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FORUM 2–2022

Qualifizierung im Bereich sexueller Bildung

Parallel zum Bedeutungszuwachs sexueller Bildung in Deutschland sind die Qualifizierungs­möglichkeiten in den letzten 30 Jahren sowohl quantitativ als auch qualitativ gewachsen. Sie bedürfen einer kritischen Bestandsaufnahme, um sich als Bestandteil aktiver Professio­nalisierung in diesem gesellschaftlichen Handlungsfeld weiterentwickeln zu können. Der Artikel legt die theoretischen Grundlagen für eines solches Vorhaben.

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Parallel zum Bedeutungszuwachs sexueller Bildung in Deutschland sind die Qualifizierungs­möglichkeiten in den letzten 30 Jahren sowohl quantitativ als auch qualitativ gewachsen. Sie bedürfen einer kritischen Bestandsaufnahme, um sich als Bestandteil aktiver Professio­nalisierung in diesem gesellschaftlichen Handlungsfeld weiterentwickeln zu können. Der Artikel legt die theoretischen Grundlagen für eines solches Vorhaben.

30 Jahre sexuelle Bildung  in Deutschland

Sexuelle Bildung entwickelte sich seit Beginn der 1990erJahre, etwa zeitgleich mit dem Auftrag der BZgA zur Sexual aufklärung im Rahmen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG), von einer randständigen Disziplin privater und öffentlicher Sexualerziehung zu einer ständig expandierenden Querschnittsaufgabe des Bildungs-, Sozial- und sogar Gesundheitssektors. Auch wenn die institutionelle Professionalisierung der Entwicklung des gesellschaftlichen Bedarfs noch weit hinterherhinkt, ist die Ausweitung und Ausdifferenzierung sexueller Bildung doch beachtlich. Die begriffliche Anerkennung sexueller Kompetenzvermittlung als Bildungsaufgabe des privaten und öffentlichen Sektors hat ihre zentralen Grundlagen in der Anerkennung sexueller Selbstbestimmung als staatsbürgerlichem Grundrecht, der damit einhergehenden Ausdifferenzierung sexueller Identitäten, Präferenzen und Praktiken und der Abwehr von gewalttägigen Übergriffen und Diskriminierungen, die diesem Grundrecht entgegenstehen. Dabei geht es nicht nur um den formalrechtlichen Schutz von »Leib und Leben«, sondern auch um die Befähigung aller Gesellschaftsmitglieder zur Wahrnehmung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in allen Bereichen ihres Sexuallebens. Dazu gehören laut WHO-Definition die Selbstdefinition der geschlechtlichen und sexuellen Identität, die reproduktiven Rechte auf Nachkommenschaft, die Wahl der Beziehungs- und Lebensweisen sowie der Varianten des Begehrens.
Weil formalrechtliche Möglichkeiten in einem historisch gewachsenen kulturellen System ungleicher Machtpositionen und damit einhergehender Sozialisationszwänge noch keine substanzielle Selbstbestimmung zur Folge haben, mussten die offensichtlichen wie auch unterschwelligen Strukturen, Beziehungen und Verhaltensmuster bestehender Sexualverhältnisse erst dekonstruiert werden, um neue und gerechtere Möglichkeitsräume zu erschließen. Das erfolgte in den letzten 30 Jahren durch eine sich entfaltende Sozial- und Sexualforschung, nicht zuletzt unterstützt und flankiert von den Anerkennungskämpfen jener gesellschaftlichen Gruppen, die unter dem bestehenden System heteronormativer Selbstverständlichkeiten zu leiden hatten oder sich zumindest nicht damit identifizieren konnten. Aber auch im gesellschaftlichen Mainstream des durchschnittlichen Lebenslaufs von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen wuchs seit der sogenannten sexuellen Revolution der 1970er- und 1980er-Jahre das Bedürfnis, sexuelle Selbstbestimmung als eine Quelle des sexuellen Wohlbefindens zu begreifen und sich die dazu notwendigen Kompetenzen anzueignen. 

Aktive Professionalisierung als Antwort auf die gesellschaftlichen Bedarfe

Die skizzierte Entwicklung sexueller Bildung fand ihre Entsprechung in Gesetzen und Verordnungen zur Absicherung und Institutionalisierung sexualerzieherischer Maßnahmen als Beitrag öffentlicher Erziehung und Bildung in Schule und Jugendhilfe. Hinzu kam das Bemühen engagierter Akteur*innen, die Professionalisierung von Sexualpädagogik aktiv zu fördern. Dazu gehörten die Durchführung von Modellprojekten, die Initiierung von Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, die Veröffentlichung fachpädagogischer und -politischer Stellungnahmen und die Interessenvertretung der Sexualpädagogik als wissenschaftlicher Disziplin in den bestehenden pädagogischen und medizinischen Fachgesellschaften. Von aktiver Professionalisierung kann gesprochen werden, weil die sexuellen Freiheitsrechte und insbesondere die Infragestellung tradierter Barrieren immer noch gegen den Widerstand konservativer Bevölkerungsgruppen durchgesetzt werden müssen. Zudem musste auch in Fachkreisen viel geduldige Überzeugungsarbeit geleistet werden, die dem Gerechtigkeitsansinnen sexueller Bildung zwar positiv gegenüberstehen, mit positiver Sexualkultur aber noch wenig anfangen konnten. Dem geduldigen und engagierten Engagement der wachsenden Zahl ausgebildeter Sexualpädagog*innen und sexualpädagogisch Fortgebildeter mit anderen Grundausbildungen ist es zu verdanken, dass die Überzeugung gewachsen ist, auch mit sexueller Bildung zur Demokratisierung und Humanisierung des Gemeinwesens beizutragen. 

Qualifizierungsnotwendigkeit in vielen Handlungsfeldern und auf allen Ebenen

Die Heterogenität der Adressat*innen und der mit ihnen korrespondierenden Bezugspersonen (Eltern und andere Erziehungsberechtigte) und Fachkräfte (Erzieher*innen, Lehrkräfte, Erwachsenenbildner*innen, Pflegepersonen) machte schnell deutlich, dass Qualifizierungsmaßnahmen mit stark abgestufter Intensität und sexuelle Bildung mal als Kernaufgabe und mal als ein Thema unter vielen anderen gelehrt werden musste. Je nach Altersgruppe (Kindheit, Jugend, Erwachsene, alte Menschen), nach Handlungsfeld (Schule, Jugendarbeit, Erziehungshilfe, aufsuchende Sozialarbeit, Gesundheits- oder Freizeitsektor) und auch Handlungsebene (Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention, Verhaltensmodifikation und Organisationsbezug, sexualpolitisches Engagement) mussten Qualifizierungswege unterschiedlich konzeptioniert und institutionalisiert angeboten werden. Das ist sowohl quantitativ als auch qualitativ bisher unterschiedlich gelungen. Große außerschulische Handlungsfelder wie Jugendarbeit, Erziehungs- und Familienhilfe reagierten aufgrund politisch vorgegebener Gesetze und Erlasse relativ schnell und flexibel auf die Notwendigkeit der Qualifizierung des Personals. Sie schickten ihre Mitarbeiter*innen in die extern angebotenen Weiterbildungen oder sorgten für sexualpädagogische Qualifizierungen im eigenen Fortbildungskontext. Curriculare Innovationen in der Schule benötigten größere politische und wissenschaftliche Interventionen, um die Träger universitärer Grundausbildungen sowie die Fort- und Weiterbildungsinstitute der einzelnen Bundesländer von der Aufnahme und Ausweitung sexualpädagogischer Ziele, Themen und Methoden zu überzeugen. Sehr hoffnungsvoll gestaltet sich die Nachfrage nach Qualifizierungsangeboten im Gesundheitssektor, seit auch die Krankenkassen das Thema sexuelle Gesundheit entdeckt haben1 und auch im alternativen Medizinsektor »gesundheitsrelevante Sexualkulturbildung« angeboten wird.2 Sexualkulturgestaltung ist seit der im Gesundheitswesen gern gesehenen »SettingPrävention« und der Etablierung von Schutzkonzepten zur Gewaltprävention in vielen Organisationen ohnehin ein zunehmend gefragtes Handlungsfeld, das auch mittels sexueller Bildung vorangetrieben werden kann.
Dass in allen diesen Bereichen die Qualifizierung des Personals durch sexuelle Bildung vor allem über das Motiv der Risikominderung und Gefahrenabwehr etabliert wurde, muss nicht mehr ausdrücklich begründet werden. Aber auch angesichts dieses Themas zeitigt die aktive Professionalisierung dadurch Erfolge, dass die Zusammenhänge zwischen sexueller Kompetenz und sexuellem Wohlbefinden einerseits und geringerer Neigung zu gewaltsamen Grenzüberschreitungen und sexuellen Risiken verdeutlicht werden konnten (Sielert & Kopitzke, 2022b). 

Die Qualifizierung lebt von den Fortschritten von Forschung und Theorieentwicklung

Professionalisierung besteht im Kern – wie zuvor aufge zeigt – aus der gesellschaftlich anerkannten Bearbeitung bedeutsamer Probleme und Themen. Hinzukommen müssen die Theorieentwicklung im definierten Gegenstandsbereich sowie evaluierte Strategien und Methoden der Problembearbeitung und auch eine anspruchsvolle Qualifizierung des Fachpersonals. Letzteres steht hier im Mittelpunkt der Ausführungen, ist jedoch eng verwoben mit den beiden anderen Variablen der Theorieentwicklung und Strategie-/ Methoden-Entfaltung. Die wiederum repräsentiert sich durch Handlungstheorien, die der sexuellen Bildung zur Verfügung stehen (Sielert, 2022a). Bisher gehört vieles dazu, was zur sexuellen Bildung veröffentlicht wurde und zumindest als Fragment einer allgemeinen Handlungstheorie begriffen werden kann (ebenda). Sie kann als Navigationssystem verstanden werden, das Wissen und Perspektiven anbietet, Praxisphänomene und Praxisfragen einordnet und bearbeitet. Handlungstheorien setzen sich in der Regel aus Gegenstandswissen, Erklärungswissen, Werte- oder Kriterienwissen, Verfahrenswissen, Funktionswissen und Evaluationswissen zusammen (ebenda).
Neben den Bausteinen einer allgemeinen Handlungstheorie der sexuellen Bildung existieren inzwischen einzelne mehr oder weniger ausdifferenzierte Teiltheorien mit begrenzter Reichweite, die ein ganz spezifisches Thema, eine erzieherische Komponente oder Zielgruppe in den Vordergrund stellen: antirassistische sexuelle Bildung, Antidiskriminierungskonzepte, wertebewusst-christliche sexuelle Bildung, gewaltpräventive Sexualerziehung, interkulturelle Bildungsarbeit und queere sexuelle Bildung (ebenda). Jede dieser Handlungstheorien setzt bei der Qualifizierung der sie umsetzenden Fachkräfte spezifische Akzente und bildet oft die Grundlage für eigene Qualifizierungsanstrengungen jener Institutionen und Initiativen, die sich mit dem jeweiligen Konzept identifizieren. Gleichzeitig werden viele Themen und Erkenntnisse aus diesen Partialtheorien in die allgemeine Handlungstheorie der sexuellen Bildung integriert, die dann größeren Aus- und Fortbildungskonzepten zugrunde liegt. Das gilt sowohl für die Hochschulausbildungen (in denen oft Vertreter*innen einzelner Handlungstheorien als Lehrbeauftragte tätig sind) als auch die längerfristigen Weiterbildungen, die ihr Konzept fortlaufend an der sexualpädagogischen Fachdiskussion ausrichten.
Eine weitere Quelle der Entwicklung und Aktualisierung von Qualifizierungsmaßnahmen sind systematische Überlegungen zur sexualpädagogischen Kompetenz. Seit Gründung der Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp)3 und – auf europäischer Ebene – der Sexualpädagogischen Allianz4 wurde in Tagungsworkshops, Projekten und Strategiepapieren im Rahmen der Professionalisierungsbemühungen zu dieser zentralen Frage gearbeitet: »Welche Kompetenzen brauchen Sexualpädagog*innen?«. Ein aktueller Zwischenstand wird genau mit dieser Überschrift in einem Handbuchbeitrag von Frank Herrath (2022) dokumentiert.

Struktur und Qualität der Qualifikationslandschaft

Die Vielfalt der Ziele und Themen, der Anwendungssituationen und Vermittlungsformen sexueller Bildung sowie die Berufe, Tätigkeitsfelder und Zeitkontingente der zu qualifizierenden Personen erfordern eine flexible und ausdifferenzierte Qualifikationslandschaft. In der Regel handelt es sich dabei um Erwachsenenbildung mit den themenbezogenen didaktischen Besonderheiten und Vermittlungsmodalitäten, die den jeweiligen Hauptaufgaben der zu qualifizierenden Fachkräfte damit kompatiblen Erfordernissen sexueller Bildung entsprechen müssen. Eine Lehrkraft im Gymnasium muss zur sexuellen Bildung anders qualifiziert werden als eine Erzieherin, eine Beraterin von pro familia, eine Präventionsfachkraft zur Vermeidung sexualisierter Gewalt oder eine Dozentin für sexuelle Bildung, die in der universitären Grundausbildung oder einem Weiterbildungsinstitut tätig ist. Das Curriculum unterscheidet sich je nach Anforderungen an Informationsvermittlung und Diskursfähigkeit, Werteerhellung, Fallverstehen, biografischer Selbstreflexion, Konzept- und Theoriekompetenz und Beteiligung an Forschungsaktivitäten sowie den inhaltlichen Bausteinen, die mit dem jeweiligen Arbeitsfeld zu tun haben. Zudem bemühen sich alle Qualifikationsträger in der Regel, den neueren didaktischen Vermittlungsformen im Bereich der Bildungswissenschaft gerecht zu werden. Momentan gilt das vor allem für den Einbezug digitaler Vermittlungsweisen und verschiedener Formen der Hybridlehre bzw. des Blended Learning in das Qualifikationsangebot, um sowohl Qualität zu gewährleisten als auch – bei berufsbegleitenden Maßnahmen – eine »geschmeidige« Einpassung der Qualif izierung in den Berufsalltag zu ermöglichen.

Aus, Fort und Weiterbildungen im quartären Qualifizierungssektor

In Bildungspolitik und Bildungsmanagement umfasst der quartäre Qualifizierungssektor alle Formen der privaten und beruflichen Weiterbildung, die vom Deutschen Bildungsrat als Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens definiert wurden. Vor der Integration von sexueller Bildung in pädagogische Erstausbildungen bestand allein im quartären Sektor die Möglichkeit, sich in Sexualpädagogik nicht nur fort- und weiterzubilden, sondern auch ausbilden zu lassen. Selbst wenn das Institut für Sexualpädagogik (isp) für seinen zweijährigen Basiskurs seit 1989 eine pädagogisch relevante Grundausbildung voraussetzte, wurden die Kandidat*innen in der Disziplin Sexualpädagogik erst im isp systematisch und curricular organisiert ausgebildet. Das gilt sowohl für dieses Institut des quartären Bildungssektors als auch für vergleichbare Basiskurse anderer Anbieter noch heute, weil das Basisangebot zur sexuellen Bildung nur auf einen sehr kleinen Kreis von Hochschulen und Universitäten beschränkt ist und nur ein kleiner Teil der dort tätigen Dozent*innen die sexualpädagogische Expertise vorweisen können, die im Dozent*innenkreis beispielsweise des isp vertreten ist.
Weil also die Qualifizierung in den regulären pädagogischen Grundausbildungen von Anfang an unzureichend war und es rein quantitativ immer noch ist, liegt die Hauptlast der Qualifizierung von Fachkräften im freigewerblichen Bereich bzw. im Aus-, Fort- und Weiterbildungssektor der großen sozialen Dienstleistungs- und Fachorganisationen. Dazu gehören beispielsweise5

  • die schon erwähnten auf Sexualpädagogik spezialisierten Angebote wie jene des Instituts für Sexualpädagogik (isp), der Praxis für Sexualität Düsseldorf/Essen, des Bildungskollektivs Biko Berlin;
  • Träger des Erziehungs-, Sozial- und Gesundheitswesens, insbesondere das Diakonische Werk, die Caritas, das Deutsche Rotes Kreuz, der Paritätische, die Arbeiterwohlfahrt, pro familia, Aktion Kinder- und Jugendschutz;
  • landesspezifische öffentliche Weiterbildungsinstitute der Bildungsministerien, die vornehmlich Lehrkräfte der Schulen auch für sexuelle Bildung qualifizieren;
  • handlungstheoretisch spezialisierte Bildungskooperativen wie die Deutsche Aidshilfe/Waldschlösschen, SCHLAU NRW, Balance und Dissens Berlin, Queeres Netzwerk, LAG Jungenarbeit, Familienplanungszentrum Berlin etc.;
  • sozialwirtschaftlich arbeitende Anbieter wie z. B. der Bundesverband für Alternativmedizin, der eine Ausbildung im Bereich Sexualkultur anbietet, etc. 

Die hier genannten Sparten des quartären Qualifikationssektors und die genannten Beispiele spiegeln keineswegs die Quantität und Qualität der Angebote oder die zahlreichen Verbindungen untereinander wider. Allein das Institut für Sexualpädagogik (isp) soll besonders hervorgehoben werden, weil es inzwischen auf eine lange Tradition einer sich ständig ausweitenden und ausdifferenzierenden Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich sexueller Bildung und Beratung zurückblicken kann. Eine Vielzahl aus- und weitergebildeter Sexualpädagog*innen sind als Dozent*innen in den jüngeren und spezialisierteren Qualifizierungen der anderen Ebenen und Träger tätig, bieten in eigenen Praxen Fortbildungen an oder qualifizieren sich durch eine der Hochschulausbildungen für den universitären oder Fachhochschulbereich. Die großen sozialen Dienste, Schulbehörden und Gesundheitseinrichtungen haben begonnen, ihr eigenes Personal in dem dafür vorgesehenen Qualifizierungssektor zu schulen. Der Markt der freien Anbieter im sozial- und Gesundheitswesen und der auf sexuelle Vielfalt, Gewaltprävention und Antidiskriminierung spezialisierten Bildungseinrichtungen ist inzwischen stark angewachsen und unübersichtlich geworden. Soweit die BZgA weiterhin den Anspruch verfolgt, die Qualifizierung im Bereich sexueller Bildung mit Ressourcen und Material zu versorgen und einen Überblick über die Angebote zu ermöglichen, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt wieder eine Recherche aller Qualifizierungsangebote vonnöten und damit eine Neuauflage des Wegweisers aus dem Jahr 1997.

Ausbildung in Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten

Zur weitergehenden Professionalisierung von Sexualpädagogik und sexueller Bildung gehört selbstverständlich die Forschung, Theorieentwicklung und Ausbildung an den Universitäten und Hochschulen. Es ist hier bewusst die begriffliche Trennung von Sexualpädagogik und sexueller Bildung vorgenommen worden. Der nächste große Professionalisierungsschritt kann nämlich nur erfolgen, wenn die wissenschaftliche Sexualpädagogik sich als eine Unterdisziplin der Erziehungswissenschaft versteht, welche die Erforschung der gesellschaftlichen und anthropologischen Voraussetzungen sexueller Sozialisation und der kritisch-reflexiven Begleitung aller sexualbildnerischen Anstrengungen einschließlich der Qualifikationsangebote zum Ziel hat. Sexuelle Bildung als Handlungstheorie und alle auf ihr basierenden Qualifikationsangebote stünden dann im kritisch-solidarischen Austausch mit der Sexualpädagogik als wissenschaftlicher Instanz, welche

  • das Bildungsziel sexuelle Selbstbestimmung vor der impliziten oder expliziten Einflussnahme gegenläufiger gesellschaftlicher und kulturell-religiöser Interessen schützt;
  • gegebenes Denken und kulturelle Praxen analytisch infrage stellt, um der Konstruktion alternativer (auch Qualifizierungs-)Konzepte Raum zu geben;
  • in der Lage ist, das »akademisch Unbewusste« bei sich selbst aufzuklären und das eigene Analysieren und Bewerten kritisch zu hinterfragen;
  • sich vor allem bemüht, in der Praxis sexueller Bildung wie auch der Qualifizierung des Fachpersonals die ungewollten Nebenfolgen eines vielleicht gut gemeinten Erziehungs- und Bildungshandelns kritisch zu bedenken.  

Ansätze einer so verstandenen wissenschaftlichen Sexualpädagogik sind im Zusammenhang der Qualifizierung von Sexualpädagog*innen und sexualbildnerisch tätigen Praktiker*innen in den bisherigen Hochschulausbildungen auszumachen:

  • Die Hochschule Merseburg bietet einen Masterstudiengang »Angewandte Sexualwissenschaft« sowie den kostenpflichtigen Weiterbildungs-Masterstudiengang »Sexologie« an, der in Kooperation mit dem Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie in Uster/Schweiz durchgeführt wird.
  • Die Frankfurt University of Applied Sciences hat Sexualpädagogik in die Erstausbildung für das Studium der Sozialen Arbeit integriert.
  • In der Fachhochschule Kiel besteht der Schwerpunkt »Geschlechterkompetenz in der Sozialen Arbeit« mit Ansatzpunkten für sexuelle Bildung.
  • Die Medical School in Hamburg und Berlin bietet den kostenpflichtigen Masterstudiengang Sexualwissenschaft mit den Schwerpunkten »Sexualpädagogik und Sexualberatung« an.
  • In den Studiengängen weiterer Fachhochschulen existieren inzwischen Bausteine einer Ausbildung in sexueller Bildung.
  • In einigen wenigen Universitäten machen sich vor allem wissenschaftliche Mitarbeiter*innen für die Qualifizierung von Lehrkräften sowie Absolvent*innen der pädagogischen Hauptfachstudiengänge in sexueller Bildung stark. Neben der Vermittlung von Handlungstheorien in der Lehre wird Sexualpädagogik als wissenschaftliche Disziplin aber auch in diesen klassischen Institutionen für Forschung, Theorieentwicklung und Lehre noch viel zu wenig beachtet.  

Der Gegenstand von sexueller Bildung, wie er in diesem Beitrag eingangs beschrieben wurde, ist – wie die politischen Auseinandersetzungen auf der nationalen und internationalen Ebene zeigen – gesellschaftlich, institutionell und persönlich relevant wie komplex. Er muss sich daher auch auf dem Qualifikationssektor aus dem Nischendasein eines ansonsten riesigen Aus-, Fort- und Weiterbildungsmarktes befreien und stärker ins Zentrum von Bildungspolitik und Bildungspraxis gerückt werden. 

Qualitätssicherung des professionellen Handelns, Berufsethik und zukunftsträchtige Qualifizierungsfelder

Nicht nur die potenziellen Teilnehmer*innen an Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen haben ein Interesse daran, etwas über die Qualität der Angebote zu erfahren, sondern auch solche Träger, die ihren Mitarbeiter*innen eine sexualpädagogische Zusatzqualifikation finanzieren wollen. Zudem sind öffentliche Bildungsverwaltungen zunehmend in der Pflicht, gegenüber Elternvertretungen nachzuweisen, dass jene Initiativen und ihre Fachkräfte, die beispielsweise von Schulen zur Ergänzung des Sexualkundeunterrichts ein geworben werden, den dort üblichen Standards der Professionalität und Demokratietauglichkeit entsprechen. Entwickelte Professionen haben zu diesem Zweck berufsständische Vertretungen und Fachverbände ins Leben gerufen, die mit einer gewissen Unabhängigkeit von staatlichen Vorgaben und gesellschaftlichen Partialinteressen die wissenschaftliche Grundierung, demokratische Legitimität, die Ausbildungsqualität und das berufsethische Verhalten überwachen. Im Bereich sexueller Bildung dient diesem Zweck die Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp), die seit 2007 die Ausbildung von Sexualpädagog*innen zertifiziert,6 regelmäßige Fortbildungen verlangt und berufsethische Standards für Sexualpädagog*innen in der gsp entwickelt hat.7
Ob die dort formulierten fachlichen und berufsethischen Qualitätskriterien in die Qualifizierungspraxis umgesetzt werden, müsste in Evaluationsstudien nachgewiesen werden, die in die Zuständigkeit der wissenschaftlichen Disziplin Sexualpädagogik fallen. Erst vor diesem Hintergrund ist eine wünschenswerte Zertifizierung von Aus-, Fort- und Weiterbildungsträgern sinnvoll, um schon im Vorhinein die Orientierung in diesem wachsenden Markt zu erleichtern. Die Qualitätssicherung im Hochschulbereich fällt in die Kompetenz von Akkreditierungsgesellschaften, die allerdings nur auf die akademischen Ausbildungsstandards achten. Nützlich wäre in jedem Fall, bei einer neuen Auflage des BZgA-Wegweisers das bisherige Schlusskapitel über »Qualitätskriterien zur Beurteilung sexualpädagogischer Qualif izierungsmaßnahmen« zu überarbeiten und an die neue Situation anzupassen.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass allein die Bestandsaufnahme und Qualitätssicherung bestehender Qualif izierungsmöglichkeiten der aktiven Professionalisierung sexueller Bildung guttäte; dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass sich momentan Qualifizierungsfelder herausbilden, die noch viel zu wenig von den anbietenden Trägern beachtet werden. Dazu gehört die sexuelle Bildung im Kontext der Gesundheitsförderung, zumal aktuelle Studien auf die Bedeutung sexueller Gesundheit hinweisen.8 Der in diesem Zusammenhang immer wieder mal hervorgehobene »Setting-Ansatz« einer verhältnispräventiven Gesundheitsförderung wie auch die Forschungen zu sexuellen Grenzüberschreibungen in Organisationen machen deutlich, dass sexuelle Bildung sich nicht auf pädagogische Maßnahmen auf der Ebene von Haltungen und Verhalten beschränken darf. Vielmehr müssen Verbindungen zwischen Bildung und Organisationsentwicklung auch sexualpädagogisch bedacht werden, um Sexualkulturentwicklung zu ermöglichen.9 Dass sexuelle Bildung zunehmend durch Online-Angebote sinnvoll ergänzt werden kann, muss hier nicht eigens begründet werden. Die Aufnahme dieses Themas in Qualif izierungsmaßnahmen sollte zukünftig stärker beachtet werden.

Fußnoten

1 https://www.pkv.de/verband/presse/pressemitteilungen/pionierarbeit-imbereich-praevention-pkv-und-wir-zentrum-foerdern-sexuelle-gesundheitvulnerabler-junger-menschen/

2 https://www.dgam.de/index.php/praxisfelder/sexualkultur/gesundheitspraktikerin-bfg-fuer-sexualitaet

3 https://gsp-ev.de/

4 https://gsp-ev.de/die-gsp/sexualpaedagogische-allianz/

Da es in diesem Text nicht um eine möglichst vollständige Auflistung aller Qualifizierungsangebote, sondern um eine systematische Beschreibung des Aus-, Fort- und Weiterbildungssektors geht, werden an dieser Stelle nur bekannte Träger mit Beispielcharakter aufgeführt. 

6 https://gsp-ev.de/angebote/zertifizierung/

7 https://gsp-ev.de/wp-content/uploads/2019/12/Ethische_Standards.pdf

8 Sexuelle Gesundheit wichtig für Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit | Abschluss der GeSiD-Studie: https://idw-online.de/de/news795705

9 https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/arbeitshilfen/Arbeitshilfe_Sexualkultur_in_Organisationen_LVR_November_2021.pdf

Literatur

Herrath, Frank (2022). Welche Kompetenzen brauchen Sexualpädagog*innen? In: Böhm, Maika, u. a. Praxishandbuch Sexuelle Bildung im Erwachsenenalter. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 104–126.
Sielert, Uwe (2023a). Sexuelle Bildung: emanzipatorisch angelegt – kritisch-reflexiv beforscht – handlungstheoretisch konzipiert. In: Henningsen, Anja, & Sielert, Uwe (Hrsg.). Praxishandbuch Sexuelle Bildung, Prävention sexualisierter Gewalt und Antidiskriminierungsarbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 76–103.
Sielert, Uwe, & Kopitzke, Elisa (2023b). Gewaltpräventive Potenziale der Sexualpädagogik. Ein systematischer Literaturüberblick. In: Henningsen, Anja, & Sielert, Uwe (Hrsg.). Praxishandbuch Sexuelle Bildung, Prävention sexualisierter Gewalt und Antidiskriminierungsarbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 125–166.

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Dr. Uwe Sielert, Universitätsprofessor (a.D.) für Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Sozial- und Sexualpädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zurzeit Dozent an der Medical School Hamburg. Weitere Informationen: www.uwe-sielert.de
Kontakt: sielert(at)paedagogik.uni-kiel.de

 

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