PROJEKTSKIZZEN: Forschungsprojekt ReWiKs
Peer-Begleitung als Bestandteil partizipativer Forschung
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Peer-Aspekt und Emanzipation von Menschen mit Behinderung
Seit Beginn der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung von Menschen mit Behinderung in den USA spielt der Peer-Aspekt eine elementare Rolle. Mit dem Ziel der Befreiung von paternalistischen Strukturen in den Institutionen der Behindertenhilfe und der Idee, dass über Menschen mit Behinderung nicht ohne ihre direkte Beteiligung gesprochen und entschieden werden soll, hat sich der Peer-Aspekt in verschiedenen Bereichen der Selbsthilfe etabliert. Ging es hierbei lange Zeit um grundsätzliche Lebens-, Versorgungsund Teilhabefragen, so wird diese Art der Beratung und Unterstützung auf Augenhöhe zunehmend in spezifischen Themenfeldern praktiziert.
»Freiraum: Sexualität + ICH« –praktizierte Peer-Begleitung im Projekt ReWiKs
Im Forschungsprojekt ReWiKs, das die Stärkung der sexuellen Selbst bestimmung von Menschen mit Behinderung zum Ziel hat, werden in den nächsten Jahren Menschen mit Behinderung Peers im Rahmen des Aus tauschformats »Freiraum: Sexualität + ICH« begleiten. Das Format wird an vier bis sechs Orten in Deutschland etabliert und hat eine Beschäftigung mit den Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft zum Ziel, die bedürfnis orientiert und konsequent an den Wünschen der Teilnehmenden ausge richtet ist. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung der »Freiräume« liegt somit bei den Teil neh menden, ebenso wie die Frage ihrer methodischen Umsetzung. Die Freiräume werden strukturell an Zentren für Selbst bestimmtes Leben und vergleichbare Institutionen der Selbsthilfe ange schlossen und von Mitarbeitenden die ser Selbsthilfestrukturen begleitet. Damit soll eine Begegnung auf Augen höhe ermöglicht werden, die frei von institutionellen Rahmenbedingungen und mit diesen einhergehenden Hierarchien und Abhängigkeiten realisiert wird.
Seit 2016 haben sich im Rahmen der ersten Förderphase von ReWiKs bereits zwei Pilot-Freiräume etabliert, in denen sich Bewohnerinnen und Bewohner einer Einrichtung der Eingliederungs hilfe sowie Besucherinnen und Besucher eines Freizeittreffs mit Fragen sexueller Selbstbestimmung beschäftigen. Hierbei wurden sie durch Projekt mitarbeiterinnen unterstützt. Im Rahmen der Freiräume wurde durch die Auseinandersetzung sehr deutlich, dass selbstbestimmte Sexualität immer und ausschließlich im Kontext des Kontinuums von Fremd- und Selbstbestimmung denkbar, analysierbar und letztendlich auch lebbar ist (vgl. Jennessen/Marsh/Schowalter/Trübe 2019). Die sehr persönliche und intensive Auseinandersetzung mit intimen Bedürfnissen, sexuellen Fragen und strukturellen Barrieren bei der Realisierung ihrer Sexualität führte dazu, dass die Teilnehmenden ihre sexuellen Rechte und Bedürfnisse heute deutlich selbstbewusster und selbstbestimmter vertreten. Die Freiräume leisten somit einen wichtigen Beitrag zur sexuellen Gesundheit der Teilnehmenden. Hierbei wird von einem Verständnis von sexueller Gesundheit im salutogenetischen Sinne ausgegangen, das voraussetzt, dass Menschen die Möglichkeit haben, Optionen sexuellen Lebens kennenzulernen und auf dieser Grundlage (bewusste oder unbewusste) Entscheidungen für sich und die eigene Sexualität treffen zu können (vgl. Jennessen/Ortland 2018).
Die gewachsenen Kompetenzen der Teilnehmenden sollen in der laufenden zweiten Förderphase des Projekts für die neu entstehenden Freiräume nutzbar gemacht werden. Hierfür werden die erfahrenen Teilnehmenden ihre Peers im Prozess punktuell begleiten, sie bei Fragen zu Sexualität, Liebe und Partnerschaft beraten und somit einen wertvollen Beitrag zu deren persönlicher Weiterentwicklung leisten. Die Prozesse werden im Rahmen des Projekts begleitend evaluiert.
Projekt ReWiKs – Überblick über Aktivitäten
Das Modul »Freiraum: Sexualität + ICH« ist eines von drei Bereichen des durch die BZgA in einer zweiten Förder phase finanzierten Projekts ReWiKs (Lang titel: »ReWiKs: Sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung – Reflexion, Wissen, Können als Bausteine für Veränderungen«). In einem weiteren Modul werden bundesweit an sechs Stand orten Fortbildungen für Mitarbeitende von Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe – sogenannte ReWiKs-Lotsinnen und -Lotsen – angeboten. Ein drittes Modul widmet sich der Pflege und Ausdifferenzierung der umfangreichen Projektmaterialien (»ReWiKs-Medienpaket«), die bereits in der ersten För der phase entstanden sind.
Mit diesen Strategien wird das übergeordnete Ziel verfolgt, die Erkennt nisse der ersten Förderphase des ReWiKs-Projekts bundesweit und nachhaltig zu verbreiten und den Transfer der Forschungsergebnisse in Einrichtungen und Diensten der Eingliederungshilfe zu unterstützen.
Peer-Begleitung und Partizipation an Forschung
Eine Herausforderung des ReWiKs-Projekts besteht und bestand im Anspruch der Partizipation der Zielgruppe an den Forschungs- und Entscheidungsprozessen. Schon in der ersten Förder phase wurden die verschiedenen ReWiKs-Materialien in enger Abstimmung und Zusammenarbeit von Wissen schaft und Praxis entwickelt. Entstehende Konzepte und Medien wurden in unterschiedlichen Formaten immer wieder mit Mitarbeitenden sowie Bewohnerinnen und Bewohnern aus Wohneinrichtungen rückgekoppelt und somit fortlaufend evaluiert und verändert. Der Einbezug der Akteure ist Voraussetzung für die Passgenauigkeit und damit auch für die Akzeptanz und Nutzung der Erkenntnisse und Materialien durch die Zielgruppen. Diese wiederum nehmen ihre neu gewonnenen Erkenntnisse zu Fragen sexueller
Selbstbestimmung aus der Auseinander setzung mit in ihre tägliche Arbeit bzw. in ihr tägliches Leben und müssen Wege finden, ihre möglicherweise veränderte Haltung und ihr erweitertes Wissen dort zu integrieren. Dies geschieht oftmals nicht ohne Widerstände, wie die bisherigen Erfahrungen im Rahmen des Projekts sehr deutlich zeigen.
Bei Forschungsprojekten, die sich der Untersuchung konkreter Lebenswelten widmen, ist es geboten, eine (aktive) Beteiligung der jeweils betroffenen Menschen in der Forschung mit zudenken und anzustreben. Die Beteiligung kann dabei unterschiedlich stark ausgeprägt sein (z. B. von Anhörung bis zu Entscheidungsmacht) und an unterschiedlichen Stellen des Forschungsprozesses (z. B. Auswahl und Formulierung von Forschungsfragen bis Diskussion der Ergebnisse) ansetzen. Genau wie für andere marginalisierte Gruppen besteht für Menschen mit Behinderung hier die Gefahr, von Ausgrenzungsprozessen betroffen zu sein. Das Schlagwort »Nichts über uns – ohne uns« der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behält jedoch seine Berechtigung auch als handlungsleitende Maxime für Forschung und bedarf hier einer konstruktiven Aushandlungskultur zwischen den beteiligten Akteur*innen und ihren jeweiligen Interessen.
Das ReWiKs-Projekt räumt dem Peer-Aspekt in den Freiräumen eine große Bedeutung ein, wodurch einerseits eine Stärkung der Selbstbestimmung der Beteiligten und andererseits eine Verwirklichung von Partizipation an Forschung erreicht wird. Ziele, Prozesse und Ergebnisse von Forschung werden durch deren kooperative Gestaltung und Umsetzung für Menschen mit Behinderung gleichermaßen relevant und transparent und die hierbei entstehenden Erkenntnisse auch zu einem Gewinn für die universitär Forschenden!
Veröffentlichungsdatum
Sven Jennessen
ist Professor für Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlichmotorischen Entwicklung am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
Tim Krüger
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Projekts ReWiKs an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Projektüberblick:
Förderung:
Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung (BZgA)
Laufzeit: 1. 6. 2019 – 31. 5. 2022
Projektleitung:
Prof. Dr. phil. Sven Jennessen
Tim Krüger (Projektkoordination)
Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Rehabilitations wissenschaften Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung
Georgenstraße 36
10117 Berlin
Kontakt: sven.jennessen(at)hu-berlin.de
tim.krueger(at)hu-berlin.de
Weitere Informationen:
https://hu.berlin/rewiks
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Herausgebende Institution
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- Infothek - Ausgabe 01/2020