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FORUM 1–2017

Sexualität und Verhütung bei Menschen mit Beeinträchtigung

Was benötigen die Fachkräfte und Institutionen der Beratung, Betreuung und Pflege an Unterstützung und Qualifizierung, um das Recht auf Lust, auf Sexualität, Verhütung und Elternschaft umzusetzen? Die Autorinnen schildern Praxiserfahrungen aus dem Familienplanungszentrum Hamburg e.V.

In den letzten zehn Jahren hat sich für Menschen mit Beeinträchtigung in Bezug auf die Umsetzung ihres Rechts auf Lust, Sexualität, Verhütung und Elternschaft einiges bewegt. Dazu hat das Inkrafttreten der Behindertenrechts konvention 2009 sicher beigetragen. Inzwischen existiert mehr einschlägige Fachliteratur, Arbeitshilfen wurden und werden entwickelt und viele informative Webseiten wurden in Leichte Sprache übersetzt. In Fortbildungen ist es zunehmend selbstverständlich geworden, Menschen mit verschiedenen Beein trächtigungen das Bedürfnis nach Sexualität zuzugestehen. Zugleich erfahren wir in Beratungen von Verunsicherungen bei Eltern und Unterstützenden, wenn es um die praktische Begleitung bei der individuellen Umsetzung des Rechts geht.

Wir wagen einen Blick aus der Praxis des Familienplanungszentrums, einer Hamburger Schwangerenberatungsstelle, die sich schon vor der Behindertenrechtskonvention auf den Weg gemacht hatte, die Zugänge der Beratungsstelle für Menschen mit Beeinträchtigungen zu überprüfen und zu verbessern. Uns war es wichtig, nicht nur auf dem Papier »offen für alle« zu sein: Es war klar, dass wir Menschen mit Beeinträchtigungen nicht automatisch erreichen, sondern dass wir etwas dafür tun mussten. Neben der eigenen Qualifizierung, der Umgestaltung von Räumen, Anpassung von Abläufen und Erstellung von Arbeitshilfen zählten von Anfang an auch Fortbildungen für Unterstützende in der Behindertenhilfe und in Schulen zu unserem damaligen zwei jährigen Projekt »Eigenwillig«. Das Projekt wurde unter anderem für seine Innovationskraft und Nachhaltigkeit als Good-Practice-Projekt 1 ausgezeichnet.

Das Angebot des Familienplanungszentrums wird seit der Initiierung des Projekts 2006 inzwischen selbstverständlich auch von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen aufgesucht: Erwachsene kommen zur Paarberatung, Mädchen besuchen die Frauenärztin. Jungen und Mädchen lassen sich von Sexualpädagog_innen2 in Leichter Sprache und mit anschaulichen Methoden, Körpervorgänge oder die Anwendung von Verhütungsmitteln erklären. Andere kommen zur Schwangerschaftskonfliktberatung vor einem möglichen Schwangerschaftsabbruch oder mit dem Wunsch, ein Kind zu haben. Inklusive Schulklassen, Förder und Schwerpunktschulen sowie berufliche Schulen besuchen unsere sexualpädagogischen Veranstaltungen. Auch Eltern von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung nehmen häufig Beratungen in Anspruch.

Welche Qualifizierungsbedarfe sehen wir?

Bevor wir auf die konkreten Qualifizierungsbedarfe und in Hamburg erprobte Maßnahmen eingehen, werfen wir einen kurzen Blick auf die regionalen Auswirkungen der am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft getretenen Behinderten rechtskonvention. Die Bundesregierung veröffentlichte 2011 ihren Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention. Auch in den Bundesländern entstanden an schließend Aktionspläne. Der Hamburger Landesaktionsplan nahm für den Bereich Gesundheit evaluierte Erfahrungen aus dem Familienplanungszentrum mit dem Ziel auf, die Zugänge aller Schwangerenberatungsstellen in Hamburg für Menschen mit Beeinträchtigungen zu öffnen: »Für Menschen mit Behinderungen bestehen im Rahmen der Gesundheitsförderung Verbesserungsmöglichkeiten des Zugangs zu kompe ten ter Beratung hinsichtlich Sexualaufklärung und Familienplanung. Dies bezieht sich sowohl auf den Bereich der gynäkologischen Versorgung für Frauen als auch auf den gesamten Bereich der Sexualaufklärung für alle Altersgruppen.« (Freie und Hansestadt Hamburg 2013) Damit erhielten die Hamburger Schwangerenberatungsstellen eine gute Basis für weitere Aktivitäten zur Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Unterstützungsbedarf.

Die Qualifizierungsbedarfe zur sexuellen Bildung von Menschen mit Behinderungen haben sich in den letzten Jahren erweitert. Standen zunächst ausschließlich Fachkräfte der Behindertenhilfe aus Wohngruppen und Werkstätten sowie Förderschulen im Fokus von Fortbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen, sehen wir die aktuelle Herausforderung in der zusätzlichen Qualifizierung von Fachkräften in weiteren Arbeitsfeldern, die nun inklusiv arbeiten: z. B. Beratungsstellen, Frauenärzt_innen, Schulen und Kindertagesstätten.

Das Ziel der Qualifizierungsmaßnahmen ist es, Menschen mit Beeinträchtigung das Recht auf selbstbestimmte Sexualität und informierte Teilhabe in allen Arbeitsfeldern zu eröffnen (Clausen/Herrath 2012). Um das zu erreichen, muss Qualifizierung die vielfältigen Bedarfe von Menschen mit Behinderung, die Bedarfe der Fachkräfte sowie die Rahmenbedingungen der Institutionen und Träger berücksichtigen.

Hilfreich ist dabei, das Leitbild der Behindertenrechtskonvention, den Inklusionsgedanken, vor Augen zu haben: »Es geht bei der Inklusion nicht darum, dass sich der oder die Einzelne anpassen muss, um teilhaben, ›mithalten‹ zu können. Es geht darum, dass sich unsere Gesellschaft öffnet. Dass unser selbstverständliches Leitbild Vielfalt wird und die Grundhaltung, dass jede und jeder Einzelne wertvoll ist mit den jeweiligen Fähigkeiten und Voraussetzungen« (Bentele 2014).

Bausteine der Qualifizierungsmaßnahmen

Im Folgenden stellen wir bewährte Bausteine aus eigenen Qualifizierungsmaßnahmen vor. Dabei verzichten wir darauf, die Module systematisch an einzelne Arbeitsfelder anzupassen oder bestimmte Zielgruppen zu gewichten. Wir illustrieren stattdessen mit Praxisbeispielen aus unterschiedlichen Lernbereichen.

Selbstreflexion

Anknüpfend an den zuvor zitierten Inklusionsleitsatz ist das wichtigste Kernstück jedweder Art von Fort- und Weiterbildung die Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung der Unterstützenden: Wo gibt es Unsicherheiten, Ängste und Hemmschwellen? Wie wird z. B. in einer betreuten Wohngruppe oder in einer Schwangerenberatungsstelle mit der ungeplanten Schwangerschaft einer Frau umgegangen? Wird ihr nur aufgezeigt, wie schwierig oder gar unmöglich es wäre, die Schwangerschaft auszutragen, oder wird ihr auch vermittelt, dass es ihre Entscheidung ist und sie in jede Richtung Unterstützung bekommt? Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit Behinderung sind weiterhin »heiße Eisen« für viele Fachkräfte und Eltern. Hier ist nicht nur die innere Auseinandersetzung der Unterstützenden wichtig, um das Recht auf selbstbestimmte Familienplanung zu verwirklichen. Es fehlt häufig auch an Unterstützungssystemen für Eltern mit Beeinträchtigungen und ihre Kinder, wie Angebote begleiteter Elternschaft oder Elternassistenz.

Praxisbezogene Selbstreflexion hilft auch, sich bewusst zu machen, an welchen Punkten die Rechte der Menschen mit Behinderung durch Institutionen und Fachkräfte selbst einge schränkt werden und nicht durch die Behinderungen der Unterstützten an sich erschwert umzusetzen sind. Vielen Unterstützenden ist zum Beispiel nicht bekannt, dass auch in betreuten Wohnformen die erwachsenen Bewohner_innen selbst entscheiden dürfen, wer in ihrem Zimmer übernachtet. Hier helfen oft Informationen über die rechtlichen Rahmenbedingungen (Zinsmeister 2012).

Ein weiterer Aspekt der Selbstreflexion ist es, Fachkräften Raum zu geben, um eigene Grenzen zu reflektieren und in den Prozess mit einzubringen. Zum Beispiel kann es sein, dass eine Betreuerin aus Sorge vor ungeplanter Schwangerschaft prinzipiell allen Bewohnerinnen ausschließlich die Dreimonatsspritze als Verhütungsmittel empfiehlt. Der Druck, der u.U. von den Eltern einer der Bewohnerinnen ausgeht, kann diese Haltung verstärken. Mit Blick auf die Ressourcen und Lebensweisen der einzelnen Frauen kommen häufig auch andere Verhütungsmittel infrage, die besser verträglich sind. Deren Anwendung erfordert lediglich eine entsprechende Aufklärung und Unterstützung.

Kenntnis psychosexueller Entwicklungsphasen

Ein weiterer wichtiger Baustein für Fachkräfte beinhaltet die Vermittlung von Grundlagenwissen über die psychosexuelle Entwicklung von Menschen. Welche Ausdrucksformen von Sexualität gibt es im Kindesalter? Welche Entwicklungsschritte machen Jugendliche? Wie geht es bei jungen Erwachsenen weiter? Aufbauend auf dieser Grundlage, die als Orientierung und nicht als Normierung dienen soll, geht es anschließend um die Frage nach Besonderheiten durch eine Behinderung. Was ist, wenn es (starke) körperliche Einschränkungen gibt? Was ist, wenn Menschen nicht über Sprache kommunizieren? Welche besonderen Sozialisationsformen erleben Menschen mit Behinderung? Welchen Einfluss kann das auf die Entwicklung haben?

Das Wissen über die psychosexuelle Entwicklung dient der Orientierung, ist jedoch nicht verallgemeinerbar. Im direkten Kontakt mit den Menschen mit Behinderungen ist die Kunst, immer den Einzelnen mit seinen individuellen Ressourcen wahrzunehmen: Welche Wünsche, Fähigkeiten und Voraussetzungen bringen die jeweiligen Menschen mit? Ein sehbehindertes Kind benötigt sicher eine andere Ansprache als ein Erwachsener mit Lernschwierigkeiten, ein heterosexuelles gehbehindertes Mädchen hat einen anderen Unterstützungsbedarf als ein homosexueller gehörloser Mann: Die Arten und Grade der Beeinträchtigungen sind individuell, sie erfordern unterschiedliche Unterstützungsmaßnahmen, und entsprechend sind Lerninhalte von Qualifizierungen zu differenzieren. Vielfalt als inklusive Grundhaltung bedeutet hier, Behinderung als eine Kategorie neben Geschlecht, kultureller Herkunft, sexueller Orientierung, Alter, sexueller Identität und Bildungshintergrund mit zu beachten.

Themenkomplex Gewalt

Ein dritter Baustein beinhaltet das Thema Gewalt und Gewalterfahrungen. Studien belegen, dass Frauen mit Behinderung in hohem Maße von Grenzverletzungen, Gewalt und sexueller Gewalt betroffen sind (BMFSFJ 2013). Dies hat deutliche, häufig nachhaltige Auswirkungen auf die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen. Das spiegelt sich auch in unserer Beratungspraxis wider. Jenseits von Gewalterfahrungen erleben Menschen mit Behinderungen, dass im Alltag selbstverständlich Grenzen überschritten werden, in der Pflege und im sozialen Miteinander. Im Kontext von Sexualität sollen sie dagegen dann ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und äußern. Der Präventionsgedanke ist aus unserer Sicht in alle Qualifizierungsmaßnahmen miteinzubeziehen. Darüber hinaus halten wir es für notwendig, auch in den Institutionen der Behindertenarbeit Schutzkonzepte zur Prävention von sexualisierter Gewalt zu er stel len und zu installieren. Dies geschieht bislang eher selten.

Thema sexualfreundliche Gestaltung

Demgegenüber bietet ein vierter Baustein die Möglichkeit, sich mit Ideen zur Gestaltung einer sexualfreundlichen Einrichtung auseinanderzusetzen. Welche Räume bietet eine Institution, um Intimität, Entwicklung und Beschäftigung mit dem Thema Sexualität zuzulassen?

Sexualitätsbezogenes Handeln wird von Menschen in der sozialen Auseinandersetzung erlernt. Im Kontakt mit sich selbst und anderen erfahren Menschen, was sie schön finden und was sie nicht mögen. Das altersgerechte Zulassen von Kontakten unterstützt Menschen mit und ohne Behinderungen darin, Beziehung und Partnerschaft zu erlernen. Eigene Wünsche wahrzunehmen, sie zu benennen und Grenzen zu setzen, wo etwas nicht angenehm ist, sind wichtige Erfahrungen und Lernschritte: Was passiert in der Interaktion, wenn man anderen unbeabsichtigt zu nahe tritt? Menschen lernen im besten Fall aus solchen Situationen, oft schon als heranwachsendes Kind, die Grenzen anderer Menschen zu achten.

Menschen mit Behinderungen brauchen für diese Lernprozesse Frei-Räume, die ihnen möglichst früh zur Verfügung gestellt werden, und Fachkräfte, die sie freundlich begleiten, ohne permanent präsent zu sein.

Elternarbeit

Die Elternarbeit zu sexualitätsbezogenen Themen ist ein weiterer obligatorischer Baustein von Qualifizierung. Für die Institutionen der Behindertenarbeit wird angeregt, Elternarbeit konzeptionell fest zu verankern. Findet Elternarbeit regelhaft statt, erleichtert dies die Kommunikation über sexuelles Verhalten der Unterstützten – unabhängig von schwierigen Situationen, in denen es Konflikte mit Eltern gibt. In Elterngesprächen können Mütter und Väter beispielsweise über das Thema der psychosexuellen Entwicklung informiert und zum Austausch eingeladen werden. Viele Eltern sind nach anfänglicher Skepsis sehr interessiert an dem Thema und haben viele Fragen. Auf Elternabenden äußern Mütter und Väter oft ihre Erleichterung, wenn sie feststellen, dass nicht nur ihr Kind bestimmte Verhaltensweisen zeigt und dass dies nicht Ausdruck der Behinderung, sondern Ausdruck von altersangemessener Entwicklung ist. Ängste und Sorge um das Kind können besser besprochen werden.

Einsatz von Arbeitshilfen

Als einen weiteren unverzichtbaren Baustein sehen wir den Einsatz von geeigneten anschaulichen Materialien und spezifischen Arbeitshilfen für die praktische Arbeit (Arbeiterwohlfahrt Bundesverband 2006). Ziel ist, dass Menschen mit Behinderungen Informationen gut verstehen und informierte Entscheidungen für ihr Leben treffen können.

Inzwischen wurden wertvolle Arbeitshilfen wie z. B. die Paomi-Modelle entwickelt, die nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch anderen Zielgruppen Körpervorgänge und Sexualaufklärung vermitteln helfen. Auch der sexualpädagogische Klassiker, der Verhütungsmittelkorb, hat sich für die Aufklärung der Zielgruppe der Menschen mit Behinderung bewährt: Er enthält eine Bandbreite an Verhütungsmitteln. Diese können gezeigt und erläutert, aber auch von allen angefasst und an Modellen ausprobiert werden. Dazu zählt auch die Demonstration der Benutzung von Kondomen.

Institutionsspezifische, sexualitätsbezogene Konzepte schaffen Handlungssicherheit und Transparenz für Unterstützende. Qualifizierungsmaßnahmen regen dazu an, entsprechende Konzepte zu entwickeln. Sinnvoll ist es, Menschen mit Behinderung an deren Entwicklung zu beteiligen und auch die Eltern miteinzubeziehen.

Aus den Qualifizierungsmaßnahmen heraus entsteht seitens der Teilnehmenden oft der Wunsch, sich über die Fortbildung hinaus zu vernetzen. In Hamburg mündete der Bedarf nach nachhaltigem Austausch und Qualifizierung in einem regelmäßigen Vernetzungstreffen des »Runden Tisches Sexualität und Behinderung«. Dort findet zweimal jährlich ein träger- und arbeitsfeldübergreifender Fachaustausch statt.

Inklusive sexuelle Bildung von Anfang an

Wir möchten nun den Fokus auf ein bisher noch wenig beleuchtetes Thema legen, wenn es um die Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigung geht – die sexualpädagogische Arbeit in der Kindertagesstätte (KITA). In Hamburg arbeiten viele KITAS inzwischen inklusiv. In zahlreichen KITA-Gruppen werden behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut. Inklusion als Leitgedanke bedeutet, dass manche Alltagssituation neu betrachtet wird. Es reicht nicht, wenn Kinder mit Behinderung »einfach bei allem mit dabei sind« und Erziehende davon ausgehen, dass die Kinder sich dadurch schon beteiligt fühlen. Der Qualifizierungsbedarf in Bezug auf sexuelle Bildung ist groß.

Bereits im siebten Durchgang wird in Hamburg eine zertifizierte berufsbegleitende Weiterbildung »Sexualpädagogische Kompetenz in Kindertagesstätten« durchgeführt. Diese bislang einzigartige Qualifizierung findet im Rahmen einer Kooperation von pro familia Hamburg, des Familienplanungszentrums sowie selbstständiger Sexualpädagog_innen unter der Trägerschaft des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Ham burg und des Sozialpädagogischen Fortbildungszentrums Hamburg statt. Eine Besonderheit der ein jährigen Weiter bildung ist die Inklusion eines Ausbildungsmoduls, das sich intensiv mit der sexualpädagogischen Arbeit mit Kindern mit Be hinderung beschäftigt. Dieses separate Modul hat sich sehr bewährt. Teilnehmende melden zurück, dass sie ein größeres Bewusstsein für die Zielgruppe entwickeln und sich für die allgemeinen Belange der Zielgruppe und die besonderen im Kontext von Sexualität sensibilisiert fühlen. Der Blick öffnet sich für unterschiedliche Wahrnehmungs- und Deutungs möglichkeiten einer Alltagssituation. Mit dem Wissen um Ausdrucksformen kindlicher Sexualität wird beispielsweise die Selbstbefriedigung eines vierjährigen Jungen mit Down-Syndrom nicht länger als ein Ausdruck »enthemmter Sexualität« aufgrund von Behinderung gedeutet, sondern kann als altersangemessene Entwicklung eingeordnet werden.

Manchmal geht es darum, einem Kind mit Behinderung Angebote zu machen, damit es die Themen auch auf sich beziehen kann. Besonders bei Kindern mit kognitiver Beeinträchtigung kann der Zugang zur Auseinandersetzung mit den Themen Körper, Gefühle und Grenzen erschwert sein. Einfache Sprache, Arbeit mit Bildern oder Symbolen für Gefühle, Wiederholung der Begriffe, damit Botschaften aufgenommen und behalten werden können, sind wichtig.

Wenn Kinder mit Behinderung auf Hilfestellungen und Assistenz angewiesen sind, kann es auch wichtig sein, die genaue Ausführung der Handlungen zu untersuchen. In der KITA sind beispielsweise Wickelsituationen und das Reinigen von Kindern, die sich in die Hose gemacht haben, Alltagshandlungen. Die Achtsamkeit in Wickelsituationen wird in vielen Krippen thematisiert. Die besondere Situation von Kindern mit Behinderungen in verschiedenen Altersstufen ist vielen Erziehenden nicht vertraut: Wird ein sechsjähriges Kind mit denselben Handgriffen gewickelt wie ein dreijähriges? Welche begleitenden Worte werden gewählt? Wird ausreichend Raum für Selbsttätigkeit und Selbststeuerung geboten? Das ist je nach Kind und Situation individuell unter schiedlich und will genau ausgelotet werden. Gewiss ist das nicht in jeder zeitlich knapp bemessenen Alltagshandlung möglich, aber oft tritt bei Fachkräften eine veränderte Haltung ein. Aus der Routine des »Ich helfe dir, weil du es nicht kannst« entsteht so die Einstellung, »Ich unterstütze dich so wenig wie möglich, damit du Raum hast, dich weiterzuentwickeln«.

Die Bedeutung einer solch banal erscheinenden Alltagssituation ist mit Blick auf die Entfaltung von Selbstbestimmung von besonderer Bedeutung.

Im Ausbildungsbereich der Fachschulen für Sozialpädagogik ist das Thema Kinder mit Behinderung bisher wenig präsent. Häufig fehlen Maßnahmen zur sexuellen Bildung. Auch hier stellen wir einen großen Fortbildungsbedarf fest.

Fazit

Zusammengefasst sind wir erfreut darüber, dass sich in allen beschriebenen Arbeitsfeldern vieles zum Positiven bewegt. Auch wir befinden uns als Team des Familienplanungszentrums in einem fortlaufenden Prozess und lernen mit den Menschen mit Behinderungen und den vielen Unterstützenden, mit denen wir arbeiten, ständig hinzu.

Zugleich ist noch viel zu tun, um die Teilhabe weiter voranzutreiben:

  • Die institutionelle Verankerung von sexualitätsbezogenen Konzepten in allen Arbeitsfeldern (oft hängt es vom Engage ment einzelner Mitarbeiter_innen/Leitungen ab, ob in einer Einrichtung sexualpädagogisch gearbeitet wird oder Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt werden.)
  • Aus- und Fortbildungsmaßnahmen u.a. für Erziehende in KITAS und Frauenärzt_innen
  • Ausbau von Unterstützungsmöglichkeiten für Eltern mit Behinderungen durch begleitete Elternschaft und Elternassistenz (Specht 2003; Pixa-Kettner/Rohmann 2012).

Fußnoten

1 Auszeichnung durch den Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit in 2011; www.gesundheitliche-chancengleichheit.de

2 Auf Wunsch der Autorinnen behalten wir in diesem Beitrag den Gendergap als Mittel der Darstellung aller Geschlechtsidentitäten bei (d. Red.).

Veröffentlichungsdatum

Annica Petri

Annica Petri ist Diplom-Sozialpädagogin, Sexualpädagogin und Beraterin. Bärbel Ribbert ist Diplom-Pädagogin, Beraterin und Geschäftsführerin. Beide arbeiten im Familienplanungszentrum Hamburg e. V. Das Familienplanungszentrum wurde 2016 durch die Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen als Wegbereiter der Inklusion im Gesundheitswesen ausgezeichnet.

 

Alle Angaben zu Autorinnen und Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
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