Sexualaufklärung per App
Die Inhalte ganzheitlicher Sexualaufklärung können nicht vollumfassend innerhalb des schulischen Kontexts vermittelt werden (Ketting & Ivanova 2018). Die Schüler*innen greifen zusätzlich auf andere Quellen zurück, um sich zu in- formieren (Bode & Hessling 2015). Neben herkömmlichen Informationsmedien und Vertrauenspersonen gewinnen digitale Medien dabei zunehmend an Bedeutung (ebd.). Durch digitale Medien können sexuelles Wissen und das Verhalten von Jugendlichen beeinflusst werden (Simon & Daneback 2013). So können auch mit Apps Gesundheitsinformationen, insbesondere unter Jugendlichen, effektiv, praktisch und kostengünstig verbreitet werden (Chen & Mangone 2016; Eleuteri et al. 2018; Krishna et al. 2009; Muessig et al. 2013). Junge Erwachsene sind prinzipiell daran interessiert, eine kostenfreie App zu nutzen, die ihre sexuelle Gesundheit verbessern könnte, und akzeptieren sexuelle Gesundheits- förderung via App (Richman et al. 2014; Holloway et al. 2014). Eine App zu Themen der Sexualaufklärung könnte Jugendliche bei ihrer Informationssuche und Pädagog*innen bei ihrem Lehrauftrag unterstützen.
Ziel der Studie (Mühlmann et al. 2021) war es, einen Überblick über Verfügbarkeit und Qualität von deutschsprachigen Apps zu schaffen, die einen Beitrag zur sexuellen Gesundheit leisten können.
Das Review
In Google Play und im App Store konnten wir aus 7.318 möglichen im Dezember 2019 zunächst sechs passende Apps einschließen und bewerten. Eingeschlossen wurden dabei deutschsprachige Apps, bei denen als Hauptziel Sexualaufklärung zu erkennen war. Eine Auflistung der genauen Ein- und Ausschlusskriterien findet sich in Mühlmann et al. (2021). Auch auf Limitationen der Studie wird dort näher eingegangen.
Für die Einordnung und Bewertung der Qualität wurden mit der MARS-G (Messner et al. 2020) Engagement (Unterhaltung, Interesse, individuelle Anpassbarkeit, Interaktivität, Zielgruppe), Funktionalität (Leistung, Usability, Navigation, Motorisches, gestisches Design), Ästhetik (Layout, Grafik, visueller Anreiz), Information (Genauigkeit der App-Beschreibung, Ziele, Qualität, Quantität, visuelle Informationen, Glaubwürdigkeit, Evidenzbasierung), pädagogischer Nutzen (Gewinn für Lehrende und Lernende, Risiken, Nebenwirkungen und schädliche Effekte, Übertragbarkeit in sexualpädagogische Kontexte), subjektive Qualität und die wahrgenommene Auswirkung (vermittelte Möglichkeiten zur Förderung von Bewusstsein, Wissen, der Einstellung, der Absicht zur Verhaltensänderung, zur Suche nach Hilfe und die Verhaltensänderungswahrscheinlichkeit) eingeschätzt.
Praxisrelevante Apps
Im Folgenden werden drei ausgewählte Apps vorgestellt, die Jugendliche zur Zielgruppe haben und eine entsprechende Qualität aufweisen. Diese Apps werden beschrieben und in Bezug auf ihren möglichen Nutzen beurteilt. Eine Übersicht über das Qualitäts-Rating findet sich in Tabelle 1. Weitere Informationen zu allgemeinen Charakteristika, Inhalten und Qualitäts-Ratings der Apps sind in der Originalstudie nachzu- lesen (Mühlmann et al. 2021).
StartChla – Keine Angst vor Chlamydien
Es handelt sich um eine übersichtliche App der Temedica GmbH zum Thema Chlamydieninfektionen. Die Temedica GmbH arbeitet nach Angaben der Website gemeinsam mit Krankenversicherungen für digitale Privatlösungen. Die App bietet umfangreiche Informationen zu Ansteckungs- und Verhütungsmöglichkeiten, Symptomen und Verbreitung, Diagnose- sowie Vorsorge- und Behandlungsmöglichkeiten bezogen auf Chlamydieninfektionen im Frage-Antwort-Format. Auch wenn die App sich vorrangig an Mädchen und Frauen unter 25 Jahren richtet, enthält sie zudem Informationen zur Symptomatik bei Männern. Weiterhin regt die App zur Vorsorgeuntersuchung an und bietet die Möglichkeit, Arzttermine im Smartphone-Kalender zu erstellen, und Raum für Notizen. Die App ist inhaltlich für die Zielgruppen 12 bis 15 und 15+ geeignet. Im App Store ist sie mit einer Altersfreigabe von 17+ versehen. Dies hindert Jugendliche bei entsprechenden Einstellungen an der Nutzung der App.
Only Human
Die App der Psychosozialen AIDS-Beratungsstelle der Caritas München behandelt, begleitend zur gleichnamigen Wanderausstellung der Beratungsstelle, die Themen Frauen- und Männergesundheit, HIV und weitere sexuell übertragbare Krankheiten sowie Beziehungen und Geschlechterrollen. Die Inhalte stehen zum Teil spielerisch aufbereitet, beispielsweise als bebildertes Quiz zu Ansteckungsmöglichkeiten, sowie in Form von Video- und Audioclips zur Verfügung. Audioaufnahmen stehen in der Regel mehrsprachig zur Verfügung. Insbesondere ganzheitliche Aufklärungsansätze können einen Beitrag zur Förderung sexueller Gesundheit leisten (WHO-Regionalbüro für Europa & BZgA 2011). Die App Only Human sticht durch die Behandlung verschiedener Themenbereiche positiv heraus (in der Regel waren passende Apps auf einzelne Themenbereiche beschränkt). Neben den Themen »Der menschliche Körper und seine Entwicklung«, »Fruchtbarkeit« und »Beziehungen und Lebensstile« werden auch die Bereiche Sexualität, Gesundheit und Wohlbefinden sowie Rechte, Werte und Normen behandelt. Die intuitive Bedienbarkeit ist jedoch deutlich eingeschränkt. Die Grafiken sind zum Teil sehr klein, was sich auf die Navigation innerhalb der App auswirkt. Insgesamt scheint die App für die Nutzung via Tablet entwickelt worden zu sein. Bei einigen Smartphone-Geräten wird der Bildschirm nicht durchgängig voll ausgenutzt. Die App ist inhaltlich für die Zielgruppen 12 bis 15 und 15+ geeignet. Im App Store ist sie mit einer Altersfreigabe von 17+ versehen. Dies hindert Jugendliche bei entsprechenden Einstellungen an der Nutzung der App.
Sexting
Die ausführliche Beschreibung der App im Store zeigt auf, dass mithilfe der auf dem Schweizer Lehrplan 21 (https://www. lehrplan21.ch/) basierenden App, Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie Ressourcen des Umfelds vermittelt werden können. Akkurat wird beschrieben, was Lernende (Ziel- gruppen 12 bis 15 und 15+) nach dem Nutzen der App zum Thema Sexting können und wissen sollten. Weiterhin finden sich Informationen zum Entwickler, einem Oberstufenlehrer und Medienpädagogen. Nach Anschauen eines (externen) knapp 14-minütigen Videoclips können die Jugendlichen innerhalb der App Fragen zum Thema Sexting beantworten. Die Inhalte umfassen Begriffsklärungen, rechtliche Aspekte zum Thema, Chancen und Risiken sowie emotionale Aspekte. Die Bereiche Sexualität, Gesundheit und Wohlbefinden sowie soziale und kulturelle Determinanten (Werte und Nor- men) werden ebenfalls behandelt. Weiterhin wird ein möglicher Umgang im Alltag mit Sexting thematisiert und eine Anlaufstelle (Notfall-Hotline) zur Verfügung gestellt. Die App beinhaltet einen Entdeckermodus mit Fragen zum Üben und zum tieferen Verständnis sowie einen Testmodus mit einem abschließenden Zertifikat für die Lehrenden. Der Videoclip muss separat in einem Internetbrowser auf der Seite des Schweizer Radios und Fernsehens (SRF) abgerufen werden, indem der Link händisch aus der App kopiert wird. Sowohl funktional als auch ästhetisch ist zweifelhaft, ob Jugendliche diese App nutzen würden. Im Rating der Subdimensionen Engagement, Funktionalität, Ästhetik sowie subjektive Qualität erzielte die App Werte unter 3. Eine Datenschutzerklärung war nicht verfügbar. Wie bei allen mobilen Gesundheitsanwendungen sollte auch im Bereich der Sexualaufklärung auf entsprechenden Schutz der Daten geachtet sowie die Transparenz der Datenverarbeitung und Weitergabe gewährleistet werden. Sensible Daten wie Gesundheitsinformationen und Informationen zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung sollten besonderen Schutz genießen. Die App Sexting ist nur als iOS-App verfügbar. Um bei der Sexualaufklärung möglichst niemanden zu benachteiligen, sollte darauf geachtet werden, dass sie zumindest in beiden führenden Stores – dem App Store und in Google Play – zur Verfügung steht. Für die Sexualaufklärung in Deutschland ist die App auch aufgrund des teilweise schwer verständlichen Schweizer- deutsch innerhalb des Videoclips sowie Nennung einer schweizerischen Telefon-Hotline, die (rechtliche) Fragen von Jugendlichen beantworten kann, eher nicht geeignet. Sie zeigt dennoch, wie eine App unterrichtsbegleitend genutzt werden kann.
Verfügbarkeit und Qualität der Apps
Es zeigte sich auch in der vorliegenden Studie ein Missverhältnis zwischen dem großen App-Angebot und der geringen Anzahl an für die Sexualaufklärung geeigneten Anwendungen. Um die Orientierung für Jugendliche und Pädagog*innen zu erleichtern, wurden die App-Ratings in die Plattform http://mhad.science/ eingepflegt.
In Bezug auf Informationen und Unterstützungspotenzial, Risiken, Nebenwirkungen und schädliche Effekte sowie wahrgenommene Auswirkungen erzielten alle drei vorgestellten Apps akzeptable bis gute Werte. Die App StartChla schnitt auf der Subdimension subjektive Qualität etwas schlechter ab. Die Apps Only Human und Sexting zeigten mangelhaftes Design und eine erschwerte Navigation innerhalb der Apps.
Zudem mangelt es den Apps an explizitem Theoriebezug. Um effektive Interventionen zur Verfügung zu stellen, ist es notwendig, wissenschaftlich fundierte Strategien zu implementieren und die Apps zudem auf Wirksamkeit in der Zielgruppe zu prüfen.
Die App Knowbody und Ausblick
Die Ergebnisse von Übersichtsarbeiten zu Apps veralten schnell (Döring 2020; Muessig et al. 2013). So ist es essenziell, in regelmäßigen Abständen zu prüfen, ob die Apps noch zur Verfügung stehen oder neue Angebote hinzugekommen sind.
Eine Anwendung, die mittlerweile als kostenfreie Testversion in beiden App-Stores zu finden ist, ist die App Knowbody. Sie richtet sich als App für sexuelle Bildung explizit an Schulen und wurde von einem interdisziplinären Team aus den Bereichen (Sexual-)Pädagogik, Medizin, Psychologie, Kommunikation, Design und Programmierung für den Einsatz als Lehrmittel im Unterricht entwickelt. Sie bietet darüber hinaus zusätzliche Informationsmöglichkeiten für die Jugendlichen. Sie ist derzeit mit einer Altersfreigabe von 12+ versehen (Zielgruppen der App: 10 bis 12, 12 bis 15, 15+). Aktuell lassen sich elf Lehreinheiten, die jeweils eine Schul- oder Doppelstunde umfassen, in der App finden. Um den Lernenden die Inhalte näherzubringen, werden dabei verschiedene Formate wie Sprachnachrichten, 3D-Animationen und Methoden wie die Think-Pair-Share-Methode genutzt. Lehrende erhalten zum Moderieren der Stunden ein Handbuch mit relevanten Hintergrundinformationen. Die Inhalte der App orientieren sich an den Richtlinien zur Sexualerziehung der BZgA/WHO und der Kultusministerien. Es wird ein ganzheitlicher, diskriminierungsreflektierter und vielfaltsbewusster sexualpädagogischer Ansatz verfolgt, der die Themenfelder Beziehungen, Sexualität, Körper, Geschlecht, Familie und Familienplanung, Sexualität und Medien, Vielfalt und Gesellschaft sowie sexuelle Selbstbestimmung umfasst.
Die App wurde gemeinsam mit Schulen in ganz Deutschland pilotiert und prozessbegleitend angepasst. Sie steht voraussichtlich ab Dezember 2022 zur Verfügung. Wenn möglich, soll sie dann sowohl mithilfe der MARS-G beurteilt als auch langfristig in der Zielgruppe selbst evaluiert werden. So kann geklärt werden, ob sie einen Beitrag zur sexuellen Gesundheit leisten kann.
Abbildung 1: Screenshot der App Knowbody
Literatur
Bode, H., & Hessling, A. (2015). Jugendsexualität 2015. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativen Wiederho- lungsbefragung. BZgA.
Chen, E., & Mangone, E. R. (2016). A Systematic Review of Apps Using Mobile Criteria for Adolescent Pregnancy Prevention (mCAPP). JMIR MHealth Uhealth, 4(4), e122.
Döring, N. (2020). »Switched On«: UNESCO-Konferenz 2020. Z Sexual- forsch, 33, 178–180.
Eleuteri, S., Rossi, R., Tripodi, F., Fabrizi, A., & Simonelli, C. (2018). Sexual Health in your Hands: How the Smartphone Apps can improve your Sexual Wellbeing? Sexologies, 27(3), e57–e60.
Holloway, L. W., Rice, E., Gibbs, J., Winetrobe, H., Dunlap, S., & Rhoades, H. (2014). Acceptability of Smartphone Application-based HIV
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Messner, E., Terhorst, Y., Barke, A., Baumeister, H., Stoyanov, S.,
Hides, L., Kavanagh, D., Pryss, R., Sander, & L., Probst, T. (2020). Develop- ment and Validation of the German Version of the Mobile Application Rating Scale (MARS-G). JMIR MHealth Uhealth, 8, e14479.
Mühlmann, M., Lienert, A., Muehlan, H., Stach, M., Terhorst, Y., & Messner, E. (2021). Digitale Sexualaufklärung: Verfügbarkeit und Evaluation mobiler deutschsprachiger Apps zur Förderung der sexuellen Gesundheit.
Z Sex-Forsch, 34(04), 197–207. https://doi.org/10.1055/a-1669-7626 Muessig, K. E., Pike, E. C., Legrand, S., & Hightow-Weidman, L. B.
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Simon, L., & Daneback, K. (2014). Adolescents’ Use of the Internet for Sex Education: A Thematic and Critical Review of the Literature. Int J Sex Health, 25, 305–319.
WHO-Regionalbüro für Europa, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA, 2011). Standards für die Sexualaufklärung in Europa: Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten. WHO, BZgA.
Alle Linkangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Zitation
Mühlmann, M., & Meyer, V. (2022). Sexualaufklärung per App, FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 24–27.
Veröffentlichungsdatum
Marlene Mühlmann promoviert in Psychologie aktuell zu (digitalen) Förderungsmöglichkeiten der sexuellen Gesundheits- kompetenz von Jugendlichen an der Universität Greifswald.
Ehrenamtlich klärt sie Jugendliche in Schulklassen (8. bis 10. Klassen) gemeinsam mit der Studierendeninitiative »Mit Sicherheit Verliebt« auf.
Kontakt:
marlene.muehlmann(at)uni-greifswald.de
Vanessa Meyer ist eine der Gründer- und Entwicklerinnen von Knowbody – einer App für sexuelle Bildung an weiterführenden Schulen mit Lehr- und Lerninhalten ab der 6. Klasse.
Kontakt:
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Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Jugendliche Mediennutzung Ergebnisse der JIM-Studie 2021
- Verhütungsinformationen in Sozialen Medien: TikTok überholt Instagram und YouTube
- Schwangerschaftsberatungsstellen im pandemiebedingten Wandel. Auf dem Weg in eine digitalisierte Zukunft?
- Digitalisierung im Projekt ReWiKs: Herausforderungen und Chancen
- Wir vor Ort gegen sexuelle Gewalt OnlineBeratungsnetz für Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend
- Sexualaufklärung per App
- Modellprojekt HeLB
- Frühe Hilfen digital bekannt machen – Elternansprache über Instagram
- Eine App für Familien in Dormagen
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