Schulische Sexualerziehung aus Adressat*innenperspektive
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Statistische Analysen, wie insbesondere auch die Repräsentativerhebungen zur Jugendsexualität der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, machen kontinuierlich darauf aufmerksam, dass schulische Sexualerziehung eine zentrale Quelle des sexualitätsbezogenen Wissenserwerbs Heranwachsender darstellt. Gleichzeitig offenbart Schule als Ort von Sexualerziehung, sexueller Bildung und sexueller Sozialisation insbesondere im Lichte qualitativer Forschung, die sich mit den Erfahrungen und Bearbeitungsweisen der jungen Menschen auseinandersetzt, vielgestaltige Beschränkungen. Die Frage danach, wie junge Menschen schulische Sexualerziehung erleben, stand im Zentrum der Explorationsstudie »WiSex«, die vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert wurde. Einige Ergebnisse sollen hier vorgestellt werden.
Einleitung
Schulische Sexualerziehung ist in Deutschland zu einem festen Bestandteil des schulischen Curriculums avanciert und entsprechende Inhalte bilden laut aktueller Jugendsexualitätsstudie (Scharmanski & Hessling, 2022) neben Gesprächen und dem Internet eine der wichtigsten Quellen für Sexualaufklärung. Gleichzeitig zeigt Schule als Ort von Sexualerziehung, sexueller Bildung und sexueller Sozialisation im Lichte erziehungswissenschaftlicher Forschung vielgestaltige strukturelle, inhaltliche und soziale Beschränkungen. Vor welchen Herausforderungen junge Menschen im Umgang mit schulischer Sexualerziehung stehen, ihre entsprechenden Erfahrungen und Bearbeitungsweisen stellen dabei auch gegenwärtig noch ein zentrales Forschungsdesiderat dar. Im Kontext einer explorativen qualitativen Studie rekonstruiert dieser Beitrag die Erfahrungen und Handlungsmuster im Umgang mit schulischer Sexualerziehung auf der Basis von acht narrativen Interviews1 mit jungen Menschen. Im Anschluss werden korrespondierende zentrale fachliche Herausforderungen und Unterstützungsbedarfe zur Reflexion pädagogischen Handelns im schulischen Kontext sexueller Bildung skizziert.
Ausgangslage
Schulische Sexualerziehung ist durch Richtlinien und Lehrpläne staatlich verankert und gilt spätestens seit Ende der 1990er-Jahre als selbstverständlicher Bestandteil sexueller Erziehung und Bildung (Schmidt, 2014). Gleichzeitig wird Schule als Ort sexueller Kommunikation bislang jedoch erst selten systematisch analysiert. Wenn auch vor allem sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten in den letzten Jahren intensiv diskutiert wurde (Retkowski u. a., 2018; Wazlawik u. a., 2019), existieren erst seit Kurzem verstärkt Forschungsarbeiten, die sich systematisch sexualpädagogischer Praxis im schulischen Feld aus der Perspektive von Lehrpersonen (Siemoneit, 2021; Langer, 2017; Hoffmann, 2016) und Adressat*innen2 (Klein & Schweitzer, 2018; Schweitzer, 2023) widmen. Während sich eine grundlegende Anerkennung der gesellschaftlichen Pluralisierung von Lebensformen mittlerweile in nahezu allen pädagogischen Konzeptionen zu schulischer Sexualerziehung widerspiegelt, spricht einiges dafür, dass diese Konzeptionen im Schulalltag gegenwärtig eher wenig Bedeutung erlangen (Scharmanski & Hessling, 2022; Hoffmann, 2016). Ebenso erweist sich differenziertes empirisches Wissen zu den Perspektiven der Adressat*innen, bei dem gleichzeitig ihre soziale, geschlechtliche und sexuelle Positioniertheit reflektiert wird, als zentrales Desiderat in der empirischen, theoretischen und praktischen Auseinandersetzung um schulische Sexualerziehung. In den Interviews der hier vorgestellten Explorationsstudie wird deutlich, dass insbesondere Diskrepanzen zwischen den subjektiven Relevanzen und sexualitätsbezogenen Alltagsrealitäten auf der einen Seite sowie Inhalten und Formen schulischer Sexualerziehung auf der anderen Seite auf ambivalente Weise erlebt werden und die Adressat*innen diesen herausfordernden Diskrepanzen in unterschiedlichen Bearbeitungs- und Bewältigungsweisen begegnen. Zusätzliche Differenzerfahrungen im Rahmen des Unterrichts, in Form von Diskriminierungen, Fremdbestimmung und Missachtungen, werden insbesondere von den nicht-heterosexuellen jungen Menschen formuliert. Dabei wird deutlich, dass schulische Sexualerziehung nicht nur ein Rahmen formaler sexueller Bildung ist, sondern auch als »Ort normativer Subjektbildung« (Kleiner, 2015) fungiert, in dem Schüler*innen vielfach heteronormativ adressiert werden und sich hierzu verhalten müssen. Sowohl die wahrgenommenen fehlenden Korrespondenzen zwischen curricularen Bildungsinhalten und den individuellen sexuellen Lebenspraktiken, Wünschen und Themen als auch die Erfahrungen von defizitärer Differenz lassen sich als bedeutsame geteilte Realitäten junger Menschen beim Erleben schulischer Sexualerziehung herausarbeiten, die Gegenstand der rekonstruktiven Analysen dieses Projekts waren.
Ausgewählte Ergebnisse
Die Narrationen der jungen Menschen machen unterschiedliche Bearbeitungsweisen dieser Diskrepanz- und Differenzerfahrungen sichtbar, die sich als zwei übergeordneten Muster des Umgangs mit schulischer Sexualerziehung rekonstruieren lassen:
Das erste Muster verdichtet die Selbstpositionierung der jungen Menschen als planvolle Akteure ihrer sexuellen Lebensführung. In den entsprechenden biografischen Erzählungen ließen sich ein hohes Maß an Orientierungssicherheit, eine feste Überzeugung der eigenen Handlungsfähigkeit, eine starke Ausrichtung auf Eigenverantwortung sowie stabile Selbstwirksamkeitsüberzeugungen rekonstruieren. Diskrepanz- und Differenzerfahrungen im Kontext schulischer Sexualerziehung werden dominant durch das Bemühen um Vereinbarkeit, De-Thematisierungen und Normalisierungen beantwortet. Charakteristisch ist dabei, dass es diesen jungen Erwachsenen etwa gelingt, ihre eigene sexuelle Orientierung, wenn sie thematisiert wird, durch Konformitätsdeutungen mit der im schulischen Setting aktualisierten heteronormativen Ordnung in Einklang zu bringen. So etwa bei Sonja, die zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt ist, sich als lesbisch beschreibt und gerade ihr Abitur abgeschlossen hat. Immer dann, wenn ihre Mitschüler*innen Sonja als lesbische junge Frau adressieren, normalisiert sie ihre sexuelle Orientierung durch Analogisierung. So auch in folgender Passage, als Sonja im Rahmen des Sexualkundeunterrichts von einem Mitschüler nach ihren Erfahrungen befragt wurde: »Ja ich wurde dann in der Klasse gefragt, wie es dazu gekommen is, dass ich lesbisch bin, und dann hab ich das halt immer so gesagt: Das is genau das Gleiche wie bei euch. Ihr findet, nen Jungen toll, und bei mir isses halt nur'n Mädchen, fertig, aus, das is doch eigentlich das Gleiche« (Sonja, 19, lesbisch, Gymnasium).
So lässt Sonja in Interaktionen wenig Raum für potenzielle Versuche der Besonderung durch ihre Mitschüler*innen, in der sie vermeintliche und reale Unterschiede im Hinblick auf ihr sexuelles Begehren in diesem Kontext zu negieren versucht. Im Einklang mit dieser Strategie der Normalisierung und Nicht-Nennung von Diskriminierungs- und Missachtungserfahrungen berichtet Sonja im Vergleich zu den anderen nicht-heterosexuellen Interviewpartner*innen von weitaus weniger homonegativen Erfahrungen während ihrer Schulzeit. Gleichwohl berichtet sie, wie alle nicht-heterosexuellen Interviewpartner*innen, von einer ausschließlich heteronormativen Sexualkunde, die nichts mit ihrer sexuellen Lebensrealität zu tun hat: »Ich wusste damals schon indirekt, dass ich das niemals brauchen werde.«
Auch Nadim lässt sich als planvoller Akteur seiner sexuellen Lebensführung beschreiben. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews 21 Jahre alt, beschreibt sich als heterosexuell, hat seinen Realschulabschuss gemacht und studiert gerade an einer Fachhochschule. Er berichtet von umfangreichen rassistischen Diskriminierungserfahrungen durch seine Lehrkräfte aufgrund seiner Herkunft und seiner religiösen Zugehörigkeit. Die Thematisierung von Sexualität in der Schule folgt in Nadims Erleben nahezu ausschließlich im Modus der Problematisierung. Nadim berichtet, dass über Sexualität nur dann gesprochen wurde, wenn es aus Sicht der Lehrkräfte Probleme gab. Insgesamt – so resümiert Nadim seinen Sexualkundeunterricht – kann er dem erlebten Inhalt und der wahrgenommenen biologischen Verengungen der schulischen Auseinandersetzung mit Sexualität nur wenig subjektive Relevanz beimessen. Was er für wichtig hält, lernt er bei seinem islamischen Lehrer: »Seit ich mehr zu Religion gefunden habe, fühl ich mich im Bezug auf Sexualität viel aufgeklärter, ehm, ich hatte natürlich auch dann nicht wirklich einen ganzen Überblick gehabt, sondern wenn´s um Sexualität ging, war ich ja eher so halb aufgeklärt. Man hat ja immer so auf der Straße gesehn, ja, man muss ja immer so mit den Mädchen das und das machen, das wird ihr gefallen. Es warn, immer nur so Machodinger, ehm, mein Lehrer in der islamischen Erziehung, der war sehr offen mit mir. Ich hab mich eigentlich sehr geschämt, mit ihm drüber zu reden« (Nadim, 21, heterosexuell, Realschule). Insbesondere »heiße Eisen« schulischer Sexualerziehung wie Pornografie-Konsum, Masturbation oder der Umgang mit jungen Frauen sind für Nadim Themen, die innerhalb der Schule als unbesprechbar erlebt werden. Explizit solche Themen sind es, die er außerhalb der Schule, insbesondere mit seinem religiösen Lehrer, bearbeitet.
Sebastian ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt, besucht ein Gymnasium und beschreibt sich selbst als schwul. Auch er empfindet die Inhalte seiner schulischen Sexualerziehung als mangelhaft und zu weit von seiner sexuellen Lebensrealität entfernt: »Ich find, er hat zu wenig aufgeklärt, wie Krankheiten noch übertragen werden. Es ist ja nicht so, dass Sex … dass man nur den Penis in die Vagina einführt; ich hab mich dann auch so gefragt: Kann man von Blowjobs irgendwie Geschlechtskrankheiten kriegen? Das wusste ich halt alles nich, also, ich fand eine Stunde halt echt wenig. Das hab ich dann alles erst im queeren Jugendzentrum mitgekriegt« (Sebastian, 19, schwul, Gymnasium).
Es ist keinesfalls ein neuer Befund, dass sexualitätsbezogene Themen, die über die biologische Dimension hinausgehen, von Lehrkräften oft nicht besprochen werden (Heßling & Bode, 2015, S. 36), auch wenn es gerade jene Themenfelder sind, zu denen Schüler*innen mehr erfahren möchten (Heßling & Bode, 2015, S. 70). Sowohl Nadim als auch Sebastian kompensieren ihren Wissensbedarf außerhalb der Schule. Sie entwickeln als planvolle Akteure ihrer sexuellen Lebensführung Strategien, mit denen sie aktiv die für sie relevanten sexuellen Situationen, Wissensbedarfe und Herausforderungen bearbeiten. Offenkundig setzen solche Strategien allerdings Ressourcen voraus. Genutzt wird, was den jungen Menschen subjektiv zugänglich ist und sinnhaft erscheint, um sexuelle Handlungsfähigkeit zu erwerben, seien es Unterstützungsangebote durch religiöse Autoritäten oder Kontakte aus dem queeren Jugendzentrum. Obgleich solche non-formalen und informellen Orte sexueller Bildung aus Sicht der jungen Menschen der defizitären schulischen Wissensvermittlung überlegen zu sein scheinen, bleibt es eine offene Frage, welche Beschränkungen in der Kommunikation mit (sexual)pädagogischen Lai*innen virulent werden, wie die jungen Menschen in diesen Settings ihre Themen, Konflikte, Herausforderungen und Sorgen bearbeiten können.
Im zweiten Muster lassen sich die Erzählungen der Interviewten zu einer Selbstpositionierung als in ihrer sexuellen Lebensführung verunsicherte Akteure verdichten. Charakteristisch für solche biografischen Narrationen ist die Explikation mitunter erheblicher Orientierungsunsicherheit bezüglich sexualitätsbezogener Herausforderungen und Konflikte sowie das Erleben geringer Selbstwirksamkeit im Kontext sexueller Lebensführung. So berichtet beispielsweise Phillip, der zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt ist, sich als heterosexuell beschreibt und gerade sein Abitur absolviert hat, von massiven Verunsicherungen, wenn er seine prägnantesten Erinnerungen an den Sexualkundeunterricht folgendermaßen resümiert: »Und da war dann auch dieser Punkt dann so, wo man bisschen Angst hatte, fand ich, vor dieser Aidsgeschichte so, weil das uns in der siebten Klasse so gesagt wurde, aber auch, ehm, dann wurde da auch nich näher drauf eingegangen, dann wird man dann halt todkrank, so ungefähr […] dann schwebt dieses Aids so über dem Sexualkundeunterricht drüber« (Philipp, 20, hetero, Gymnasium). Philipp erlebt sich durch eine für ihn als unzureichend empfundene Bearbeitung der Themen HIV und Aids stark verunsichert. Dieses Thema überschattet für ihn nicht nur die gesamte Sexualerziehung, sondern verfolgt ihn offenbar nachhaltig über den Unterricht hinaus, wenn er sich etwa an sein »Erstes Mal« erinnert: »Oh Gott, man kann davon auch noch krank werden jetz, und wo dann muss man auch noch aufpassen, dass man kein Kind erzeugt.«
Solche Verunsicherungserfahrungen gehen aus der verkürzten Thematisierung sexualerzieherischer Inhalte hervor. Sie korrespondieren mit Differenzmarkierungen, Othering-Erfahrungen und Missachtungen in Schule und, im Rahmen schulischer Sexualerziehung, mit Irritationen und Verunsicherungen, von denen nicht-heterosexuelle junge Menschen verstärkt berichten. So erzählt Anja, die zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt ist, sich als bisexuell beschreibt und eine Gesamtschule besucht hat, von ihren Erfahrungen im Rahmen schulischer Sexualerziehung: »Es war so zu der Zeit, in der, ehm, meine Mitschüler mich halt Lesbe genannt haben und, ehm, dann hieß es dann auch jaa, neben dem Normalen gibt es aber auch noch was anderes, und zwar kann es auch sein, dass sich Mädchen in Mädchen verlieben und Jungs in Jungs. Thema vorbei, das war's, mehr gab's dann nicht, also wurd schon von, also, von Anfang an wird da eigentlich schon suggeriert, dass, ehm, Homosexualität irgendwie falsch ist … ich war dann halt total verwirrt, weil ich dachte, ja, warum is das jetz was Schlimmes?« (Anja, 20, bisexuell, Gesamtschule). In Anjas Erzählung zu ihrem Erleben der Thematisierung von Sexualität in der Schule offenbart sich, wie spezifische und selektive Formen sexueller Normalitätskonstruktionen und Differenzmarkierungen zusammenwirken können. So wird Anja sowohl persönlich von ihren Mitschüler*innen als Lesbe etikettiert und ihre eigene sexuelle Orientierung durch die Ausgestaltung schulischer Sexualerziehung als von der Norm abweichend diskriminiert. Schulische Sexualerziehung erlebt sie als Reproduktion jener Diskriminierungserfahrung, die sie durch ihre Mitschüler*innen erfährt und die sie erheblich verunsichern.
Fazit
In aller Kürze wird in den biografischen Erzählungen erstens sichtbar, dass schulische Sexualerziehung zwischen subjektiv bedeutungslos, biologisch verkürzt und nachhaltig beschämend erinnert wird. Zweitens wird darüber hinaus offenkundig, dass die Konsequenzen so erlebter schulischer Sexualerziehung den Bewältigungsstrategien und Handlungsressourcen der jungen Menschen überantwortet werden, während schulische Sexualerziehung drittens selbst offenbar nur wenig dazu beiträgt, die sexuelle Handlungsfähigkeit ihrer Adressat*innen zu stärken und ihnen als unterstützend erlebte Ressourcen und »lebensdienliche Wissensbestände« (Bonfadelli 1998) zu eröffnen. Sexuelle Handlungsfähigkeit müssen die jungen Menschen vielmehr in expliziter Abgrenzung von defizitärer Sexualerziehung sowie der Abarbeitung der damit korrespondierenden Diskrepanz- und Differenzerfahrungen erwerben. Beide rekonstruierbaren Muster des Erlebens und Bearbeitens schulischer Sexualerziehung und sexualitätsbezogener Kommunikation in der Schule verweisen auf bedeutsame Herausforderungen an der Schnittstelle schul-, sozial- und sexualpädagogischer Professionalisierung. Hilfreich kann sich dabei bereits der Rekurs auf die klassische Figur des »lebensdienlichen Wissens« erweisen, wie sie bereits vor vielen Jahren von Heinz Bonfadelli (1994) in die erziehungswissenschaftliche Diskussion um Wissensklüfte und soziale Ungleichheitsverhältnisse eingebracht wurde. Einerseits gibt es wohl nur wenige Themenbereiche, die für junge Menschen zumindest zeitweise eine größere subjektive Relevanz entfalten als sexualitätsbezogene Fragen, die Arbeit am eigenen, passenden sexuellen Lebensentwurf und dem Erwerb sexueller Handlungsfähigkeit. Hierbei verbinden sich Bedarfe an mehrdimensionalem Faktenwissen mit Bedarfen an Orientierungs- und Reflexionswissen, um sich in diesem Zusammenspiel mit den vielgestaltigen Normierungen des Sexuellen auseinandersetzen zu können und sich sukzessive auch im eigenen Leben als sexuell handlungsfähig zu erfahren. Zweifelsohne verschränken sich in pädagogischen Institutionen und somit auch im Kontext schulischer Sexualerziehung Versuche der Gewährleistung einer Autonomie der Lebenspraxis mit normalisierenden Kontrollfunktionen. Gleichzeitig bleiben Ziele und Inhalte mit normativen Deutungen, Beurteilungen und Bewertungen verknüpft. Dabei sind Fragen danach, was in welcher Form wie pädagogisch zu bearbeiten sei, von gesellschaftlichen und fachlichen Definitionsprozessen abhängig. Gegenwärtig scheint die Stimme der Adressat*innen dabei noch immer ausgesprochen selten Gehör zu finden, während sie jedoch gleichzeitig diejenigen sind, denen zugemutet wird, mit den Defiziten schulischer Sexualerziehung zurechtzukommen. Bei den ihnen dabei zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien werden sie auf ihre eigenen Ressourcen zurückgeworfen. Soll auch in der Schule ein Ziel sexualerzieherischen Handelns in der Sicherstellung der Autonomie der Lebenspraxis von jungen Menschen liegen, könnte diese Einsicht bedeuten, sich auch im Hinblick auf sexualitätsbezogene Fragen mit den institutionellen, sozialen und personellen Voraussetzungen menschlichen Wohlergehens und menschlicher Entfaltung auseinanderzusetzen. Die systematische Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern schulische Sexualerziehung aus Sicht der Adressat*innen lebensdienlich gestaltet werden könnte, könnte ein Anfang sein.
Fußnoten
1Hierzu wurden in der Explorationsstudie zunächst heterogen positionierte junge Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahren retrospektiv mittels biografisch-narrativer Interviews (Schütze, 1987) befragt. Im Anschluss daran wurden weitere acht Gruppendiskussionen durchgeführt, die im Rahmen einer Dissertation zur Rekonstruktion sexueller Sozialisationsprozesse junger Erwachsener im Rückgriff auf die Dokumentarische Methode (Bohnsack, 2021) ausgewertet wurden (Schweitzer, 2023).
2Auf Wunsch der Autor*innen wird in diesem Beitrag der Gender-Stern verwendet.
Zitation
Klein, A., & Schweitzer, J. (2023). Schulische Sexualerziehung aus Adressat*innenperspektive, FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 80–85.
Veröffentlichungsdatum
Alexandra Klein, Dipl.-Päd., Dr. phil., ist Professorin für Erziehungswissenschaft im Schwerpunkt Heterogenität und Diversität am Institut für Erziehungswissenschaft, AG Sozialpädagogik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Heterogenität und Ungleichheiten in Kindheit und Jugend, Interventionslogiken Sozialer Arbeit sowie quantitative und qualitative Unterstützungsforschung.
Kontakt:
alexandra.klein(at)uni-mainz.de
Jann Schweitzer, M.A. Erziehungswissenschaften, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages und stellvertretender Bundesvorsitzender bei pro familia e.V.. Arbeitsschwerpunkte: Sexualität und Soziale Arbeit, Theorie und Empirie von Ungleichheit im Jugendalter, schulische Sexualerziehung und sexualitätsbezogene Bildungsforschung.
Kontakt:
info(at)jannschweitzer.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
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- Die Sicht der Eltern auf die Sexualaufklärung ihrer Kinder
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- Sexualisierte Gewalt in der Jugendphase − ein Vergleich dreier repräsentativer Studien
- „Wie geht’s euch?“ Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*
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- Schulische Sexualerziehung aus Adressat*innenperspektive
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- Die EMSA-Studie – Erstes Mal, Menstruation und Schwangerschaftsabbruch in Sozialen Medien
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