PROJEKTSKIZZEN: Beratung im digitalen Zeitalter. Über das donum vitae-Modellprojekt »HeLB« und die Coronakrise
Die Mutter auf dem Lande ohne Auto, die zum vierten Mal schwanger ist ... Die Migrantin mit Fluchterfahrung, aber ohne Erfahrung im deutschen Hilfe-, Beratungs- und Gesundheitssystem ... Die Frau mit unerfülltem Kinderwunsch, die in einer Behinderteneinrichtung lebt ... Sie und andere »schwer erreichbare« Ratsuchende sind die Zielgruppe des Modellprojekts »Helfen. Lotsen. Beraten. (HeLB)« von donum vitae. Mit Beginn der Coronakrise kamen neue Herausforderungen dazu. Dank des HeLB-Projekts konnte donum vitae früh auf die neue Situation reagieren und Beratung per Video und online anbieten.
Der Bundesverband donum vitae hat das Projekt »Helfen. Lotsen. Beraten. – Modellprojekt zur Erprobung multipler Beratungszugänge zu schwer erreichbaren Zielgruppen in der Schwangerschaftsberatung mit Schwerpunkt im ländlichen Raum« (HeLB) entwickelt. Es startete im Mai 2019 und wird über die Laufzeit von drei Jahren durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Ziel: chancengerechtere Teilhabe an den Angeboten unseres Hilfe- und Beratungssystems vor allem im ländlichen Bereich und für Frauen, die nur schwer den Weg in die Beratungsstellen finden. An 23 Pilotstandorten, die an donum vitae-Beratungsstellen angegliedert sind, werden digitale Zugangswege, neben der schriftbasierten Onlineberatung vor allem Videoberatung, erprobt und weiterentwickelt.
Onlineberatung ergänzt Präsenzberatung
Im Rahmen des HeLB-Projekts wurden Fortbildungsangebote für die beiden thematischen Schwerpunkte »Zielgruppen und ihre Zugänge« sowie »Digitalisierung und mögliche Beratungsformate« entwickelt. In einer Zielgruppen-Werkstatt näherten sich die Beraterinnen am Beispiel von Migrant*innen, gering literalisierten Menschen, Menschen mit Behinderung und mit psychischen Erkrankungen der Lebensrealität schwer erreichbarer Zielgruppen an. In der Digitalwerkstatt zeigte sich, dass digitale Kommunikationswege eine geeignete Alternative sein können, die Verbindung Berater*in/Klient*in niedrigschwellig zu gestalten. Dafür war zunächst die technische, rechtliche und inhaltliche Basis zu schaffen, um vor allem die Vertraulichkeit des Gesprächs im geschützten Raum der Beratungsstelle durch entsprechende Verschlüsselung der genutzten Programme auch im digitalen Raum zu sichern. Während die schriftbasierte Onlineberatung per E-Mail und Chat bei donum vitae schon seit mehr als zehn Jahren angeboten wird, mussten für ein Videoformat erst geeignete Programme gefunden werden. donum vitae entschied sich für eine speziell modifizierte Variante des ElVi-Systems (der La-Well Systems GmbH).
Herausforderung Medium
Die Beraterinnen an den Pilotstandorten wurden mit der notwendigen Technik ausgerüstet. Ein von einer HeLB-Beraterin spontan erstelltes Video unterstützte sie im Umgang mit der Technik, aber auch im Blick auf die besonderen Anforderungen einer Beratungssituation, in der nonverbale Kommunikationsformen wie z. B. eine Berührung mit der Hand, das Angebot einer Tasse Kaffee oder eines Papiertaschentuchs eben nicht möglich sind. Dafür kann parallel zur Videoberatung im Chatbereich geschrieben werden. Neben Kamera und Mikrofon war auch an neutrale »Studio«-Hintergründe zu denken. Das Hochzeitsfoto der Beraterin, ein vorbeilaufendes Kind oder ein dampfender Kochtopf im Hintergrund sind für ein fokussiertes Gespräch nicht förderlich.
In der Erprobungsphase zeigte sich, dass es teils Störungen gab, wenn die WLAN-Verbindung nicht ausreichte oder ein Videogespräch mit einem Smartphone beendet wurde, weil das Datenvolumen aufgebraucht war – Punkte, die die Beraterin bei der telefonischen Terminvergabe ansprechen muss. Besondere Herausforderungen bietet auch die Videoberatung in Form einer »Dreierkonferenz« (Triade) z. B. mit Dolmetscher*innen. Den Zugang zur Videoberatung erhalten Klient*innen von der jeweiligen Beraterin mit der Einladung, in der ein Link mit Zugangscode hinterlegt ist – die Klientin kann damit das virtuelle Wartezimmer betreten.
Digital und sicher durch die Pandemie
Im März 2020 wurde das öffentliche Leben wegen der Pandemie zum ersten Mal weitgehend heruntergefahren. Dank des laufenden Modellprojekts waren die HeLB-Beraterinnen für das Format der Videoberatung schon geschult. So konnten, unterstützt durch das Modellprojekt, weitere donum vitae-Beraterinnen bei Bedarf auf Video- und Onlineberatung umstellen. Viele Ratsuchende sind erleichtert, diese neuen Formate nutzen zu können. Während im Sommer die Kontaktbeschränkungen überwiegend aufgehoben wurden, verschärfen sich die pandemiebedingten Herausforderungen wieder. Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind
für Externe nicht zugänglich, ihre Bewohner*innen verfügen nur selten über eigene Endgeräte, Sammelunterkünfte verwehren den Zutritt – schwer erreichbare Zielgruppen sind noch schwerer erreichbar. Hier erweist sich deutlich, wie wichtig Blended Counseling (Emily M. Engelhardt & Richard Reindl. Blended Counseling – Beratungsform der Zukunft?; www.resonanzen-journal.org) ist, die Möglichkeit, unterschiedliche Beratungsformate, angepasst an die jeweilige Situation, anbieten zu können – von der Präsenz- über die aufsuchende bis hin zur Video- und schriftbasierten Onlineberatung. Erste Erfahrungen zeigen, dass die Angebote von den Zielgruppen unterschiedlich angenommen werden: Gering Literalisierte benötigen Präsenzberatung, Menschen mit Behinderung fehlt oft der digitale Zugang.
Rechtsgutachten zu digitalen Beratungsformen
Die Frage der Rechtmäßigkeit verschiedener digitaler Beratungsformate unter Berücksichtigung der verfassungs-, beratungs- und strafrechtlichen Vorgaben für die Schwangerschafts-(konflikt)beratung wurde im Rahmen des HeLB-Projekts durch ein Rechtsgutachten geprüft. Das Gutachten bestätigt, dass das Schwangerschaftskonfliktgesetz und
das Strafgesetzbuch digitalen Formaten der Schwangerschafts-(konflikt-)beratung nicht entgegenstehen. Grundsätzlich sind hohe datenschutzrechliche Vorgaben bei der Übermittlung gesundheitsrelevanter Daten zu beachten (Quelle: www.donum.vitae.org/service/rechtsgutachten).
Wissenschaftliche Begleitung
Das Institut für E-Beratung der TH Nürnberg unterstützt und begleitet die Projektdurchführung, insbesondere die Erprobung und Implementierung innovativer Beratungsansätze in digitaler Form, und evaluiert die einzelnen Schritte. Als Grundlage für die wissenschaftliche Begleitung des HeLB-Projekts wurde eine Wissensbasis aus verschiedenen Quellen geschaffen und eine Datenbank für die Zusammenstellung ausgewählter Forschungsliteratur angelegt. Die Literaturrecherchen belegen eine deutliche Forschungslücke bei den Themen »schwer erreichbare Zielgruppen« und »Einsatz digitaler Medien in der Beratung« im Feld der Schwangerschaftsberatung.
Weitere Informationen
Petra Schyma
Kontakt: schyma(at)donumvitae.org
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Die Professionalisierung der Onlineberatung
- Digitale Beratung in der Krise – Corona fördert Telefon- und Videointerventionen
- Präsenzberatung und Technik sinnvoll verbinden
- Digitale Beratung: Europäische Telefondienste bieten zunehmend auch Beratung per Chat und E-Mail an
- Der Krisenkompass der TelefonSeelsorge®
- Viel Kummer in Zeiten von Corona
- »Aber dann kam Corona ...«
- Liebe und Sexualität in der Onlineberatung
- »Schreiben ist lauter als denken und leichter als sagen«1
- Hebammenarbeit mittels digitaler Medien
- Frühe Hilfen – Entwicklung und Etablierung von digitalen Maßnahmen zur Unterstützung eines analogen Arbeitsfeldes
- PROJEKTSKIZZEN: Das Forschungsprojekt »Schwangerschaftsberatung während der Covid-19-Pandemie aus Sicht von Beratungsfachkräften«
- PROJEKTSKIZZEN: Beratung im digitalen Zeitalter. Über das donum vitae-Modellprojekt »HeLB« und die Coronakrise
- PROJEKTSKIZZEN: Die Digitalisierung des Sozialen und der Beitrag der Freien Wohlfahrtspflege am Beispiel der Onlineberatung der Caritas
- Infothek - Ausgabe 02/2020