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FORUM 2–2022

Teach LOVE: Psychologische Weiterbildung mit Herz und Expertise

»Teach LOVE« ist ein psychologisches Wissenstransferprojekt, entwickelt von Wissenschaftler*innen, Psycholog*innen, Therapeut*innen und Hebammen für Lehrer*innen, Lehramtsstudierende und Menschen in sozialen Berufen. Das Projekt ist im Transferbereich am Institut für Subjektivitäts- und Praxisforschung und im Forschungsbereich an der Europauniversität Flensburg angesiedelt.

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Wissenschaftlich fundierte Aus- und Weiterbildung zur sexuellen Bildung

»Teach LOVE« ist ein Projekt zur sexuellen Bildung und Beziehungskompetenz. Es basiert auf wissenschaftlichen Erhebungen zu aktuellen und praktischen Bedarfen an Schulen und von Lehrer*innen. Darauf basierend werden Kurs und Konzept von interdisziplinär arbeitenden Wissen schaftler*innen aus der Psychologie, Soziologie, Pädagogik und von Therapeut*innen, Hebammen, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen aus der Praxis entwickelt, implementiert und fortlaufend evaluiert.
Bei den Kursen handelt es sich um ein phasenübergrei fendes psychologisches Konzept für Lehrer*innen, Lehramts studierende und Menschen in sozialen Berufen. Daneben zeigt sich in der Praxis, dass auch Eltern und andere Berufs gruppen teilnehmen. Die Kurse sind modular aufgebaut und die Weiterbildung wird vor allem als asynchrones, digitales Format angeboten. Es gibt schwerpunktmäßig VideoInput von Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis, Literatur zur Vertiefung, Reflexionsaufgaben und Wissenstransfer in Form von Material zur Anwendung, einem LiveChat für Rückfragen sowie Gruppentreffen in digitaler und analoger Präsenz. Für eine zertifizierte Teilnahme werden Lernerfolge durch MultipleChoiceAufgaben begleitet und am Ende des Kurses wird ein Portfolio erstellt.
Lerntheoretisch werden drei Ebenen in der Weiterbildung integriert. Zunächst werden Teilnehmende auf den aktuellen Wissensstand mit verschiedenen paradigmatischen Perspekti ven geholt. Begleitend wird ein reflexives Journal entlang von Fragen zum Selbst, eigenen Erfahrungen und Einstellungen geführt, bevor sich das Projekt dann dem Wissenstransfer anhand echter Fallbeispiele zuwendet.
Thematisch geht es auch um physiologische Grundlagen, diverse Darstellungen von Geschlechtern und Körpern, Körperfunktionen und Organe. Vor allem aber werden promi nente, aktuelle und komplexe Themen fokussiert, die sonst oftmals nur wissenschaftlich oder im Einzelfall therapeutisch oder supervisorisch behandelt werden. Sie werden mit diesen Kursen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Dabei geht es unter anderem um Effekte und Umgang mit OnlineDating, parasoziale Beziehungen, also etwa den un gleich einseitigen Beziehungen zwischen Star oder Influencer und den Followern, Social Media, Pornokonsum, Internet sucht, Interkulturalität, aber auch um (natürliche) Geburten, Familiewerden, PatchworkDynamiken, alternative Bezie hungs und Familienkonstellationen, LGBTQIA+, vulnerable Männlichkeit, Behinderung, sexuelle Gewalt und auch um Resilienz und Beziehungskompetenz.
Neben den inhaltlichen Aspekten leistet das Projekt CommunityArbeit für Rückhalt und Gemeinschaft der Teil nehmenden mit dem Ziel erhöhter Resilienz. Ab solvent*innen erhalten Handouts mit wissenschaftlichen Belegen und Argumenten und können sich auf das Projekt und die Personen dahinter berufen oder auch direkt auf den Kontakt verweisen, um so bei Konfliktlösungen unter stützt zu werden.
Darüber hinaus gibt es supervidierte Gruppen, Events, vertiefende Weiterbildungen, Workshops und SocialMe diaKanäle, über die »Teach LOVER« mit dem Projekt und Dozierenden in Kontakt bleiben und fortlaufend Fragen und Probleme besprechen können.
Insgesamt wird Wert darauf gelegt, eine Atmosphäre zu schaffen, in der über alles ideologienübergreifend mit Zu versicht und Freude gesprochen werden kann. Es ist ein aus drückliches Anliegen, Gedanken und Äußerungen nicht als endgültig, sondern fluide und in Entwicklung zu sehen und einen sicheren Raum zu bieten, um auszusprechen, was von vielen als politisch risikoreich empfunden wird. Nach außen arbeitet das Team mit den Medien zusammen und greift nach Möglichkeit korrigierend in den öffentlichen Diskurs ein, wo ansonsten oftmals Mythen, Panik und Abwertungen verbreitet sind.

Datenbasierte Problemlage

Begründet und begleitet wird der Wissenstransfer von einem deutschlandweiten, aber auf SchleswigHolstein, MecklenburgVorpommern und Hamburg fokussierten partizipativen Forschungsprojekt.1 Gemeinsam mit Lehramts studierenden werden laufend Daten in Form von Unterrichts beobachtungen, Materialanalysen und Interviews sowie aus Fokusgruppen mit Lehrer*innen, Schüler*innen, Studieren den und Eltern erhoben.
Dabei zeichnet sich ein Bild unzureichender und un strukturierter sexueller (Aus und Weiter)Bildung ab, wie sie auch andere Studien belegen (u. a. Böhm, 2022; Drinck & Voss, 2021; 2022). Zahlenmäßig fühlen sich knapp 20 % der Lehrer*innen hinreichend ausgebildet und vorbereitet; die Mehrheit von 76 % fühlt sich überfordert.
Vor allem in den qualitativen Auswertungen wird deutlich, dass auch Lehrer*innen, die zunächst angaben, gut vor bereitet zu sein, bei vielen aktuellen Themen wie Maskulini tät, LGBTQIA+, Pornografie, OnlineDating und Social Media Wissenslücken haben oder Themen vermeiden, weil sie diese als ideologischmoralisch aufgeladen und politisch riskant einstufen. Dabei zeigt sich, dass Lehrer sich als Männer hier besonders betroffen fühlen. Lehrerinnen fühlen sich eher unwohl im eigenen Körper und von Fragen und Situationen provoziert. All dies führt in der Praxis, neben dem bekannten großen Schweigen (Blumenthal, 2014), zu vermeidenden Strategien und Überforderung, zum Beispiel bei missbräuch lichem Umgang mit sexuellen Inhalten und Sexting (Dekker et al., 2021).
In der Praxis erfolgt dann die Reduktion der sexuellen Bildung auf Gesundheit, Organe und Funktionen, ein Frageverbot oder das Sanktionieren von Jugendlichen für ihre Anliegen. Solche Strategien entstehen aus empfundener Not, dem Gefühl, alleingelassen zu werden, und dienen dem Schutz des Selbst. Sie sind nicht durch mangelnden Willen oder Motivation begründet. Ganz im Gegenteil: Lehrer*innen wie Lehramtsstudierende zeigen sich motiviert, engagiert und interessiert.
Die vielen bereits etablierten Weiterbildungsangebote werden bedauerlicherweise mitunter als wenig attraktiv oder als zu verkürzt und auf spezifische Themen reduziert wahrgenommen, sodass es eine Lücke zwischen Bildungs angebot und Wissensvermittlung zu geben scheint. Zudem stufen Lehrer*innen das zur Verfügung stehende Material als entweder veraltet, wenig ästhetisch, unrealistisch oder als ideologisch aufgeladen ein (Degen et al., 2022; Degen, 2023).
Versuchsweise werden Lehrinhalte mitunter über Social Media, vor allem TikTok und Instagram, eingeholt. Es liegen noch wenige Daten über die Wirkung dieser Art von Wissens vermittlung vor (Döring, 2022). In den Beobachtungen im Unterricht zeigt sich aber mitunter, dass das hier Gelernte häufig zu kurz gedacht und oberflächlich erscheint, wobei an dieser Stelle nicht entschieden werden kann, ob dies an den Medieninhalten oder der Lesart liegt. So wird mitunter auf Homophobie mit dem Verbot derselben reagiert, Medien nutzung schlicht zeitlich begrenzt und als externer Raum verhandelt und Körperakzeptanz und Inklusion über die Auf forderung gelehrt, sich selbst und andere mögen zu müssen. Psychologisch sind derlei Versuche wenig sinnvoll.
Drittanbieter wie das Kieler Institut Petze oder pro familia und deren Arbeit werden von Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen geschätzt. Daten und Erfahrungen weisen aber auch darauf hin, dass das Outsourcen in manchen Situationen nicht hinreichend ist. Wir wurden beispielsweise angerufen, als eine Lehrerin erfuhr, dass ein 16jähriges Mädchen einen Gangbang fürs Wochenende plante, an dem ihre Eltern verreisen sollten, und die Lehrerin schlicht nicht wusste, wer helfen kann oder wie die Rechtslage aussieht.
Die Daten zeigen, dass Schüler*innen die aufklärenden Personen mitunter für wenig glaubwürdig halten (Über legungen dazu auch bei Stein, 2022). Die vermittelnden Personen wirken auf sie manchmal zu alt, wenig kompetent, leicht zu verunsichern oder »aggressiv« (u. a. Fall 41, m, s. Fußnote 1). So sprachen die Jugendlichen ihnen mit unter eine eigene erfolgreiche Sexualität, Attraktivität oder Beziehungsfähigkeit ab. Inwiefern es sich dabei um Ab wehrreaktionen und Provokation handelt, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt und die Reichweite von derlei Ergebnissen nicht vertiefend diskutiert werden. So schwer dieses Thema aber ist, umso wichtiger erscheint es, hier Erkenntnisse zu gewinnen, wie solche Hürden bei der Vermittlung überwunden werden können und ein wert schätzender Umgang etabliert werden kann.
Schüler*innen zeigen, dass sie bereits viel Wissen aus ihren Erfahrungsräumen mitbringen und damit mitunter die vermittelnde Person überfordern können, was wiederum als verunsichernd wahrgenommen wird. Sie fordern explizit eine kompetente, sichere Haltung und Hilfestellung, um in (am bivalenten) Diskursen navigieren zu können (s. a. Sielert, 2021). Hier kann eine gelingende Vermittlung viel erreichen.
Ergänzend zum Forschungsstand zeigen die Daten, dass auch Familien mit muslimischem kulturellem Hintergrund mitunter hohe Erwartungen an die Schule als Ort der ge lungenen sexuellen Bildung herantragen. Eltern kommuni zieren aber auch, dass sie gegenüber Lehrpersonen und deren Qualifikation skeptisch sind. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass viele Er wachsene selbst noch keine aufgearbeitete und überblicken de, sortierte Haltung zu Sexualität, Beziehungen und Dis kursen eingenommen haben. Oftmals herrscht Unsicher heit und lückenhaftes Wissen zu aktuellen Kontexten und Herausforderungen. So wird mitunter an alten Narrativen festgehalten und Jugendliche werden gelehrt, sie könnten sich ruhig »alles trauen« (Fall 21, w), wobei es heute eher darum geht, in den Kontakt zur eigenen Lust (zurück) zu finden, zu merken, was man selbst möchte, wenn »alles geht« (Clement, 2019), und zu verstehen, dass Diskurse widersprüchlich sind und zwischen Liberalisierung und Remoralisierung schwanken. Zu kurz gegriffene Empfeh lungen können dann mithin ein Risiko für die Jugendlichen und Kinder sein. Viel eher könnte es zielführend sein, die Kontexte nicht zu vereinfachen, sondern – über kompetente und zuversichtliche Erwachsene und umfassende Bildung – Jugendlichen kompetente Entscheidungen zuzutrauen.

Evaluation

Die ExpostEvaluation (Döring & Bortz, 2016) der Kurse wird quantitativ in Form einer Umfrage, die deskriptiv ausgewertet wurde und zusätzlich qualitativ entlang problem zentrierter Interviews, die inhaltsanalytisch ausgewertet wurden (Mayring, 2015), durchgeführt. Neben basalen Einblicken, inwiefern Umfang, Verständnis und Bearbeitung passend und gelungen waren, zeigt sich, dass Lehrer*innen durchaus motiviert sind, umfangreiche Weiterbildungen zu absolvieren (30 Stunden und mehr in vier Monaten).
Neben einigen abwehrenden Reaktionen, wobei sich Personen durch den Fokus auf die eigene Person gestört gefühlt haben und ausdrücken, sie hätten lieber nur über die Perspektiven der Jugendlichen und Kinder gesprochen, zeigten sich vor allem Kompetenzerweiterung, Zuversicht und Lust auf mehr.
Anekdotisch kann berichtet werden, dass mehrere der insgesamt 210 Teilnehmenden die Kurse als Paarintervention und gemeinsam mit dem/der Partner*in absolviert haben. Ebenfalls anekdotisch ist ein Fall, bei dem sich eine Lehrerin aus SchleswigHolstein entgegen dem Willen der Schulleitung ihr Comingout als lesbische Frau zugetraut hat, was als Zeichen gewertet werden könnte, dass die Community und der Rückhalt eine positive und stärkende Wirkung haben. Insgesamt sehen wir eine aneignende Trans formation des Selbst, bei der eine reflektierte Haltung zum eigenen Körper, zu Sexualität, Medien und anderen Personen eingenommen wird und die sich positiv auf Resilienz, und Gesundheit auswirken könnte.
Über das erste Kursangebot hinaus wurden konkrete Ma terialien und Unterrichtsentwürfe gewünscht. Die Idee, dass vermittelnde Personen nach den Kursen selbst den Transfer durchführen, hat sich nicht bewährt, sondern wurde als Über forderung wahrgenommen. Daneben wurde zwar das digitale Angebot als angenehm bewertet, da es auch die Privatsphäre schützt und flexible Bearbeitung ermöglicht, es wurden aber auch persönlicher Austausch, Kontakt zu anderen und Super vision gewünscht. Limitierend ist, dass die Evaluation von Personen aus dem eigenen Team und der beheimateten Institution stammt und die Evaluationsdaten der Pilotkurse schwerpunktmäßig auf SchleswigHolstein, vereinzelt Hamburg und Berlin begrenzt sind.

Ausblick

Die überarbeiteten Kurse, samt neuen Vertiefungen von weiteren Expert*innen, beinhalten unter anderem einen »Pornoführerschein«, vertiefende Perspektiven auf die mus limische Kultur, Internetsicherheit, Spielsucht und Probleme und Störungen kindlicher Entwicklung. Die Grundlagen kurse wurden allen Bundesländern angeboten und werden in SchleswigHolstein, Bremen und MecklenburgVorpommern und für Privatzahler und Institutionen deutschlandweit mit Kursstart im Herbst 2022 angeboten. Außerdem sind ergänzend Events für den Sommer 2023 in Form eines Auf klärungsfestivals und einer Kunstausstellung in Hamburg sowie Präsenzworkshops geplant. Alle diese Maßnahmen werden fortlaufend evaluiert und dann weiterentwickelt.

Fußnote

1 Die hier dargestellten Sachlagen basieren auf Daten, Analysen und Ergebnissen, die auf den Konferenzen ISTP 2022 in Sacramento, beim FoWOP/EAWOP SGMMeeting 2022 in Brüssel und dem DGFSKongress 2022 in Berlin präsentiert worden sind. Zusätzlich befinden sich derzeit drei wissenschaftliche Papiere im ReviewVerfahren und werden Anfang 2023 publiziert. Teile der Daten, Analysen und ein Poster sind zudem hier abzurufen: https://www.researchgate.net/project/TeachLove.

Veröffentlichungsdatum

Die Sozialpsychologin Dr. phil. Johanna L. Degen ist Wissenschaftlerin an der Europauniversität in Flensburg, leitet das psychologische Institut für Subjektivitäts- und Praxisforschung und ist Paartherapeutin in eigener Praxis. Ihr Arbeits- und Forschungsschwerpunkt dreht sich aus kritisch-humanistischer Perspektiven um Beziehungen: bei der Arbeit, im privaten und familiären Kontext, in Bezug zu Sexualität und der parasozialen Art in der Aushandlung mit Medien und Technik. Sie ist aktives Mitglied in den Gesellschaften DGFS, ISTP und FoWOP.
Kontakt: Johanna.Degen(at)uni-flensburg.de

 

Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

 

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
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