Studie zu Sexualaufklärung im schulischen Kontext in vier Ländern der europäischen WHO-Region
Hintergrund
Ganzheitliche Sexualaufklärung (Comprehensive Sexuality Education – CSE) ist ein wichtiger Ansatz, um Kinder und Jugendliche in ihrer sexuellen sowie allgemeinen Entwicklung zu unterstützen. Zahlreiche Studien unterstreichen die Wirksamkeit von Sexualaufklärung unter anderem in Bezug auf Präventionsmaßnahmen und Stärkung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, die Förderung von Safer-Sex-Praktiken und die Verringerung von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt.1, 2
Im Jahr 2010 veröffentlichte das WHO-Kollaborationszentrum der BZgA die »Standards für Sexualaufklärung in Europa«3, die als eine praktische Hilfestellung zur Ausarbeitung geeigneter Curricula und gleichzeitig als Argumentationshilfe zur Einführung einer ganzheitlichen Sexualaufklärung in jedem Land der europäischen WHORegion dienen. 2016 bis 2017 ließ die BZgA gemeinsam mit IPPF EN eine Studie zum Stand der Sexualaufklärung in 25 Ländern der WHO-Europa-Region durchführen.4 Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie waren: In den Ländern zeichnete sich eine gute gesetzliche Grundlage für die Sexualaufklärung ab; Sexualaufklärung wurde häufig in andere Fächer integriert; die Themenbereiche Reproduktion, Prävention von HIV und sexuell übertragbaren Infektionen, Verhütungsmethoden und Schwangerschaftsprävention werden im Vergleich zu anderen Schwerpunkten häufiger angesprochen; in vielen Ländern gibt es eine starke Opposition.Ende 2022 wurde in Georgien ein Workshop mit Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen Ministerien, internationaler Organisationen und Jugendgruppen veranstaltet. Die Beteiligten haben ihre Erfahrungen ausgetauscht, die Ergebnisse des SERAT-Tools diskutiert und die Strategien für die Advocacy dargelegt. 2023 werden die Ergebnisse in einzelnen Länderberichten veröffentlicht.
Georgien, Kirgisistan und Tadschikistan waren Teil der Studie über Sexualaufklärung in Europa und Zentralasien. Fünf Jahre später wurde in diesen Ländern sowie in Moldau die SERAT-Studie durchgeführt, um einen aktuellen Überblick über den Stand der Sexualerziehung in diesen Ländern zu erhalten. Die Studie zielte darauf ab, Stärken und Schwächen der bestehenden Curricula zu ermitteln. Die Ergebnisse bieten die Basis für Diskussionen und Maßnahmen, etwa das Schaffen von Kapazitäten, um eine umfassende Sexualaufklärung in Schulen zu stärken.
Methoden
Die Bewertung der Programme für Sexualaufklärung wurde in den vier Ländern mithilfe des Sexuality Education Review and Assessment Tools (SERAT)5 der UNESCO durchgeführt. Dabei handelt es sich um ein Excel-basiertes Tool, mit dessen Hilfe Daten zur schulischen Sexualaufklärung gesammelt werden können, um Überlegungen und Diskussionen über Stärken und verbesserungswürdige Bereiche anzuregen. Das SERAT basiert auf internationalen Erkenntnissen und bewährten Verfahren im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Inhalt wirksamer ganzheitlicher Sexualaufklärungsprogramme. Als wichtigste Quelle für die Entwicklung dieses Instruments dienten die, von der UNESCO 2018 über arbeiteten, »International Technical Guidelines on Sexuality Education« (ITGSE)6. SERAT enthält Fragen, die unter anderem den Status von Sexualaufklärung in Bereichen wie dem rechtlichen und politischen Rahmen, den Zielen und Grundsätzen, den Lehrplaninhalten nach Altersgruppen, der Integration in den nationalen Lehrplan, dem Lehren und Lernen, der Lehrerausbildung sowie des Monitoring und der Evaluation (M&E) abfragen. Obwohl SERAT ein umfassendes und partizipatives Instrument ist, enthält es viele Fragen, von denen einige in verschiedenen Kontexten unterschiedlich interpretiert werden können. Außerdem ist das Ausfüllen des Fragebogens mit einem erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand verbunden.
Die Datenerhebung fand zwischen Dezember 2021 und Juli 2022 statt. Zuvor wurden Schulungen zur Anwendung des SERATs und länderspezifische Beratungen für die Datenerhebung durchgeführt. Um alle Fragen des SERAT-Tools beantworten zu können, prüften die nationalen Beraterinnen und Berater im jeweiligen Land relevante Dokumente, darunter Schullehrpläne, nationale Gesetze und Strategien sowie Daten aus dem Bildungs- und Gesundheitswesen.
Jedes Land sammelte zusätzliche Daten durch Interviews, OnlineFragebogen, Fokusgruppendiskussionen und Workshops mit relevanten Interessenvertreterinnen und -vertretern, z. B. Lehrenden, Vertretungen von Arbeitsgruppen und Bildungsministerien (siehe Tabelle 1). + + und Verweise auf Serviceeinrichtungen für die Schülerinnen und Schüler im Fokus. In allen Ländern konnte ein Mangel an solchen Diensten sowie an qualifiziertem Personal in den Schulen festgestellt werden. In Moldau gibt es ein aktives Netzwerk jugendfreundlicher Gesundheitszentren und Kliniken, die Informationen und Verhütungsmittel für junge Menschen zur Verfügung stellen. Auch in Georgien wurde 2021 ein »Doctor’s Hour«-Programm in sechs Schulen erprobt, um von Schulärztinnen und -ärzten gestaltete Komponenten von Sexualaufklärung einzuführen. Zielsetzungen und Grundsätze Jedes Land erstellte einen Bericht auf Grundlage der SERAT-Vorlage mit automatisch erstellten Diagrammen zu den einzelnen SERAT-Abschnitten, z. B. Inhalt, Lehrerausbildung, Monitoring und Evaluation. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse wurden mittels eines narrativen Reviews zusammengestellt. Die gewichteten Punktzahlen und Durchschnittswerte wurden anhand des Ansatzes berechnet, der im globalen Statusbericht der UNESCO 20217 verwendet wurde.
Tab.1
Vorläufige Ergebnisse
Im Folgenden werden die Ergebnisse für die sieben Hauptbausteine im Bereich Sexualaufklärung, die von SERAT bewertet wurden, dargestellt.
Rechtlicher und politischer Rahmen
Alle vier Länder verfügen über einen rechtlichen und politischen Rahmen für die Sexualerziehung. Nationale Strategien, Programme und Richtlinien zur reproduktiven Gesundheit sichern Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Informationen und Aufklärung über sexualitätsbezogene Themen. In diesem Abschnitt standen auch Fragen zur Vernetzung der Schule mit dem Gesundheitssystem, insbesondere zu Dienstleistungen im Bereich sexuelle Gesundheit und Rechte, und Verweise auf Serviceeinrichtungen für die Schülerinnen und Schüler im Fokus. In allen Ländern konnte ein Mangel an solchen Diensten sowie an qualifiziertem Personal in den Schulen festgestellt werden. In Moldau gibt es ein aktives Netzwerk jugendfreundlicher Gesundheitszentren und Kliniken, die Informationen und Verhütungsmittel für junge Menschen zur Verfügung stellen. Auch in Georgien wurde 2021 ein »Doctor’s Hour«-Programm in sechs Schulen erprobt, um von Schulärztinnen und -ärzten gestaltete Komponenten von Sexualaufklärung einzuführen.
Zielsetzungen und Grundsätze
In allen vier Ländern sind relevante Ziele in größerem Umfang (54,4 %) in das Gesamtprogramm und die nationalen Lehrpläne integriert, einschließlich der Verhütung von Teenagerschwangerschaften, der Nutzung von Verhütungsmitteln und anderer Prioritäten im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Die Lehrpläne wurden unter Mitwirkung der relevanten Interessengruppen und unter Einbeziehung einschlägiger Fachleute entwickelt, allerdings unter geringerer Einbeziehung von jungen Menschen.
Inhalt
Dieser Abschnitt befasst sich mit den Themen und Lernzielen, die im Lehrplan zur Sexualerziehung für verschiedene Altersgruppen (5 bis 8, 9 bis 12, 12 bis 15, 15 bis 18+ Jahre) behandelt werden. Die Inhaltsbereiche basieren auf den acht Schlüsselkonzepten der ITGSE 2018 und spiegeln auch eine Mischung aus wissens-, einstellungs- und kompetenzbasierten Lernzielen wider. In allen Ländern liegt der Schwerpunkt auf Wissen und Einstellungen. Die Abdeckung der Inhalte variiert je nach Land, wobei die Abdeckung in Moldau über alle Altersgruppen hinweg insgesamt höher ist. Inhalte, die sich auf Geschlechternormen und -dimensionen, Sexualität sowie soziale und kulturelle Aspekte beziehen, sind in den Lehrplänen für alle Altersgruppen häufig unterrepräsentiert. Bei der Analyse des Umfangs der Lehrpläne in Bezug auf Konzepte und Wissensbereiche gemäß den internationalen Leitlinien liegt dieser im Durchschnitt in allen vier Ländern bei 26 %, wobei die Abdeckung in Moldau am höchsten und in Tadschikistan und Kirgisistan am niedrigsten ist.
Integration
In allen Ländern sind die Themen der Sexualaufklärung Teil anderer Fächer (z. B. Biologie, gesunde Lebensweise) oder werden als Wahlfächer angeboten. Es handelt sich über wiegend um freiwillige und prüfungsunabhängige Unterrichtseinheiten.
Lehrkräfte und Lernansätze
Alle Länder integrieren in größerem Umfang (52,5 %) lernzentrierte Techniken und setzen verschiedene Methoden für die Sexualaufklärung ein, einschließlich partizipativer Methoden. Die Lehrkräfte haben meist Zugang zu Materialien und Richtlinien, die Lernziele und pädagogische Ansätze integrieren. Besorgniserregender zeichnet sich die Situation bei den Lehrbüchern und Lernmaterialien für Schülerinnen und Schüler ab. Alle Länder wiesen darauf hin, dass es an geeigneten und umfassenden Materialien, die durch die Schule zur Verfügung gestellt werden, mangelt.
Ausbildung der Lehrkräfte
Ein zentraler Aspekt für eine gute Qualität von Sexualaufklärung ist der Erwerb von Kompetenzen und die solide Vorbereitung der Lehrkräfte im Themenfeld sexuelle Bildung. Die Ausbildung der Lehrkräfte ist jedoch in allen Ländern lückenhaft und entspricht im Durchschnitt nur zu 39 % den erforderlichen Standards.
Monitoring und Evaluation
Evaluation ist in drei Ländern, neben den Inhalten nach Altersgruppen, eine der schwächsten Komponenten aller Programme (durchschnittlich 22 %). Sexualaufklärung ist selten ein überprüfbares Thema, und es gibt fast keine systematischen Bemühungen, Daten über die Durchführung, Qualität und Wirksamkeit der praktizierten Sexualaufklärung zu sammeln. In einigen Fällen gibt es nationale Daten zu den Bedürfnissen und Indikatoren junger Menschen.
Um diese Ergebnisse zusammenzufassen, wird in Tabelle 2 (in %) beschrieben, in welchem Maß verschiedene Aspekte des Sexualaufklärungsprogramms mit evidenzbasierten bewährten Verfahren und empfohlenen Standards übereinstimmen.
Tab.2
Fazit und nächste Schritte
Die SERAT-Studie zeigt, dass sich die Länder bei der Umsetzung und Ausweitung ihrer Programme zur Sexualaufklärung auf einem guten Weg befinden, der durch ein aktuell unterstützendes rechtliches und politisches Umfeld gefördert wird. Allerdings gibt es noch Lücken bei der Ausbildung der Lehrkräfte, bei Monitoring und Evaluation und der Vollständigkeit der vermittelten Inhalte. Ende 2022 hat in Georgien ein Workshop mit Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen Ministerien, internationaler Organisationen und Jugendgruppen stattgefunden, um die Ergebnisse der SERAT-Studie zu diskutieren und länderspezifische Schritte zu planen. Wir hoffen, durch die Erstellung von Daten zur Sexualaufklärung in der Region weitere Fortschritte zu fördern und zu stärken.
Danksagung
Wir möchten uns bei den nationalen Beraterinnen und Bera tern und den UNFPA-Kontaktstellen in den vier Ländern bedan ken, die die Desk Reviews und die Datenerfassung durchge führt und die nationalen Berichte verfasst haben. Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre Zeit und ihre wertvollen Beiträge während der Interviews und Diskussionen.
Fußnoten
1 Michielsen, K., & Ivanova, O. (2002). Comprehensive sexuality education: why is it important? Policy Department for Citizens’ Rights and Constitutional Affairs European Parliament. Commissioned by European Parliament’s Committee on Women’s Rights and Gender Equality (FEMM),
https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2022/719998/IPOL_STU(2022)719998_EN.pdf
2 BZgA & UNFPA (2021). Kurzdossiers zum Thema Sexualaufklärung, https://www.bzga-whocc.de/publikationen/kurzdossiers/kurzdossiers-zum-thema-sexualaufklaerung/
3 BZgA (2010). Standards für Sexualaufklärung in Europa, https://www.bzga-whocc.de/fileadmin/user_upload/BZgA_Standards_German.pdf
4 Ketting, E., & Ivanova, O. (2018). Sexuality Education in Europe and Central Asia: State of the Art and Recent Developments. Commissioned by BZgA and IPPF EN, https://www.bzga-whocc.de/en/publications/studies/
6 UNESCO, et al. (2018). Revised Edition of the International Technical Guidance on Sexuality Education. Paris: UNESCO, http://unesdoc.unesco.org/images/0026/002607/260770e.pdf
7 UNESCO et al. (2021). Global status report: The journey towards comprehensive sexuality education. UNESCO, https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000379607
Alle Links und Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Zitation
Marquardt, J., & Ivanova, O. (2022). Studie zu Sexualaufklärung im schulischen Kontext in vier Ländern der europäischen WHORegion, FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2, 28–31.
Veröffentlichungsdatum
Dr. Olena Ivanova ist eine globale Gesundheitsforscherin und internationale Beraterin mit Erfahrung im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte. Sie hat einen Doktortitel in Gesundheitswissenschaften, einen medizinischen Abschluss und einen Master-Abschluss in Public Health von mehreren europäischen Universitäten. Ihr Interesse gilt der Evaluation komplexer Gesundheitsmaßnahmen und -programme, einschließ lich ganzheitlicher Sexualerziehung.
Kontakt: olena.ivanova(at)gmail.com
Johanna Marquardt ist Wissenschaftliche Referentin im Referat Q1 – Aufgabenplanung, Grundsatzfragen, Transfer, Internationale Beziehungen.
Kontakt: Johanna.Marquardt(at)bzga.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Qualifizierung im Bereich sexueller Bildung
- Wissenschaftsbasiert und praxisorientiert: Qualifizierungen bei pro familia
- Qualifizierung zur Hebamme
- Das Forschungsprojekt »Beyond Digital Violence«
- Teach LOVE: Psychologische Weiterbildung mit Herz und Expertise
- Lehrkräftefortbildungen im Rahmen der bundesweiten Initiative »Trau dich!«
- Studie zu Sexualaufklärung im schulischen Kontext in vier Ländern der europäischen WHO-Region
- Ein blinder Fleck: Inklusive Materialentwicklung für blinde und sehbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche
- FachForumFortbildung der BZgA zu „Sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend“