Ungewollte Schwangerschaften im Lebenslauf – Ergebnisse der Studie „frauen leben 3“
Gefördert von der BZgA, wurden zwischen 2012 und 2020 in vier Erhebungsphasen in jeweils unterschiedlichen Bundesländern repräsentative Befragungen zur Familienplanung durchgeführt. Über 130 qualitative Interviews mit Frauen, die zu spezifischen Fragestellungen oder Lebensumständen – etwa Schwangerschaften in sehr jungem Alter oder in Gewaltbeziehungen – geführt wurden, ermöglichen darüber hinaus vertiefende Einblicke. Wesentlicher Ansatz der im Mixed-Methods-Design angelegten Studie ist die konsequente Berücksichtigung der Lebenslaufperspektive bei der Untersuchung der Familienplanung: Kinderwunsch, Verhütung, Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüche werden nicht als isolierte Einzelereignisse betrachtet, sondern im Kontext und in der zeitlichen Reihenfolge biografischer Erfahrungen betrachtet. Familienplanung wird dabei in einem umfassenden Sinn als Gesamtheit aller Entscheidungen und Entwicklungen verstanden, mit denen das private Leben mit oder ohne Kind gestaltet wird. Die Studie wurde von Prof.in Dr.in Cornelia Helfferich im Rahmen ihrer über 25-jährigen Forschungstätigkeit zum Thema Familienplanung konzipiert, an dem von ihr gegründeten Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg (SoFFI F.) umgesetzt und von ihr bis zu ihrem Tod im Jahr 2021 geleitet.
Bei den Erhebungen und Analysen von »frauen leben 3« standen einzelne Bundesländer im Fokus, um eine passgenaue Unterstützung bei der strategischen und inhaltlichen Planung von Prävention und Sexualaufklärung auf Landesebene anzubieten. Nach Abschluss sämtlicher Erhebungen liegen nunmehr bundesweite repräsentative Befragungsdaten zu Familienplanung und Familienleben von über 19.000 Frauen im Alter zwischen 20 und 44 Jahren vor, die über rund 22.700 Schwangerschaften berichten – eine einzigartige Datenbasis.
Ungewollte Schwangerschaften im Fokus
Einen inhaltlichen Schwerpunkt von »frauen leben 3« bildeten Fragen zu Verbreitung und Hintergründen ungewollter Schwangerschaften. Allgemein steht die diesbezügliche Forschung in Deutschland wie auch international vor der Herausforderung, dass der Begriff »ungewollte Schwangerschaft« schwer eindeutig zu fassen ist. Fraglos gibt es eindeutig gewollte und ebenso zweifelsfrei ungewollte Schwangerschaften. In der Lebenswirklichkeit – so auch ein zentrales Ergebnis der qualitativen Analysen aus »frauen leben 3« – sind Schwangerschaftsintentionen aber häufig weniger klar und durch Widersprüche, Ambivalenzen und verschiedene Grade der (Un-)Gewolltheit gekennzeichnet.
Bei »frauen leben 3« werden unter ungewollten Schwangerschaften in einem engeren Sinne die von den Befragten selbst als ausdrücklich ungewollt bezeichneten Schwangerschaften gefasst. Sie bilden eine Teilmenge der unbeabsichtigten Schwangerschaften, worunter wir sämtliche Schwangerschaften fassen, die nicht dezidiert gewollt sind. Hierunter fallen etwa Schwangerschaften mit unklarer oder ambivalenter Intention. Die Bewertung der Ungewolltheit oder Gewolltheit bezieht sich auf den Zeitpunkt des Eintritts der Schwangerschaft. Abgebrochene Schwangerschaften sind in der Studie »frauen leben 3« generell den ungewollten Schwangerschaften zugeordnet.
Fast 30 Prozent der Schwangerschaften sind unbeabsichtigt, 15 Prozent sind ungewollt
Jede fünfte befragte Frau (20,6 %) im Alter ab 40 Jahren ist im Laufe ihres Lebens mindestens einmal ungewollt schwanger geworden. Mehr als jede dritte Befragte im Alter ab 40 Jahren war mindestens einmal unbeabsichtigt schwanger (34,9 %). Wie in Abbildung 1 dargestellt, sind etwa 70 % aller ausgetragenen oder abgebrochenen Schwangerschaften zum Zeitpunkt hin gewollt. Hierunter fallen auch die Schwangerschaften, die eigentlich früher gewünscht waren (ca. 1 %).
Demgegenüber treten knapp 30 % aller Schwangerschaften unbeabsichtigt ein. Hierzu zählen rund 12 % der Schwangerschaften, die zwar grundsätzlich gewollt waren, die aber erst zu einem späteren Zeitpunkt hätten eintreten sollen. Bei weiteren 2–3 % der Schwangerschaften waren die Frauen zwiespältig oder unentschieden. Ausdrücklich ungewollt sind 15 % aller Schwangerschaften. Diese werden zu über der Hälfte ausgetragen (55 % aller ungewollten Schwangerschaften) und zu 45 % abgebrochen.
Es gibt kein typisches Alter für ungewollte Schwangerschaften
Die »frauen leben 3«-Daten zeigen, dass ungewollte Schwangerschaften über weite Teile der fertilen Lebensphase mit einer vergleichbaren Häufigkeit eintreten: Im Alter zwischen 19 und 35 Jahren werden etwa 10 von 1 000 Frauen eines Altersjahrs ungewollt schwanger. In höherem Alter geht die Prävalenz zurück. Im Alter über 40 Jahre liegt sie – ebenso wie bei noch nicht volljährigen Frauen – bei weniger als 5 ungewollten Schwangerschaften je 1.000 Frauen gleichen Alters (siehe Abbildung 2).
Während ungewollte Schwangerschaften über die Altersjahre hinweg ähnlich verbreitet sind, sind gewollte und geplante Schwangerschaften im Alter zwischen 28 und 34 Jahren besonders häufig. Betrachtet man den Anteil ungewollter Schwangerschaften an allen Schwangerschaften, ist der Anteil ungewollter Schwangerschaften in dieser Altersspanne besonders gering. Bei jungen Frauen unter 20 Jahren sind Schwangerschaften häufiger ungewollt als beabsichtigt, der Anteil ungewollter Schwangerschaften an allen Schwangerschaften mithin am höchsten. Dennoch wäre es irreführend, ungewollte Schwangerschaft als Thema zu betrachten, das besonders junge Frauen betrifft.
Schwierige Lebensumstände als Grund für Ungewolltheit
Die biografische Situation übt einen wesentlichen Einfluss auf das Schwangerschaftsgeschehen aus. Im Rahmen von »frauen leben 3« wurden Zusammenhänge zwischen (un)gewollter Schwangerschaft und Lebensumständen in den Bereichen Partnerschaft, berufliche und finanzielle Situation, Gesundheit sowie weitere Aspekte untersucht. Im direkten Vergleich zeigt sich, dass beim Eintritt ungewollter Schwangerschaften schwierige Lebensumstände in allen betrachteten Bereichen deutlich häufiger verbreitet sind als bei gewollten Schwangerschaften (siehe Tabelle 1).
Bei über zwei Drittel der ungewollten Schwangerschaften (68 %) ist die berufliche und/oder finanzielle Situation allenfalls eingeschränkt geeignet, um ein Kind zu bekommen. 46 % der Frauen mit ungewollten Schwangerschaften weisen auf gesundheitliche Bedenken oder Probleme hin. Bei 42 % der ungewollten Schwangerschaften deuten ein oder mehrere Merkmale auf eine schwierige oder fehlende Partnerschaft hin. Und 60 % der ungewollt Schwangeren nennen weitere schwierige oder unpassende Lebensumstände wie das Gefühl, zu jung und unreif zu sein, eine unzureichende Wohnsituation oder eine starke Beanspruchung durch die Betreuung und Pflege von Kindern oder anderen Angehörigen.
Während fast die Hälfte (48 %) der beabsichtigt schwanger gewordenen Frauen überhaupt keine schwierigen Lebensumstände und weitere 30 % Schwierigkeiten in lediglich einem Bereich nennen, ist bei ungewollten Schwangerschaften eine Kumulation nachteiliger Lebensumstände typisch: Über zwei Drittel der ungewollt Schwangeren verweisen auf ungünstige Umstände in zwei oder mehr Lebensbereichen, lediglich 11 % nennen überhaupt keine Schwierigkeiten. Erfragt wurde hierbei die biografische Situation zum Zeitpunkt des Eintritts (und nicht während oder nach) der Schwangerschaft. Die schwierigen Lebensumstände sind mithin vielfach als ursächlich für die Ungewolltheit von Schwangerschaften zu betrachten.
Altersabhängige Lebenslagen
Wie oben gezeigt treten ungewollte Schwangerschaften über weite Phasen der fertilen Lebensphase in nahezu gleicher Häufigkeit ein. Was sich jedoch mit dem Alter ändert, sind die typischen schwierigen biografischen Situationen der ungewollt Schwangeren. Je jünger Frauen bei ungewollten Schwangerschaften sind, desto verbreiteter sind schwierige Lebensumstände. Dies betrifft in besonderer Weise die bei jungen Frauen vielfach noch nicht umfassend erfolgte berufliche Etablierung, also etwa die noch nicht abgeschlossene Ausbildung, aber auch berufliche und finanzielle Unsicherheiten in der Berufseinstiegsphase sowie Hürden bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch die Partnerschaften sind bei jüngeren Frauen oft noch nicht ausreichend konsolidiert, um eine verlässliche Grundlage für eine Familiengründung zu bieten. Zudem sind bei jüngeren Frauen die Selbsteinschätzung, zu jung und unreif für Kinder zu sein, oder auch eine unzureichende Wohnsituation stärker verbreitet. Entsprechend zeigt sich insbesondere bei jüngeren Frauen häufiger eine Kumulation schwieriger Lebensumstände.
Gesundheitliche Bedenken haben bei in höherem Alter ungewollt schwanger gewordenen Frauen – sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf das ungeborene Kind – eine deutlich größere Bedeutung als bei jüngeren Frauen. Bei ungewollt Schwangeren im Alter von 35 Jahren oder mehr verweisen über 60 % auf ein eingeschränktes Wohlbefinden oder gesundheitliche Bedenken.
Berufliche und finanzielle Lebensumstände, darunter insbesondere Hürden bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, werden aber auch bei über 30-jährigen ungewollt Schwangeren noch von in etwa der Hälfte der Fälle als schwierige Rahmenbedingungen der Schwangerschaft angeführt. Jenseits schwieriger Lebenssituationen wird mit steigendem Alter der Umstand, dass die Familienplanung bereits abgeschlossen und die gewünschte Familiengröße bereits erreicht ist, als Hintergrund der ungewollten Schwangerschaft zunehmend relevant. Bei ungewollt Schwangeren von 30 bis unter 35 trifft dies auf knapp die Hälfte (48 %), im Alter ab 35 bereits auf 71 % der ungewollten Schwangerschaften zu.
Ungewollt Schwangere nutzen Beratungsangebot
Schwangerschafts- und Familienberatungsstellen bilden einen wichtigen Pfeiler der Unterstützung Schwangerer. Wie die »frauen leben 3«-Daten eindrücklich zeigen, werden Beratungseinrichtungen besonders häufig von Frauen aufgesucht, die zum ersten Mal schwanger sind oder sich in schwierigen Lebenssituationen befinden – und bei denen mithin von einem höheren Beratungsbedarf ausgegangen werden kann. Beratungen zu letztlich abgebrochenen Schwangerschaften sind in der hier dargestellten Auswertung nicht berücksichtigt, da bei Schwangerschaftsabbrüchen außerhalb von Indikationsregelungen die Beratung ohnehin obligatorisch ist. Zudem ist die Auswertung auf Schwangerschaften ab dem Jahr 2007 eingegrenzt.
Insgesamt wurden bei 13 % aller letztlich zu Geburten führenden Schwangerschaften Beratungsstellen aufgesucht. Bei Schwangerschaften zum ersten Kind lag die Inanspruchnahme mit insgesamt 18 % signifikant höher. Schwangerschafts- und Familienberatungsstellen werden zudem umso häufiger genutzt, je stärker die persönliche Situation während der Schwangerschaft durch eine Kumulation schwieriger Lebensumstände gekennzeichnet ist. Bei schwierigen Umständen in drei Lebensbereichen nutzten 26 % der Schwangeren Angebote von Schwangerschafts- und Familienberatungsstellen. Von besonders belasteten Schwangeren, bei denen in allen vier erhobenen Lebensbereichen schwierige Umstände kumulierten, suchten 44 % Beratungsstellen auf.
Bei ausdrücklich ungewollten Schwangerschaften wurden die Beratungsstellen von 35 % der Frauen und damit besonders häufig aufgesucht. Sofern dies die erste ausgetragene Schwangerschaft war, wurden die Beratungsangebote in fast der Hälfte der Fälle (49 %) in Anspruch genommen. Auch bei Schwangerschaften, bei denen die Befragte zwiegespalten war oder die erst zu einem späteren Zeitpunkt gewollt waren, haben die Frauen Beratung überdurchschnittlich häufig genutzt.
Nachgefragte Beratungsinhalte waren bei ungewollten und unbeabsichtigten Schwangerschaften am häufigsten Informationen zu Hilfeangeboten in finanziellen Notlagen, zum Elterngeld und zu weiteren finanziellen Fragen, ferner auch zu persönlichen Problemen. Eine Schwangerschaftskonfliktberatung nach § 219 StGB wurde von etwas über einem Viertel der ungewollt Schwangeren in Anspruch genommen, die eine Beratung besuchten und die Schwangerschaft letztlich ausgetragen haben.
Auch wenn keine tiefergehenden Fragen zur Einschätzung des Beratungsangebots erhoben wurden, zeigen diese Ergebnisse, dass mit den Schwangerschafts- und Familienberatungsstellen ein passgenaues Angebot für Schwangere mit besonders dringlichem Beratungsbedarf besteht – und auch, dass die Erreichung dieser Zielgruppen grundsätzlich gelingt.
Literatur
Berichte und weitere Materialien zur Studie »frauen leben 3« stehen im BZgA-Internetportal sexualaufklaerung.de unter dem Forschungsfeld »Familienplanung im Lebenslauf« als Downloads zur Verfügung (https://www.sexualaufklaerung.de/forschung/forschungsfelder/familienplanung-im-lebenslauf/).
Alle Links und Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Zitation
Knittel, T., & Olejniczak, L. (2023). Ungewollte Schwangerschaften im Lebenslauf – Ergebnisse der Studie »frauen leben 3«, FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 21–27.
Veröffentlichungsdatum
Tilmann Knittel, Soziologe M.A., ist wissenschaftlicher Gesch.ftsführer des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts zu Geschlechterfragen Freiburg (SoFFI F.) im Forschungs- und Innovationsverbund an der Evangelischen Hochschule Freiburg.
Kontakt:
tilmann.knittel(at)eh-freiburg.de
Laura Olejniczak, Soziologin M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim SozialwissenschaftlichenForschungsinstitut zu Geschlechterfragen (SoFFI F.) und forscht u. a. zur Stigmatisierung von Frauen mit Schwangerschaftsabbrüchen.
Kontakt:
laura.olejniczak(at)eh-freiburg.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Geschlechterrollen, Hausarbeit, Paarkonflikte. Ein erster Blick in „FReDA – das familiendemografische Panel"
- Die Sicht der Eltern auf die Sexualaufklärung ihrer Kinder
- Ungewollte Schwangerschaften im Lebenslauf – Ergebnisse der Studie „frauen leben 3“
- Reproduktionspolitik im Ländervergleich: Eine neue internationale Datenbank
- Pioneering Change: ANSER's Impact Linking Research and Policy on Sexual and Reproductive Health
- Online-Videos zum Schwangerschaftsabbruch: Anbieter, Botschaften und Publikumsreaktionen
- KisS: Ein Programm zur Vermeidung sexueller Aggression bei jungen Erwachsenen
- Sexualisierte Gewalt in der Jugendphase − ein Vergleich dreier repräsentativer Studien
- „Wie geht’s euch?“ Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*
- Erfahrungen mit §219-Beratung per Telefon oder Video. Sichtweisen von Klientinnen
- Relevanz der sexuellen Rechte in der familiären und schulischen Sexualaufklärung der Schweiz
- Schulische Sexualerziehung aus Adressat*innenperspektive
- Erschwerter Zugang zu Verhütung in den Asylzentren: Perspektiven von geflüchteten Frauen in der Schweiz
- Die EMSA-Studie – Erstes Mal, Menstruation und Schwangerschaftsabbruch in Sozialen Medien
- Sexualaufklärung in der Grundschule. Eine Lehrkräftebefragung im Mixed Methods-Design
- Das EU-Projekt »PERCH«: Gemeinsam gegen HPV-bedingten Krebs
- Erasmus+ Projekt: Sexualaufklärung für Jugendliche und junge Erwachsene mit Fluchthintergrund
- »Safe Clubs« − Ein Transferprojekt zur Prävention sexualisierter Gewalt im Sport
- Unheilbar queer? Konversionsbehandlungen in Deutschland erforschen – eine Annäherung
- Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag (LeSuBiA)
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