 2020. So haben im Zeitraum von Januar bis September 2020 insgesamt
43 296 Jungen (58,7 %), 29 432 Mädchen (39,9 %) und 175 Jugendliche ohne Geschlechtspräferenz (0,2 %) am KJT Unterstützung gesucht (808 Beratungen, 1 % »unbekannt«). Die Geschlechtsverteilung entspricht ungefähr den Vorjahreswerten. Ähnliches zeigt sich auch bei der Altersverteilung der Ratsuchenden. Mehr als die Hälfte aller Beratungen (54,2 %) wurden mit 11 bis 16-jährigen geführt, also mit jungen Menschen, die sich in der Pubertät befinden. Die Onlineberatung wird dagegen wie in den Vorjahren auch zumeist von weiblichen Ratsuchenden (78 %) und Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren (74 %) genutzt.
Nicht zuletzt dadurch scheint es wenig verwunderlich, dass sich viele Beratungen um Themen wie Liebe, Sexualität und Partnerschaft sowie Freundschaften drehen. Aber ist das auch in diesem besonderen Jahr der Fall?
Beratungsthemen am KJT in der Corona-Pandemie
Auch im Jahr 2020 waren diese Themen wieder Inhalte von zahlreichen Beratungen (siehe Abbildung 3), aber sie waren in diesem Jahr nicht so bedeutsam wie 2019. Hingegen haben Inhalte aus den Bereichen »psychosoziale Themen und Gesundheit«, »Probleme in der Familie« und »Gewalt« deutlich an Relevanz für die ratsuchenden Kinder und Jugendlichen gewonnen.
2020 wurde häufiger über eigene »psychische Probleme«, »Langeweile« und »Einsamkeit« gesprochen (»psychosoziale Themen und Gesundheit«). Im Themenfeld »Familie« gilt dies vor allem für die Auseinandersetzung mit der eigenen »Kind-Eltern-Beziehung«, »Verbote, Regeln, Meinungen« der Eltern und gefühlte/erlebte »Benachteiligung/fehlende Unterstützung« durch die eigene Familie – eine Widerspiegelung der veränderten Lebens- und Problemlagen für Kinder und Jugendliche unter »Corona«.
Besonderes Augenmerk wollen wir in der aktuellen Situation auf das Themenfeld »Gewalt und sexualisierte Gewalt« richten. In absoluten Zahlen haben sich wegen einer Gewaltproblematik 2020 insgesamt 9244 Kinder und Jugendliche an das KJT gewandt, dies sind 12,5 Prozent aller Ratsuchenden und 14,8 Prozent mehr Ratsuchende als 2019. In der Onlineberatung sind es 1073 Beratungen gewesen, dies sind 11 Prozent aller Beratungen und 17 Prozent mehr als 2019. Abbildung 4 veranschaulicht die zahlreichen Beratungsanlässe in diesem Themenfeld. Im Vergleich 2019 zu 2020 wird hier deutlich, dass vor allem die Probleme »psychische Gewalt« und »Opfer häuslicher Gewalt« 2020 häufiger ein Grund waren, sich an das KJT zu wenden.
Fazit
Im Jahr 2020 (Januar bis September) haben insgesamt 83 400 Kinder und Jugendliche die Telefon- und Onlineberatung der »Nummer gegen Kummer« in Anspruch genommen und 13 098 Eltern am ET angerufen. Diese Zahlen unterstreichen zunächst den aktuellen Bedarf der kostenlosen und anonymen Hilfsangebote der »Nummer gegen Kummer«.
Die Themenvielfalt ist groß: So gut wie alle denkbaren Probleme werden vorgetragen. Gleichzeitig spiegeln die hier vorgestellten Ergebnisse unserer Ansicht nach die veränderten Lebens- und Problemlagen für Kinder, Jugendliche und Eltern unter Corona deutlich wider.
Viele Eltern rufen am ET an, um über ihre aktuellen und akuten Belastungen (Betreuungssituation der Kinder, Konflikte in der Familie sowie Gefühle der Verunsicherung und Überforderung) in der Krisensituation zu sprechen und um auch präventiv Konfliktsituationen angemessen begegnen zu können. Kinder nutzen die Beratungsangebote KJT und Onlineberatung ebenfalls verstärkt, um mit der für sie ungewohnten neuen Situation umzugehen: So sprechen junge Ratsuchende vermehrt über psychische Probleme, Einsamkeit und Konflikte innerhalb der Familie und auch verstärkt über Gewalterfahrungen.
Die psychischen Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Versorgung, Kontrolle und Orientierung, Bindung und Zugehörigkeit sind in der Pandemie nicht mehr ohne Weiteres erfüllt. Gefühle von Überforderung, Reizbarkeit und hoher Anspannung können deutlich steigen (Wenzel et al., 2020).
Daher ist gerade jetzt wichtig, Menschen in geschütztem Rahmen die Möglichkeit zu geben, durch wertschätzenden Kontakt ihre Resilienz, Autonomie und ihr Selbstwirksamkeitserleben zu stärken und Krisen als überwindbar anzusehen. Beratungs- oder Therapieangebote, die zuvor im Face-to-Face-Kontakt stattgefunden haben, sind aktuell teilweise nur noch eingeschränkt möglich – daher sind Telefon- und digitale Beratungsangebote vermutlich so wichtig wie noch nie!
1 89 lokale Vereine, davon 74 regionale Untergliederungen sowie weitere 15 Verbände der freien Kinder- und Jugendhilfe, die einen Standort
des Kinder- und Jugendtelefons und/oder des Elterntelefons des DKSB unterhalten.
2 Vor der Beratungstätigkeit an den Telefonen absolvieren alle Beratenden eine 70- bis 100-stündige Ausbildung nach den gültigen Richtlinien
und Rahmenbedingungen von NgK. Während dieser werden die zukünftigen Beratenden im Rahmen von Selbsterfahrung, dem Erlernen und Üben von Gesprächsführungs- und Beratungstechniken sowie durch die Auseinandersetzung mit Themen, die für die Beratung von Kindern und Jugendlichen bzw. Eltern bedeutsam sind, und die anschließende Hospitation auf die ehrenamtliche Beratungstätigkeit am Telefon vorbereitet. Die Qualifizierung zum/zur E-Mail-Berater*in baut auf der Telefonberatung auf. Im E-Mail-Beratungsteam arbeiten erfahrene ehrenamtliche Beratende, die neben einer Ausbildung am KJT mindestens ein Jahr telefonische Beratungserfahrung und die Zusatzausbildung zum/zur E-Mail-Berater*in absolviert haben.
Literatur
Bujard, M., Laß, I., Diabaté, S., Sulak, H., & Schneider, N.F. (2020). Eltern während der Corona-Krise. Zur Improvisation gezwungen. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hrsg.). Wiesbaden.
Hurrelmann, K. (1988). Sozialisation und Gesundheit. Somatische, psychische und soziale Risikofaktoren im Lebenslauf. Weinheim/München: Juventa.
Kühne, S., & Hinterberger, G. (2020). Onlineberatung und -therapie in Zeiten der Krise. Ein Überblick. Fachzeitschrift für Onlineberatung und computervermittelte Kommunikation. 16. Jahrgang, Heft 1, Artikel 3-2020.
Nummer gegen Kummer e. V. (2010). Nummer gegen Kummer Studie 2010. Rollenverständnis im Wandel. Eine Untersuchung zum Kinder- und Jugendtelefon in Deutschland. Wuppertal.
Nummer gegen Kummer e. V. (2020). Statistik 2019. Elterntelefon. https://www.nummergegenkummer.de/presse.html (18.11.2020).
Nummer gegen Kummer e. V. (2020). Statistik 2019. Kinder- und Jugendtelefon. https://www.nummergegenkummer.de/presse.html (18.11.2020).
Nummer gegen Kummer e. V. (2020). Statistik 2019. Online-Beratung. https://www.nummergegenkummer.de/presse.html (18.11.2020).
Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Otto, C., Adedeji, A., Devine, J., Erhart, M., Napp, AK., Becker, M., Blanck-Stellmacher, U., Löffler, C., Schlack, R., & Hurrelmann, K. (2020). Mental health and quality of life in children and adolescents during the COVID-19 pandemic – results of the COPSY study. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 828–9. DOI: 10.3238/ arztebl.2020.0828.
Rogers, C. R. (2001). Die nicht-direktive Beratung. 10. Auflage. Frankfurt/ Main: Fischer.
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2019). JIM-Studie 2019 – Jugend, Information, Medien. Zugriff am 19.11.2020 unter https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2019/JIM_2019.pdf.
Wenzel, J., Jaschke, S., & Engelhardt, E. (2020). Krisenberatung am Telefon und per Video in Zeiten von Corona. Fachzeitschrift für Onlineberatung und computervermittelte Kommunikation. 16. Jahrgang, Heft 1, Artikel 4-2020.
Alle Linkangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Anna Zacharias
Dipl.-Pädagogin und Kommunikationswirtin (WAK), Fachreferentin für Öffentlichkeitsarbeit und Onlineberatung bei Nummer gegen Kummer e. V.
Kontakt: Nummer gegen Kummer e. V.
Hofkamp 108
42103 Wuppertal
a.zacharias(at)nummergegenkummer.de
Heidi Schütz
Dipl.-Psychologin und Sexualpädagogin, Fachreferentin für Statistik und Kinder- und Jugendtelefon bei Nummer gegen Kummer e. V.
Kontakt: h.schuetz(at)nummergegenkummer.de
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Die Professionalisierung der Onlineberatung
- Digitale Beratung in der Krise – Corona fördert Telefon- und Videointerventionen
- Präsenzberatung und Technik sinnvoll verbinden
- Digitale Beratung: Europäische Telefondienste bieten zunehmend auch Beratung per Chat und E-Mail an
- Der Krisenkompass der TelefonSeelsorge®
- Viel Kummer in Zeiten von Corona
- »Aber dann kam Corona ...«
- Liebe und Sexualität in der Onlineberatung
- »Schreiben ist lauter als denken und leichter als sagen«1
- Hebammenarbeit mittels digitaler Medien
- Frühe Hilfen – Entwicklung und Etablierung von digitalen Maßnahmen zur Unterstützung eines analogen Arbeitsfeldes
- PROJEKTSKIZZEN: Das Forschungsprojekt »Schwangerschaftsberatung während der Covid-19-Pandemie aus Sicht von Beratungsfachkräften«
- PROJEKTSKIZZEN: Beratung im digitalen Zeitalter. Über das donum vitae-Modellprojekt »HeLB« und die Coronakrise
- PROJEKTSKIZZEN: Die Digitalisierung des Sozialen und der Beitrag der Freien Wohlfahrtspflege am Beispiel der Onlineberatung der Caritas
- Infothek - Ausgabe 02/2020