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FORUM 1–2018

Projektskizzen: Sexualpädagogisches Angebot für junge Geflüchtete

Pro familia München bietet seit 2014 Sexualpädagogik für junge Geflüchtete an. Im folgenden Text gehen wir kurz auf die Besonderheiten dieser Arbeit ein.

Sexualität und Kultur

Die Diskussionen um die Integrationsfähigkeit muslimischer Männer, Geschlechterrollen und angeblich oder tatsächlich übergriffige Geflüchtete zeigen: Sexuelle Bildung mit geflüchteten jungen Menschen bleibt ein wichtiges Aufgabenfeld. Die Erwartungen an Sexualpädagogik im weiten Feld von Flucht, Migration und Integration sind andere als bei sonstigen Zielgruppen. Prävention im herkömmlichen Sinne (ungewollte Schwangerschaften, STI etc.) wird hier erweitert. Betreuer*innen und Fachpersonal wollen – oft unbewusst – junge Männer durch sexualpädagogische Angebote vor Fehlverhalten bewahren und somit andere vor Übergriffen schützen. Das ist unbestreitbar wichtig. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass es auch um das individuelle Glück und das Recht auf Sexualität der einzelnen Menschen geht und nicht nur ausschließlich um das »Sich-Anpassen« an eine meist fremde, westlich-freiheitliche Sexualkultur. In unserem Angebot »Sexualpädagogik mit jungen Geflüchteten« versuchen wir, den verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden, indem wir die Inhalte in zwei unterschiedliche Themenblöcke aufteilen. Im ersten wird veranschaulicht, welche gesetzlichen Grundregeln es für Sexualität gibt, wo sie festgeschrieben sind und warum das so ist (Unterschied zwischen religiösen Geboten und gesetzlichem Rahmen/Primat des Gesetzes vor religiösen Geboten).

Die Themen Gleichberechtigung, (sexuelle) Vielfalt und Familienkonstellationen können in diesem Zusammenhang zu großen Herausforderungen in der Gruppensituation werden. Festzuhalten ist allerdings, dass nicht alle Jugendliche in unseren Gruppen stark religiös geprägt sind und dass es durchaus einige gibt, die gerade wegen freiheitseinschränkender oder sexualfeindlicher Strukturen im Herkunftsland geflüchtet sind (z. B. LSBTIQ*-Jugendliche). Auch wird besprochen, was das Recht auf das Ausleben von Sexualität für Jugendliche in Deutschland bedeutet und wie sie es tatsächlich nutzen wollen (z. B. ist Sex ab 14 prinzipiell erlaubt, aber nur ca. 3 Prozent der Jungen und 6 Prozent der Mädchen in diesem Alter hatten bereits Sex, wie die Studie der BZgA zur Jugendsexualität 2015 zeigt1).

Essenziell ist zu erklären, wie sexuelle Selbstbestimmung verstanden werden kann: nämlich als Menschenrecht für alle, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung. Zusätzlich versuchen wir zu verdeutlichen, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und Höflichkeit gibt. Nicht alles, was erlaubt ist, gilt als höflich, z. B. jemanden immer wieder anzusprechen, obwohl er/sie sich nicht sonderlich interessiert zeigt. Zentrale Themen sind auch Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, wie man herausfindet und erkennt, ob das Interesse gegenseitig ist, und wie man damit umgeht, wenn man auf Ablehnung stößt. Das Thema »Grenzen« kann hier einen großen Raum ein nehmen.

Körper und eigene Empfindungen

Im zweiten Teil stehen Körperaufklärung, Schwangerschaft und Geburt, Verhütung und medizinisches Grundwissen im Mittelpunkt – auch im Internetzeitalter für alle Jugendlichen nach wie vor ein höchst spannendes Gebiet, gilt es doch, unzählige Informationen, Bilder und Fantasien einordnen und bewerten zu können. Für junge Menschen aus anderen Kulturen ist das teilweise umso schwerer, weil sie die unterschiedlichen (Bilder-)Codes und Informationen erst erfassen und dechiffrieren müssen. Hier ist der oft enorme Wissensunterschied in den meist sehr heterogenen Gruppen (Alter, Ethnie, Sprachkenntnisse, Bildung …) ein entscheidender Faktor. Sogenannte Mythen und religiöse Vorbehalte können am besten klargestellt werden, indem die Referent*innen versuchen, sich möglichst neutral zu positionieren und den Teilnehmer*innen deutlich machen, dass das vermittelte Wissen auf medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen beruht (z. B. dass Selbstbefriedigung nicht schädlich ist oder dass Unfruchtbarkeit nicht immer »an der Frau liegt«). Wichtig ist aber auch, neben der biologischen Aufklärung über Körpervorgänge, auf einer allgemeinen Ebene die Möglichkeit zu geben, über Körperwahrnehmungen und sexuelles Erleben, Befürchtungen und Wünsche zu sprechen – Grundthemen einer jeden Sexualpädagogik. Hierhin gehören auch die Themen »das erste Mal« und Verhütung. Hinzu kommt, dass es gerade bei männlichen Geflüchteten sehr wichtig ist, ein Bewusstsein für die Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Körper und der Psyche zu schaffen. Dazu gehört es, Kenntnisse zum Recht auf Beratung und medizinische Grundversorgung zu vermitteln.

Sexualpädagogik reduziert oder: weniger ist mehr

Aufgrund der begrenzten Ressourcen der Zielgruppe und der Besonderheit ihrer Situation (Aufenthaltsstatus, Unterbringung, Sprachbarrieren, kein familiärer Hintergrund vor Ort …) muss trotz großen Interesses sehr rücksichtsvoll und zurückhaltend vor gegangen werden. Es gilt genau zu unter scheiden, was die Anliegen der Be treuer*innen (aber auch die der Sexualpädagog*innen!) im Unterschied zu denen der Zielgruppe sind. Die Einheiten sollten so gestaltet werden, dass immer Raum für Fragen ist und dass sie dann auf jeden Fall beantwortet werden – auch wenn sie aus Sicht der Referent*innen gerade nicht in den Kontext passen und andere Themen zu kurz kommen. Denn für viele ist es aufgrund ihrer Situation der einzige Zeitpunkt, überhaupt etwas zum Thema Sexualität fragen zu können und auch eine qualifizierte Antwort zu erhalten.

Sexualpädagogik in einem solchen Projektrahmen kann keinen Integrationskurs ersetzen, sondern Jugendliche dabei unterstützen, sich in der neuen, fremden Umgebung besser zurechtzufinden. Hier hilft es, auf den Grundsatz »weniger ist mehr« zurückzugreifen, denn für geflüchtete Menschen gibt es durchaus noch andere, wichtigere Themen als Sexualpädagogik.

Besondere Rahmenbedingungen

Grundsätzlich sind auch in der sexualpädagogischen Arbeit mit geflüchteten Jugendlichen unsere Standard-Rahmenbedingungen wie Freiwilligkeit, Schweigepflicht und Nicht-Anwesenheit von Betreuer*innen immens wichtig. Dadurch kann ein möglichst niedrigschwelliger Zugang für die Jugendlichen ermöglicht werden. Da dieser geschützte Rahmen durch die Beteiligung von Sprachmittler*innen zwangsläufig aufgebrochen wird, ist es unabdingbar, sich neben den obligatorischen Vorgesprächen mit den Einrichtungen im Vorfeld gesondert mit den Sprachmittler*innen abzusprechen. Manchmal sind sie wichtige Personen in den jeweiligen Communitys und sehen sich somit in einer besonderen Verantwortung den Jugendlichen gegenüber. Das steht in gewisser Weise im Widerspruch zu den Prinzipien Schweigepflicht und Anonymität. Daher ist es notwendig, mit den Dolmetscher*innen gemeinsam eine für alle befriedigende Vorgehensweise im Vorhinein zu erarbeiten und die Vorstellungen beider Seiten zu berücksichtigen. Um einen möglichst reibungslosen und zielgruppengerechten Ablauf zu erreichen, haben wir gesonderte Infoblätter für die Einrichtungen und die Dolmetscher*innen erarbeitet, in denen Inhalte, sprachliches Vorgehen und Rahmenbedingungen erläutert werden.


Fussnoten

1 www.forschung.sexualaufklaerung.de/fileadmin/fileadmin-forschung/pdf/Jugendendbericht%2001022016%20.pdf

Veröffentlichungsdatum

Michael Niggel
Kontakt:
pro familia München e.V.
Beratungsstelle München-Neuhausen
Rupprechtstraße 29
(Haus der Jugendarbeit)
80636 München
muenchen-neuhausen(at)profamilia.de
www.profamilia.de

 

Alle Links und Angaben zu Autorinnen und Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

FORUM 1–2018

Kontext: Flucht

Für den besseren Schutz von Frauen und Kindern haben das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und das Kinderhilfswerk UNICEF im Januar 2017 die Bundesinitiative »Schutz von Frauen und Kindern in Flüchtlingsunterkünften« ausgebaut und insgesamt 100 Koordinatorenstellen für Gewaltschutz gefördert.
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