Umgang mit sexuellem (grenzüberschreitendem) Verhalten von Kindern und Jugendlichen
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Ein Morgen auf dem Spielplatz …
In einem unbeobachteten Moment haben drei Jungen (13 Jahre) einigen spielenden Kindern (6 Jahre) ihr Geschlechts teil gezeigt. Sie hielten das für einen Spaß, die Kinder offensichtlich nicht.
Abb. 1 Ein Morgen auf dem Spielplatz …
Kennen Sie das auch?
Jede pädagogische Fachkraft erlebt vergleichbare Situationen und muss dann schnell beurteilen können, ob und in welchem Maße das Verhalten dieser Kinder grenzüberschreitend ist und welche Reaktion hier passend ist. Bei der Beurteilung von sexuellem Verhalten von Kindern und Jugendlichen spielen einige essenzielle Überlegungen eine Rolle. In diesem Beispiel ist deutlich, dass man das Verhalten anders beurteilen wird, wenn die Kinder furchtbar erschrocken sind oder wenn die Jungen eine Erektion haben oder das Verhalten schon häufiger gezeigt haben. Auch die Vorgeschichte, Persönlichkeit und das Verhalten der Jungen werden bei der Beurteilung und dem Blick auf das Geschehen eine Rolle spielen: Müssen wir anders beurteilen, wenn die Jungen eine leichte geistige Behinderung oder eine Form von Autismus haben? Oder wenn sie selbst schon mal Opfer eines Missbrauchs geworden sind? Oder wenn sie schon einmal Missbrauch verübt haben? Bewerten wir ihr Verhalten anders, wenn sie aus Kurdistan oder Ghana stammen? Außerdem kann ein und derselbe Vorfall zu sehr unterschiedlichen Reaktionen führen. Sie halten vielleicht ein Herangehen auf der Basis von Absprachen und Gesprächen für richtig, aber die Eltern der Kinder erwarten eine Sanktion. Wie geht man damit um?
Welche Hilfe kann Ihnen das Flaggensystem bieten?
Im Mittelpunkt des Sensoa2-Flaggensystems steht, sexuelles (grenzüberschreitendes) Verhalten von Kindern und Jugendlichen (0 bis 18 Jahre) pädagogisch adäquat einzuordnen, zu thematisieren und darauf zu reagieren. Das Sensoa-Flaggensystem (Frans/Frank 2010 und 2014) wurde entwickelt, um pädagogisches Handeln nachhaltig zu verbessern.
Sechs Kriterien, vier Flaggen und eine Entwicklungstabelle stehen für das Einordnen des Verhaltens zur Verfügung. Die Entwicklungstabelle ist eine Übersicht, in der Beispiele für sexuelle Ausdrucksformen und sexuelles Verhalten in Alterskategorien (0 bis 18 Jahre) be schrieben werden. Vier Flaggen zeigen an, dass ein Kontinu um von akzeptablem über leicht bis sehr schwerwiegend grenzüberschreitendem sexuellem Verhalten besteht. Auf der Grundlage von sechs Kriterien zeigt die Entwicklungstabelle Beispiele für akzeptables Verhalten (grüne Flagge), leicht grenzüberschreitendes Verhalten (gelbe Flagge), schwerwiegend grenzüberschreitendes Verhalten (rote Flagge) oder sehr schwerwiegend grenzüberschreitendes Verhalten (schwarze Flagge).
Mit den Flaggen ist eine pädagogische Reaktion verbunden. Das Sensoa-Flaggensystem wurde zunächst vor allem entwickelt, um Fachkräften in der pädagogischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen konkrete Unterstützung zu geben. Es bietet ihnen Richtlinien für das korrekte Beurteilen von sexuellem (grenzüberschreitendem) Verhalten und für pädagogisch adäquates Handeln. Daneben helfen Zeichnungen und Fallbeispiele pädagogischen Fachkräften, sexuelles (grenzüberschreitendes) Verhalten unter und gegenüber Kindern und Jugendlichen zu beurteilen und zu thematisieren. Ein Steuerrad gibt die sechs Kriterien mit je einem Symbol an und kann als visuelles Hilfsmittel bei der Arbeit mit dem Flaggensystem eingesetzt werden. Der Gedanke ist, selbst das Steuer in der Hand zu halten und Selbststeuerung bei Kindern und Jugendlichen zu fördern.
Eine Toolbox für das Flaggensystem zeigt unter anderem, wie man methodisch als Team vorgehen kann. Hier sind eine Vielzahl von Übungen für Teams und Methoden aufgenommen, um mit der Zielgruppe ins Thema einzusteigen. Die Methodik wurde inzwischen in einigen Präventionsangeboten für Kinder und Jugendliche ausgearbeitet wie z.B. »Oké. Spel over seksueel grensoverschrijdend gedrag« [»OK. Spiel zu sexuell grenzüberschreitendem Verhalten«] (Jong/Van Zin 2013), »Tussen de Lakens – Module Seksueel grensoverschrijdend gedrag« [»Zwischen den Laken – Modul zu sexuell grenzüberschreitendem Verhalten«] (Sensoa 2013), »Over de Grens« [Über die Grenze] (Sensoa 2012), die Peer-Education-Methode »Be A Man! Liefde, relaties en seks: wat is OK?« [»Sei ein Mann! Liebe, Beziehung und Sex: Was ist in Ordnung?«] (Movisie 2013) und auf www.WeCanYoung.nl.
Die Beurteilungskriterien
Bei der Einordnung von sexuellem Verhalten basiert das Sensoa-Flaggensystem auf einigen fundamentalen Kriterien oder gesellschaftlichen Werten, die auch Rechten, Gesetzen, gesellschaftlichen Konventionen u.Ä. zugrunde liegen und deren Ausgangspunkt es ist, dass sexuelle Selbstbestimmung ein Recht ist, aber dass sexuelles Verhalten weder der Person selbst noch anderen Betroffenen Schaden zufügen darf. Es wird hierbei stets von der Person ausgegangen, die für das Verhalten verantwortlich ist.
Auf der Grundlage von sechs Kriterien wird dem Verhalten eine Flagge zugewiesen. Wenn alle Kriterien okay sind (und nur dann), erhält das Verhalten eine grüne Flagge. Abhängig von der Anzahl der Kriterien, die nicht okay sind, und der Schwere der Überschreitung bekommt das Verhalten eine gelbe, rote oder schwarze Flagge zugewiesen.
Wechselseitige Zustimmung (Mutual Consent)
Ein erstes Kriterium, um sexuell grenzüberschreitendes Verhalten zu kennzeichnen, ist wechselseitige Zustimmung (Konsens). Das bedeutet, dass beide Parteien mit vollem Bewusstsein einwilligen müssen. Wenn eine Partei die andere im Ungewissen lässt, irreführt, täuscht oder über rumpelt, kann man also nicht von Zustimmung sprechen.
Freiwilligkeit (Voluntary Engagement)
Freiwilligkeit liegt vor, wenn ein Kind/Jugendlicher sexuelle Handlungen vornimmt oder zulässt, die er/sie selbst will. Wenn er/sie einen anderen zwingt, überredet oder unter Druck setzt, liegt fehlende Freiwilligkeit vor. Es geht dabei nicht nur um erzwungenen Geschlechtsverkehr, sondern auch um einen erzwungenen Zungenkuss oder um eine andere sexuelle Handlung, die nicht gewollt ist. Hierunter werden auch subtile Formen von Zwang und Druck verstanden, wie etwa, jemanden zum Sex zu überreden, oder Manipulationen, die Jugendliche sich erst später bewusst machen können. Unfreiwilligkeit kann also von Verführung, Belohnung und Versprechen bis zu Bedrohung, Erpressung und Gewalt reichen.
Gleichwertigkeit (Equality)
»Equality« wird als Situation von zwei Beteiligten definiert, die mit dem gleichen Grad an Macht in einer Beziehung operieren, ohne von dem anderen kontrolliert oder gezwungen zu werden. Das bedeutet, dass ein gewisses Gleichgewicht zwischen beiden Parteien hinsichtlich u.a. Alter, Wissen, Intelligenz, Ansehen, Macht, Lebenserfahrung, Reife und Status bestehen muss. Bei einer sexuellen Interaktion müssen beide Parteien ebenbürtig sein, sodass einer den anderen nicht beherrscht. Die Möglichkeit eines Missbrauchs von Macht und Dominanz – auch unbewusst – ist immer gegeben. Die Frage ist hier, wann mangelnde Gleichwertigkeit problematisch wird.
Zur Entwicklung oder zum Alter passend [Appropriate for their development or age]
Ein zum Alter oder zur Entwicklung passendes Verhalten bedeutet, dass das Kind oder der Jugendliche ein sexuelles Verhalten zeigt, das in seinem Alter oder bei seiner Entwicklung erwartet werden kann. Dieses Verhalten wird durch das illustriert, was diesbezüglich in der Forschung bekannt und in der Entwicklungstabelle zusammengefasst ist. Bei Entwicklung denken wir an einen schrittweisen Prozess, bei dem Kinder und Jugendliche immer besser in der Lage sind, ein komplexes und sozial akzeptiertes Verhalten zu zeigen. Dieser Prozess verläuft über mehrere Phasen, die aufeinander aufbauen.
In den Kontext passend [Appropriate for the context]
Regeln können sich je nach Kontext ändern. Der schulische Kontext wird zum Beispiel in der Regel weniger sexuelles Verhalten zulassen als der häusliche Kontext. Ein Verhalten ist anstößig, wenn es andere Menschen schockiert, vor den Kopf stößt oder beleidigt. Deshalb ist der Kontext von Bedeutung, in dem sich sexuelles Verhalten abspielt. In einem öffentlichen Raum, in dem auch andere Menschen anwesend sind, gelten Regeln, die das Entblößen von Geschlechtsteilen und Brüsten und das Zeigen von explizit sexuellem Verhalten (Gebärden, Worte, Bewegungen, Zeichnungen) verbieten. Geschieht dieses Verhalten im intimen Kreis oder in aller Privatheit, wird niemand gestört und ist keine pädagogische Reaktion notwendig.
Selbstachtung [Self-respect]
Mit dem Kriterium Selbstachtung meinen wir, dass es wichtig ist, dass das Kind oder der Jugendliche sich selbst keinen Schaden zufügt. Sexuelles Verhalten kann für das Kind oder den Jugendlichen selbst auf physischer, psychologischer oder sozialer Ebene schädlich sein. Das Kind oder der Jugendliche kann sich selbst erniedrigen, Schmerzen zufü gen, in Risikosituationen begeben, ohne die eigenen Wünsche und Grenzen gut zu kennen. Der Jugendliche kann ungeschützten Sex haben und sich Gefahren und Missbrauch aussetzen.
Auch durch das Überschreiten der Grenzen anderer können Jugendliche sich selbst Schaden zufügen: Sie könnten angezeigt werden oder ihren Beziehungen und ihrem Ansehen schaden.
Tab. 1 Übersicht Merkmale pro Flagge
Einordnen und Beurteilen von Verhalten
Bei der Konfrontation mit einer Situation eines möglichen sexuell grenzüberschreitenden Verhaltens ist die erste Frage: Was ist genau passiert? Es gilt, so gut wie möglich herauszufinden, was sich ereignet hat.
Verhalten beschreiben und benennen
Das objektive Beschreiben eines beobachteten Verhaltens ist schwierig. Wir sind schnell geneigt, das Verhalten von Kindern zu interpretieren. Dabei ordnen wir dem Verhalten eine mögliche Ursache zu, ohne zu prüfen, ob sie tatsächlich Kern des Problems ist. Es ist auch schwierig, das Verhalten zu beschreiben, ohne ein Werturteil auszusprechen. Wir finden ein Verhalten angenehm oder unangenehm. Derartige Aussagen sind subjektiv und erschweren es, an den Kern des Verhaltens zu gelangen. Die Erlebniswelt der pädagogischen Fachkräfte spielt hierbei eine große Rolle.
Bei den Fakten bleiben
Wenn es um Kinder oder Jugendliche geht, die aufgrund ihres jungen Alters oder eines niedrigen Entwicklungsniveaus selbst nicht sprechen können, ist es wichtig, dennoch möglichst viele Informationen über das Geschehene zu gewinnen. Versuchen Sie, ein möglichst klares Bild zu bekommen, ohne zu recherchieren. Versuchen Sie, möglichst nah an den Fakten zu bleiben.
Gut hinsehen und befragen
Um eine Situation gut beurteilen zu können, ist eine weitere Konkretisierung der Kriterien hilfreich. Das Handbuch enthält Listen mit Beurteilungskriterien sowie Fragen, die eingesetzt werden können, um mehr Klarheit zu schaffen,
zum Beispiel: »Hast du hierbei ein gutes Gefühl? Was würde passieren, wenn du ‚Nein‘ sagen würdest?«
Die Kriterien handhaben
Sie beurteilen stets das Verhalten, nicht die Person selbst. Sie gehen bei der Beurteilung des Verhaltens von der Person aus, die initiiert und/oder hauptverantwortlich ist. Wenn Sie auch das Verhalten der anderen betroffenen Kinder und Jugend lichen beurteilen, kann es sein, dass Sie dabei zu unter schied lichen Beurteilungen kommen. Sie gehen für alle beteiligten Personen alle Kriterien durch: Besteht gegenseitige Zustimmung, besteht Freiwilligkeit usw.
Die Flagge zuordnen
Nur wenn alle Kriterien okay sind, wird die grüne Flagge zugeordnet. Das Maß der Grenzüberschreitung bestimmt die Farbe der Flagge: gelb, rot oder schwarz. Dabei müssen vor allem die Folgen, die das Verhalten nach sich zieht, berücksichtigt werden.
Daneben gibt es weitere Faktoren, die als abschwächende oder als erschwerende Faktoren gelten können, wie Wiederholung, Dauer, Frequenz und das Maß der Intimität des sexuellen Verhaltens. Auch die Frage, inwieweit die Person, die das Verhalten initiiert, wissen müsste, welche Folgen es für den anderen haben kann, geht in die Beurteilung ein. Wenn dem Urheber diese Einschätzung nicht möglich ist, fällt die Beurteilung milder aus.
Anwendung an unserem Beispiel
Auf die zu Beginn vorgestellte Situation bezogen, kann das Verhalten der 13-jährigen Jungen folgendermaßen bewertet werden:
- Zustimmung: + – okay (gelb): Die Jungen wollen es, aber die Kinder sicher nicht.
- Freiwillig: + – okay (gelb): Es könnte eine Form von Gruppendruck vorliegen. Die Kinder haben kaum eine Wahl, aber es gibt wenig sichtbaren Zwang.
- Gleichwertigkeit: – okay (rot): Das Entwicklungsalter liegt zu weit auseinander.
- Zur Entwicklung passend: + – okay (gelb): Es passt nicht ganz zu ihrem Alter.
- Kontext: – okay (rot): Es handelt sich hier um einen öffentlichen Ort.
- Selbstachtung: + – okay (gelb): Für die Jungen besteht das Risiko nachteiliger Folgen, wenn sie erwischt werden.
Auf der Grundlage dieser Kriterien könnte man die rote oder gelbe Flagge wählen. Es ist jedoch das erste Mal, es haben keine Berührungen stattgefunden (hands off), die Kinder haben keine Angst erfahren und das Bewusstsein der Jungen ist (vielleicht) beschränkt. Wir wählen hier deshalb die gelbe Flagge.
Wie reagieren Sie pädagogisch auf sexuelles Verhalten?
Durch die Art und Weise der Reaktion wollen Sie als pädagogische Fachkraft Problemverhalten vermindern und gesundes und soziales Verhalten stimulieren. Wir beginnen mit einer sofortigen, unmittelbaren Reaktion, die sich aus der zugeordneten Flagge ergibt. Daneben ist es wichtig, langfristig zu denken. Welche allgemeinen pädagogischen Grundstrategien sind notwendig, um »gesundes« sexuelles Verhalten und Resilienz zu vermitteln und bei sexuell grenzüberschreitendem Verhalten präventiv oder reaktiv zu handeln?
Die folgende Übersicht zeigt an unserem Beispiel die unterschiedlichen Schritte, die mit der Sofortreaktion eingeleitet werden können. Die Übersicht ist als Richtschnur aufgebaut, der schrittweise gefolgt werden kann:
- Benennen: Ihr habt kleinen Kindern euren Penis gezeigt.
- Reflexion: Wie seht ihr das selbst? Habt ihr gesehen, wie die Kinder reagiert haben?
- Was ist okay? Witze machen ist okay. Den Penis untereinander anschauen ist okay.
- Nicht okay: Nicht gegenüber kleinen Kindern, denn sie können sich erschrecken oder wollen das nicht. Nicht in der Öffentlichkeit, macht das irgendwo privat.
- Absprachen: Können wir hierzu Absprachen treffen?
Evaluierung und Erfahrungen
Es haben inzwischen schon einige Evaluierungen von diversen Aspekten zum Einsatz und zur Implementierung des Flaggensystems in den Niederlanden und in Belgien stattgefunden. 2012 wurde eine Evaluierung von der Universität Gent (Van Hevele 2012) und Moncarey/Vandevelde (2014) durchgeführt. Auch in den Niederlanden wurde 2015 und 2016 von einer Arbeitsgemeinschaft eine Evaluierung zu der Implementierung in Kinder- und Jugendheimen durchgeführt (Lijster-Van Kampen et al. 2017).
Die Ergebnisse zeigen, dass die Methode und die Theorie des Flaggensystems breit angewendet werden, wenn ein Team eine Schulung zu der Methodik erhalten hat. Die Fachkräfte geben an, mehr Kenntnisse über sexuelle Entwicklung, die Folgen von sexualisierter Gewalt und die Ursachen für sexuell grenzüberschreitendes Verhalten zu haben. Die Fachkräfte fühlen sich besser gerüstet, Verhaltensweisen zu beurteilen und sie mit Jugendlichen und innerhalb ihres Teams zu thematisieren. Sie geben an, eine höhere persönliche Effektivität und eine Veränderung hin zu einer professionelleren Haltung zu erleben, um mit Jugendlichen über sexuelles und grenzüberschreitendes Verhalten zu sprechen. Mehr Fachkräfte geben an, zu wissen, wie auf eine bestimmte Situation zu reagieren ist; Unsicherheiten bezüglich der pädagogischen Reaktion verringern sich.
Es wurden Veränderungen der Regeln und der Konzepte von Einrichtungen, der Beziehungen zwischen Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften und zwischen den Fachkräften untereinander beobachtet. In den meisten Einrichtungen hat sich die Aufmerksamkeit für die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen erhöht.
Die Jugendlichen selbst beurteilen die Zeichnungen und die Erläuterungen zu Kriterien und Flaggen positiv und hilfreich und möchten gern mehr darüber wissen.
Faktoren, die die Implementierung unterstützen, sind das Gefühl von »ownership«, die Anpassungsfähigkeit des Instruments, die praktische Einsetzbarkeit, der große Un ab hängigkeitsgrad und die Integration in das allgemeine pädagogische Konzept.
Tab. 2 Übersicht Richtschnur für Handeln
»Good practices« in den Niederlanden und Belgien
Die Niederlande und Belgien (Flandern) arbeiten seit 2010 an der Verbreitung und Implementierung, und es hat schon einige sektorspezifische Weiterentwicklungen gegeben. Ein erstes Grundlagenbuch erschien 2010 (Überarbeitungen 2014 und 2016).
Eine erste abgeleitete Methodik wurde zusammen mit Jugendhilfeeinrichtungen in Flandern (Neyens/Frans 2011) und eine zweite kurz danach mit Sporteinrichtungen in Flandern (Van de Vivere/Frans 2013) entwickelt. Die Arbeitsweise bestand jeweils darin, mit einer Arbeitsgruppe mit Vertretern der Institutionen, also mit Fachkräften und Amtspersonen, eine Reihe real erlebter Situationen auszusuchen, nach den Kriterien kollektiv zu beurteilen und anschließend zeichnen zu lassen. Eine Version für den Bildungssektor folgte später (2016).3 Durch die Tatsache, dass es angepasste eigene Versionen gibt, die auf wiedererkennbaren Fallbeispielen aufbauen, ist das Gefühl der Identifikation (»unser Flaggensystem«) groß. Die Einrichtungen waren über Ausbildungen und Schulungstage auch selbst für die Herstellung, Verbreitung und Implementierung verantwortlich, wodurch in kurzer Zeit viele pädagogische Fachkräfte erreicht werden konnten.
2016 erschien in Zusammenarbeit mit Movisie4 und Rutgers5 »Buiten de Lijnen« (»Über die Grenzen«; Frans, E. et al. 2016), eine Weiterentwicklung und Vertiefung für Kinder mit speziellen Bedarfen. Aspekte wie Gender und Kultur, Behinderung und Trauma werden dort vertieft. Insgesamt umfasst das Material nunmehr rund 150 Situations zeich nungen.
Das Flaggensystem wurde inzwischen in Ausbildungscurricula angehender pädagogischer Fachkräfte aufgenommen und ist ein beliebtes Thema von Studien- und Abschlussarbeiten.
In den Niederlanden arbeitet Sensoa mit Movisie und Rutgers zusammen. Movisie ist für die nationale, Rutgers für die internationale Implementierung des Flaggensystems verantwortlich. Movisie arbeitet in den Niederlanden mit einem Lizenzsystem als Implementierungsstrategie und schult in diesem Rahmen Fachkräfte in der Jugendhilfe, im Bildungs sektor und im Jugendschutz etc. Ein wichtiges Element dieser Implementierungsstrategie ist die Benennung des Flaggensystems als »protected intervention«. Dies bedeutet, dass Movisie die Qualität der Intervention und die An wen dung des Systems kontinuierlich kontrolliert. Hier bei werden ein von Sensoa entwickeltes Basistraining zur Anwendung des Flaggensystems, ein »Training-of-Trainers« (ToT) sowie ein E-Learning Modul angeboten. Fachkräfte, die das sechs tägige ToT-Programm durchlaufen haben, können die Inhalte des Flaggensystems innerhalb ihrer Institutionen an andere Fachkräfte weitergeben. Dies soll eine nachhaltige Verankerung des Systems in Institutionen ermöglichen.
Zur Förderung des internationalen Austauschs zum Flaggensystem hat Rutgers eine englische Übersetzung sowie eine Webseite mit weiterführenden Materialen und Vernetzungsmöglichkeiten veröffentlicht (www.flagsystem.org). Eine Gruppe internationaler Expertinnen und Experten trifft sich jährlich zum Erfahrungsaustausch.
Fussnoten
1 Der Beitrag wurde aus dem Niederländischen übersetzt.
2 www.sensoa.be
3 Zur Implementieung im schulischen Kontext s. de Wilde/Frans 2016.
4 Movisie ist ein niederländisches Kompetenzentrum im Sozialbereich. Expertinnen und Experten entwickeln, sammeln und verteilen anwendbares Wissen und Lösungen für soziale Fragen (www.movisie.nl).
5 Rutgers ist ein internationales Kompetenzzentrum für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (SRHR) mit Sitz in den Niederlanden (www.rutgers.international).
Veröffentlichungsdatum
Erika Frans
Erika Frans ist Expertin für sexuelle Gesundheit und Prävention des sexuellen Missbrauchs bei Sensoa Gent, Belgien.
Kontakt: erika.frans(at)sensoa.be
Sanna Maris
Sanna Maris, Consultant bei Rutgers Utrecht, Niederlande, ist Expertin für Sexualerziehung von Jugendlichen mit speziellen Bedarfen und für die internationale Implementierung des Sensoa-Flaggensystems verantwortlich.
Kontakt: s.maris(at)rutgers.nl
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
- Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
- Prävention sexualisierter Gewalt als Aufgabe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
- Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und betroffenensensible Prävention
- Erfahrungswissen in der Prävention von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend – Qualität lässt sich beschreiben
- Hinsehen, Handeln und Schützen mit Ben und Stella
- Jugendliche und ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt
- Sexuelle Gewalterfahrungen von Schülerinnen und Schülern und sexuelle Gewalt als Thema in der Schule
- Evaluation der bundesweiten Initiative Trau dich! zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
- Umgang mit sexuellem (grenzüberschreitendem) Verhalten von Kindern und Jugendlichen
- Die BKSF stellt sich vor
- Infothek - Ausgabe 02/2018