Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Fortschritte, gegenwärtiger Stand und Perspektiven
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Einleitung
Forschung zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat in den letzten zehn Jahren in Deutschland einen Aufschwung erlebt. Eine Reihe von Geldgebern hat sich hier verdient gemacht. Daneben hat es auch bemerkenswerte Qualifikationsarbeiten gegeben (z.B. Hensel 2015; Vogelsang 2016), die – soweit ersichtlich – ohne Mittel der Forschungs förderung auskommen mussten. Vor allem aber sind zwei einschlägige Förderprogramme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hervorzuheben (BMBF 2016). Ohne Verwertbarkeit zum alleinigen Maßstab zu machen, ist die Frage berechtigt: Was wurde in der letzten Dekade gelernt, das uns jetzt helfen kann, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche weiter zurückzudrängen? Aber auch: Welche Fragen sind wissenschaftlich noch offen und zugleich von Bedeutung für die Praxis?
Unsere Standortbestimmung zu diesen beiden Leitfragen organisieren wir in vier Punkten:
- gesellschaftliche Selbstvergewisserungen zu Ausmaß und Facetten des Problems,
- generative Analyse (wie kommt es zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche),
- Wirkung von Präventionskonzepten,
- Translation.
Zwischen diesen vier Punkten gibt es Zusammenhänge. Inmitten der Fülle an Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft in Deutschland steht, braucht es zunächst einmal seriöse Informationen zur Verbreitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und weiteren, zu bearbeitenden Folgeproblemen. Konkrete Ansatzpunkte für die Prävention können im nächsten Schritt aus der generativen Analyse abgeleitet werden. Als generative Analyse werden in der Präventionsforschung (Price 1983) alle Ansätze bezeichnet, die sich mit den Entstehungsweisen und Kontextbedingungen sexueller Gewalt gegen Kinder bzw. Jugendliche beschäftigen. Ob so entwickelte Ideen tatsächlich einen Beitrag zur Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche leisten können, ist dann im Rahmen von Wirkungsforschung zu klären. In der Translationsforschung geht es schließlich darum, wie wirksame Handlungsansätze möglichst gut verbreitet werden können und eine lernende Gemeinschaft entsteht, die Praxis und Wissenschaft in dem Ziel vereint, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche weiter zurückzudrängen.
Die Arbeit gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen bewegt viele Menschen und Institutionen. Weiter entwicklungen bauen vielfach vorrangig auf Praxiserfahrungen auf. Auf der Bundesebene gilt dies etwa für die »Bundesweite Fortbildungsoffensive« (Eberhardt/Naasner/Nitsch 2016). Andere Initiativen, wie die Empfehlungen des Runden Tisches zur flächendeckenden Einführung von Schutzkonzepten (BMFSFJ/BMJ/BMBF 2011), haben wissenschaftliche Expertise, demokratische Willensbildung und Praxiserfahrungen zusammengeführt. Es ist wichtig, anzuerkennen, dass Forschung nur einer von mehre ren Motoren für einen verbesserten Schutz von Kindern bzw. Jugendlichen ist. Die besondere Stärke wissenschaftlicher Zugänge besteht dabei darin, dass methodisch kontrollierte Herangehensweisen die verschiedenen Perspekti ven und Erfahrungen potenziell neu rahmen und erweitern können.
Gesellschaftliche Selbstvergewisserungen zu Ausmaß und Facetten des Problems
Die Datenlage zur Verbreitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland hat sich in den vergangenen zehn Jahren in vierfacher Hinsicht wesentlich verbessert. Zum einen sind mindestens drei repräsentative Bevölkerungsstudien entstanden, die die Größe des Problems bezogen auf die Gesamtbevölkerung verdeutlichen (Häuser et al. 2011; Posch/Bieneck 2016; Witt et al. 2017). Beispielsweise berichteten in einer Studie mit 9000 Teilnehmenden zwischen 16 und 40 Jahren 6,7 Prozent der Frauen und 1,4 Prozent der Männer von sexueller Gewalt mit Körperkontakt vor dem 16. Lebensjahr (Posch/Bieneck 2016). Zweitens haben mehrere Untersuchungen das Spektrum sexuel ler Übergriffe unter Gleichaltrigen im Jugendalter in den Blick genommen (Hofherr/Kindler 2018a; Maschke/Stecher 2018a; s.a. die Beiträge in diesem FORUM). Damit wurde ein hohes Ausmaß sexueller Über griffe unter Gleichaltrigen sichtbar, die häufig Erwach senen nicht mitgeteilt werden. Dies verlangt eine Ergänzung bisheriger Präventionsstrategien, die allzu oft auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit, Erwachsene als Täter und Erwachsene als Helfende bezogen waren. Drittens liegen erstmals aussagekräftige Befunde für zumindest einige Gruppen von besonders vulnerablen Kindern und Jugendlichen vor. Dies gilt etwa für Jugendliche, die in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe leben (Allroggen et al. 2017; Derr et al. 2017), Mädchen mit Behinderung (Schröttle et al. 2013, S. 162 ff.) sowie Schülerinnen und Schüle an Förderschulen (Maschke/Stecher 2018b). Die dabei zu Tage getretenen, im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten Prä va len zen erlittener sexueller Gewalt begründen einen bislang kaum erfüllten Bedarf an spezifischen Präventionskonzepten. Befeuert wird die Diskussion um eine Ausdifferenzierung von Präventionskonzepten weiter durch Unter suchun gen, die die Verbreitung sexueller Übergriffe gegen Kinder bzw. Jugendliche in institutionellen Kontexten (Witt et al. 2018), sexuelle Grenzverletzungen in Online-Kontakten (Sklenarova et al. 2018) oder Kinder-Sextourismus (Koops et al. 2017) gezielt in den Blick genommen und jeweils Hand lungsbedarf identifiziert haben. Viertens liegen aus einer großen Dunkelfeld befragung von Männern in Deutschland erstmals Daten vor zur selbst berichteten Verbreitung sexueller Fantasien, die sich auf Kinder beziehen (Dombert et al. 2016). Mit etwa 4 % liegt diese Zahl im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Da aber eine substanzielle Minderheit dieser Männer sexuelle Übergriffe gegen Kinder berichtete und die grundsätzliche Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, teilweise bejaht wurde, stellen diese Befunde einen wichtigen Anhaltspunkt für die Notwendigkeit täterbezogener Prävention im Dunkelfeld dar. Insgesamt lassen sich die Befunde zur Verbreitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland als Argument für die fortgesetzte Bedeutung der Thematik und zugleich für eine notwendige Ausdifferenzierung von Präventionskonzepten verstehen.
Nachdem in mehreren westlichen Gesellschaften Anhaltspunkte für erste Erfolge beim Zurückdrängen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gefunden wurden (z.B. Jones/Finkelhor 2003), stellt sich auch für Deutschland die Frage, ob der eingeschlagene Weg einer Verbindung von Aufklärung, Prävention und Strafverfolgung erfolgreich ist. Die Antwort fällt schwer, da es in der Bundesrepublik noch keine regelmäßig wiederholten Dunkelfeldstudien zum Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt. Immerhin aber hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in ihren wiederkehrenden Unter suchungen zu Jugendsexualität seit einiger Zeit einzelne Fragen zu erfahrener sexueller Gewalt gestellt. Eine Frage an die Teilnehmerinnen lautete etwa, ob ein Junge oder Mann schon einmal versucht habe, sie gegen ihren Willen durch Druck zu sexuellen Handlungen zu bringen. Bei Mädchen mit deutscher Staatsangehörigkeit bzw. deutscher Herkunft nahm zwischen 1998 und 2014 der Prozentsatz der Teilnehmerinnen, die dies bejahten, von 16 auf 11 Prozent ab (Bode/Heßling 2015, S. 197). Wenngleich dies nicht für alle Studien gilt (Witt et al. 2018), berichten zudem in einigen der aus Deutschland vorliegenden repräsentativen Bevölkerungsstudien jüngere im Vergleich zu älteren Teilnehmerinnen seltener von in der Kindheit erlebter sexueller Gewalt (Jud et al. 2016, S. 55 f.). Es könnte also sein, dass Deutschland dem in einigen anderen westlichen Demokratien beobachteten, zu weiteren Anstrengungen ermutigenden positiven Trend folgt. Allerdings wäre es voreilig, dies als bestätigten Befund anzusehen, solange nicht andere Erklärungen geprüft wurden (z.B. eine veränderte Antwortbereitschaft, parallele Zunahme sexueller Übergriffe im Netz).
Die aus Deutschland stammende aktuelle Forschung zu Folgen sexueller Gewalt in Kindheit und Jugendalter untersucht weiterhin Auswirkungen auf psychische und körperliche Gesundheit sowie Sexualität (z.B. Maerker et al. 2018; Bornefeld-Ettmann et al. 2018). Ausgehend von einer Vielfalt der Verläufe (z.B. Domhardt et al. 2015), geht es dabei immer häufiger um die Frage, welche Merkmale der Gewalt und der nachfolgenden körperlichen, psychischen und sozialen Prozesse zur Erklärung dieser Unterschiede beitragen können (z.B. Entringer/Buss/Heim 2016; Münzer/Ganser/Goldbeck 2017). Für eine gute Versorgung nach erfahrener sexueller Gewalt ist ein Verständnis solcher Zusammenhänge essenziell. Zunehmend wird auch eine Langzeitperspektive eingenommen. In dieser Linie stehen etwa Studien, die Missbrauchopfer als spätere Eltern in den Blick nehmen (z.B. Möhler/Resch 2017). Von besonderer Bedeutung für die Prävention sind Studien, die sich damit beschäftigen, warum Menschen mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit ein statistisch erhöhtes Risiko tragen, im weiteren Leben erneut sexuelle Gewalt erfahren zu müssen (Krahé/Berger 2017; Kindler et al. 2018). Neuerungen stellen Ansätze dar, die die Folgen sexueller Gewaltalltags - und erlebensnah untersuchen, etwa im Hinblick auf die Lebensqualität (Weber et al. 2017), oder die Kinder und Jugendliche nach erfahrener sexueller Gewalt mit ihren Bewältigungsanstrengungen in den Mittelpunkt stellen. Beeindruckend sind hier qualitative Studien, die Betroffene selbst zu Wort kommen lassen (z.B. Kavemann et al. 2016). Dieses Sprechen Betroffener sowie Ansätze der Selbstorganisation und politischen Einflussnahme (z.B. über den Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs – UBSKM), haben einen Einfluss auf das Handlungsfeld, der schwerlich überschätzt werden kann. Es ist sehr fraglich, ob ohne die Zeugnisse und Forderungen Betroffener aktuell eine derart intensive Beschäftigung mit der Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft hätte erreicht werden können.
Generative Analyse: ie kommt es zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche?
Vor bereits mehr als 30 Jahren hat David Finkelhor (1984) ein grundlegendes Modell formuliert, wie es zu sexuellem Missbrauch kommt. Dieses Modell wurde nach und nach auf verschiedene Arten sexueller Gewalt übertragen. Demnach müssen vier Bedingungen gleichzeitig vorliegen: Es muss, erstens, eine Person oder mehrere Personen geben, die zu sexueller Gewalt motiviert sind. Zweitens muss diese Person oder müssen diese Personen innere Hemmungen überwinden, bevor sie tatsächlich so handeln. Weiter muss,
drittens, eine Situation vorhanden sein, die sexuelle Gewalt zulässt oder es müssen externe Hürden überwunden werden. Schließlich muss, viertens, der Wider stand von Opfern ausgeschaltet oder überwältigt werden. Obwohl teilweise als vereinfachend kritisiert (Ward/Hudson 2001), eignet sich dieses Modell doch weiterhin sehr gut, um aktuelle Entwicklungen im Überblick darzu stellen. Positiv an dem Modell sind zudem klare Verantwortungs zuschrei bungen und die über bloße Täterpsychologie hinaus gehende – Öffnung des Ver ständnis ses sexueller Gewalt ins Soziale und Gesellschaftliche hinein.
Anknüpfend an die ersten beiden Bedingungen lässt sich zunächst die Befundlage zu den Fragen betrachten, wie bei manchen Menschen eine Motivation entsteht, sexuelle Übergriffe gegen Kinder bzw. Jugendliche zu begehen, und wie innere Hürden dabei überwunden werden. Beides ist bislang allenfalls in Teilen klar. Dennoch sind wichtige und für die Praxis der Prävention bedeutsame Fortschritte erkennbar. Vor allem hat sich Deutschland zu einem Zentrum der Dunkelfeldforschung mit Erwachsenen entwickelt, die sich zu Kindern bzw. Jugendlichen sexuell hingezogen fühlen. Deshalb ist jetzt etwa klarer, wann im Lebenslauf pädophile, also auf Kinder bezogene sexuelle Orientierungen den Betroffenen in der Regel bewusst werden, nämlich meist um den 15. Geburtstag herum (Tozdan/Briken 2015). Dies ist ein wesentliches Argument, um Beratungsangebote für Jugendliche zu begründen, die eine entsprechende sexuelle Orientierung bei sich erkennen. Weiter konnte erstmals untersucht werden, was Menschen mit pädophiler sexueller Orientierung, aber ohne berichtetes tatsächliches Missbrauchshandeln, von solchen unter scheidet, die angeben, bereits mindestens einmal ein Kind sexuell missbraucht zu haben (für eine Forschungsübersicht siehe Gerwinn et al. 2018). Beispielsweise erwies sich in neuropsychologischen Tests die prinzipiell durch Hilfen beeinflussbare Fähigkeit zur Verhaltenskontrolle als bedeutsam (Kärgel et al. 2017). Es liegt nahe, dass diese Befunde helfen könnten, täterbezogene Präventionsansätze wirksamer zu gestalten. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass nach wie vor weitgehend rätselhaft ist, wie eine auf Kinder bzw. Jugendliche bezogene sexuelle Orientierung überhaupt entsteht (für eine aktuelle Übersicht siehe Seto 2017). Wichtig ist zudem, dass entdeckte erwachsene Sexualstraftäter mehrheitlich keine auf Kinder oder Jugendliche bezogene sexuelle Orientierung aufweisen (z.B. Schmidt/Mokros/Banse 2013; Stephens et al. 2017). Hinzu kommen, vor allem im Jugendalter, Übergriffe gegen Gleichaltrige, bei denen Auffälligkeiten in der sexuellen Orientierung keine Rolle spielen. Deshalb ist nahe lie gend, dass sich täterbezogene Prävention nicht nur auf Menschen mit einer pädophilen oder hebephilen1 sexuellen Orientierung beschränken kann. Eine wesentliche weitere Zielgruppe sind Jugendliche mit sexuell aggressiven Verhaltensweisen, von denen einige ein hohes Risiko wiederholter Übergriffe aufweisen (McCuish/Lussier 2017). Leider finden sich hier, wie auch zu Kindern mit sexuellen Verhaltens problemen (Fanniff/Becker/Gambow 2014), bislang kaum Studien in Deutschland, was die Entwicklung und Ver brei tung spezifischer Hilfen erkennbar hemmt. Bedrücken derweise berichten männliche Opfer sexueller Gewalt immer wieder davon, dass das Ziel, Kinder und Jugendliche vor Tätern zu schützen, dazu führt, dass sie als potenzielle Gefahr angesehen und ausgegrenzt werden (Rieske et al. 2018). Im Hintergrund steht hier die Annahme, missbrauch te Jungen würden sich häufig zu missbrauchenden Erwach senen entwickeln und wären mithin eine dritte Zielgruppe für täterbezogene Prävention. Wie häufig und unter welchen Bedingungen ein solcher Transformationsprozess bei sexuell missbrauchten Jungen tatsächlich erfolgt, war in der deut schen Forschung bislang kaum Thema. Dies kontrastiert deutlich mit der Situation international. Hier wurden allein in den drei Jahren von 2016 bis 2018 mindestens drei neue Langzeiterhebungen veröffentlicht (Leach/Stewart/Smallbone 2016; De Jong/Dennison 2017; Papalia et al. 2018). In diesen Studien übte eine sehr kleine Gruppe von 1 % bis 5 % der Jungen, die sexuellen Missbrauch erleben mussten, im weiteren Verlauf selbst sexuelle Gewalt aus. Hierfür waren in der Regel noch weitere Aspekte wie fehlen de Unterstützung nach dem eigenen Missbrauch und ein Aufwachsen mit chronischer Gefährdung und einem bruta li sierten Männlichkeitsbild wichtig (Plummer/Cossins 2018). Vor dem Hintergrund dieser Befunde ist es notwendig, das Recht von Mädchen wie Jungen auf eine gute Versorgung nach erlittener sexu eller Gewalt zu betonen, ohne dass dies aber als »Täterprävention« gesehen werden könnte. Viel mehr gilt es, stigmatisierenden Bildern zu sexuell miss brauch ten Jungen entschieden entgegen zutreten.
Die Bedeutung der dritten Bedingung sexueller Gewalt nach Finkelhor (1984), also des Vorliegens oder der Herstellung einer für sexuelle Übergriffe geeigneten Situation, wird nirgends deutlicher als in den Arbeiten einer ganzen Reihe von Historikerinnen und Historikern zu einer weiten Verbreitung sexueller Gewalt unter Bedingungen von Krieg, Bürgerkrieg oder Genozid in der Vergangenheit (z.B. Mühl häuser 2017; Gebhardt 2015) und Gegenwart (Seifert 2018; Elbert et al. 2013). Auch für weniger extreme Lebens situationen wurde erfolgreich versucht, Situationsmerkmale sexueller Gewalt zu untersuchen und auf Ansatzpunkte für Prävention abzuklopfen (Smallbone 2016). Aktuelle Forschungen bestätigen hier, sexueller Missbrauch von Kindern ereigne sich überwiegend, aber keinesfalls ausschließlich im sozialen Nahfeld und sexuelle Gewalt gegen Jugendliche überwiegend im Kreis von Freunden, Bekannten, Mitschülern oder Ex-Partnern (Posch/Bieneck 2016; Maschke/Stecher 2018a). Weiter lässt sich belegen, allerdings nur durch internationale Studien, dass erwachsene wie jugendliche Missbrauchstäter im Mittel mehr als ein Jahr vor dem ersten sexuellen Übergriff Kontakt zum betreffenden Kind haben und mehrheitlich mindestens einem Elternteil bekannt ist, dass das Kind Zeit allein mit dem späteren Täter verbringt (z.B. Smallbone/Wortley 2001; McKillop et al. 2015). Eine substanzielle Minderheit der Missbrauchshandlungen geschieht sogar, während sich eine Aufsichts- bzw. Bezugsperson des Kindes in der Nähe aufhält (Leclerc et al. 2015). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum in Längsschnittstudien sexueller Missbrauch überproportional häufig Kinder trifft, deren Eltern in ihrer Aufsichtsfunktion und Rolle als Vertrauensperson eingeschränkt sind, etwa weil sie mit finanzieller Not, Partnerschaftsgewalt oder psychischer Erkrankung zu kämpfen haben (z.B. Butler 2013; Doidge et al. 2017). Dies zeigt zugleich eine mögliche Folgerung für Präventionskonzepte auf, nämlich eine Betonung des Wertes von Elternarbeit, insbesondere einer Stärkung belasteter Eltern in ihrer Rolle als Vertrauens- und Aufsichtsperson. Damit ließe sich eine in Deutschland bislang so nicht anerkannte Querverbindung zwischen der Wirksamkeit von ambulanten Hilfen zur Erziehung, von Suchtbehandlung, von Interventionen bei Partnerschafts gewalt sowie psychiatrischer Versorgung und der Prävention von sexuellem Missbrauch herstellen. Zu Situations einflüssen auf sexuelle Übergriffe zwischen Gleichaltrigen im Jugendalter sind zwei für die Prävention zentrale Befunde hervorzuheben. Zum einen hat sich gezeigt, dass eine durch Partnerschaftsgewalt gekennzeichnete Familiensituation und ein vernachlässigendes Milieu, in dem der Konsum von Gewaltpornografie zugelassen und generelle aggressive Verhaltensprobleme nicht wirksam bearbeitet werden, längsschnittlich bei männlichen wie weiblichen Jugendlichen ein späteres Ausüben von sexueller Gewalt gegen Gleichaltrige begünstigen (Ybarra/Thompson 2018). Erneut sind daher Querverbindungen zu vermuten, diesmal zwischen der Wirksamkeit von Hilfen zur Erziehung bei Vernachlässigung sowie Interventionen bei Partnerschaftsgewalt und der Prävention sexueller Gewalt unter Jugendlichen. Zum anderen hat sich gezeigt, dass die Anbahnung sexueller Gewalt im Jugendalter häufig in Gruppensituationen erfolgt, was wiederum bedeutet, dass Gleichaltrige, die eine solche Situation miterleben, unter Umständen einschreiten oder Hilfe holen können (Banyard 2015). Darauf aufbauend haben eine ganze Reihe von Studien Voraussetzungen, Formen und Wirkungen von Unterstützung durch gleichaltrige »Bystander« untersucht (z.B. Edwards/Rodenhizer-Stämpfli/Eckstein 2015) und dies in Präventionskonzepte für das Jugendalter und junge Erwachsenenalter eingebaut.
Ganz überwiegend spielen Befunde aus Deutschland bei der Forschung zu Situationsumständen sexueller Gewalt gegen Kinder bzw. Jugendliche und sich daraus ergebenden Ansatzpunkten für Prävention bislang keine Rolle. Eine Ausnahme stellen jedoch Untersuchungen zu Institutionen als Kontext sexueller Übergriffe dar. In Deutschland haben in den vergangenen Jahren sexuelle Übergriffe gegen Kinder oder Jugendliche in Internaten, Heimen, Sportvereinen und in kirchlichen Zusammenhängen die Diskussion stark geprägt. Hieraus haben sich eine Reihe von wichtigen Studien ergeben (für Forschungsübersichten siehe Böhm et al. 2014; Kindler 2014; Rulofs 2016). Für die Prävention besonders bedeutsam sind Untersuchungen, die die Bandbreite institutioneller Bedingungen und Organisationskulturen nutzen, um Umstände zu identifizieren, die sexuelle Übergriffe begünstigen oder aber erschweren. Hier können dann Präventionsanstrengungen ansetzen. Ein erster empirischer Zugang beruht auf vergleichenden Analysen dokumentierter Missbrauchsfälle in Institutionen. Eine solche Zusammenschau wurde von Pöter und Wazlawik (2018) vorgelegt. Viele der betroffenen Institutionen wiesen demnach Merkmale auf, die es Opfern erschwert haben, auf sich aufmerksam zu machen (z.B. fehlende Ansprechpartner, starke Abgrenzung der Institution von der Außenwelt), während zugleich eine »korrumpierte Ethik von Fürsorge« (Erooga 2012) nicht-missbrauchende Fachkräfte zur Untätigkeit verführte. Ein zweiter empirischer Zugang besteht darin, im Rahmen von Befragungen Merkmale von Einrichtungen zur berichteten Häufigkeit und dem Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen in Beziehung zu setzen. Derr et al. (2017) fanden beispielsweise in einer Stichprobe von stationären Einrichtungen der Jugendhilfe Zusammenhänge zwischen dem von Fachkräften berichteten Organisationsklima und der Bereitschaft von Jugendlichen, erlebte sexuelle Grenzverletzungen jemandem anzuvertrauen.
Auch die letzte der vier von Finkelhor (1984) beschriebenen Bedingungen sexueller Gewalt, das Überwinden des Widerstandes von Kindern bzw. Jugendlichen, wurde von der Forschung in verschiedenen Facetten aufgegriffen. Bereits älter, und für die Konzeptualisierung einer gefahrenthematisierenden Präventionsarbeit enorm wichtig, waren Studien zu den Vorgehensweisen von Tätern, um Kinder über die Natur des Geschehens zu täuschen, ihren Widerstand zu überwinden und sie zum Schweigen zu verpflichten (für eine Forschungsübersicht siehe Kindler/Schmidt-Ndasi 2011). Aktuelle Forschungsschwerpunkte in dieser Tradition betreffen Täterstrategien aus Kindersicht (Katz/Barnetz 2016), Täterstrategien in institutionellen Kontexten (O’Leary/Koh/Dare 2017) und im Internet (DeMarco et al. 2018). Vor allem der letzte Punkt ist von klar erkennbarer praktischer Bedeutung für eine Aktualisierung der Konzepte hinter der Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Beispielsweise hat sich gezeigt, dass Kinder und Jugendliche zwar verschiedene Strategien einsetzen, um bei Online-Kontakten das Alter des Gegenübers einzuschätzen, sie ihre Fähigkeiten dabei aber oft überschätzen (z.B. Goenestein et al. 2018). Für Deutschland und international gilt, dass sehr wenige Studien sich bislang tatsächlich genauer damit beschäftigt haben, welche Formen des Widerstandes Kinder und Jugendliche sexuellen Übergriffen entgegensetzen und welche Folgen verschiedene Strategien haben (für eine Ausnahme siehe Leclerc/Wortley/Smallbone 2011). Der einzige und unzweifelhaft sehr wichtige Aspekt, für den dies nicht gilt, betrifft die Hilfesuche von Kindern und Jugendlichen nach sexueller Gewalt bei Erwachsenen. Hier gibt es auch im deutschsprachigen Raum aktuell mehrere Studien. Bei den Ergebnissen ist es grundlegend wichtig, festzuhalten, dass nach wie vor nur ein Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen sich einer erwachsenen Vertrauensperson mitteilt (z.B. Rau et al. 2016). Kinder und Jugendliche, die sich anvertrauen (Disclosure), berichten rückblickend zudem mehrheitlich, dies sei aus ihrer Sicht für den Täter ohne erkennbare Folgen geblieben (Stiller/Hellmann 2017). In einigen Fällen wurden die Folgen von Disclosure zudem als zweiter Kontrollverlust nach der erlittenen sexuellen Gewalt erlebt (Schönbucher et al. 2014). In dieser Situation stellen sich erkennbar zwei miteinander verknüpfte Aufgaben. Zum einen ist es wichtig, Kinder und Jugendliche zu einer Hilfesuche zu ermutigen, um sexuelle Gewalt möglichst rasch zu beenden; zum anderen ist es notwendig, mögliche Adressaten einer solche Hilfesuche auf den dann notwendigen Dialog mit betroffenen Kindern und Jugendlichen besser vorzubereiten, damit sie tatsächlich unterstützend reagieren können. Zumindest einige Befunde deuten darauf hin, dass eine für Kinder und Jugendliche wahrnehmbare Offenheit bei ihnen im Alltag bekannten Lehr- bzw. Fachkräften für das Thema sexuelle Gewalt die Bereitschaft zu Disclosure erhöht (Hofherr/Kindler 2018a). Zudem haben internationale Studien gezeigt, dass tatsächlich unterstützte Reaktionen von Bezugspersonen die Bewältigung des Erlebten erleichtern (z.B. Zajac/Ralston/Smith 2015).
Jenseits der Befundlage zu Täterstrategien und generellen Möglichkeiten des Widerstandes bzw. der Hilfesuche durch Kinder oder Jugendliche sind im Hinblick auf die vierte Voraussetzung sexueller Gewalt nach Finkelhor (1984) noch Studien hervorzuheben, die sich mit spezifischen Gruppen von Minderjährigen beschäftigen, die in ihrer Fähigkeit zur Gegenwehr häufig eingeschränkt sind. Zumindest zwei solche Gruppen haben in der Forschung aus Deutschland bislang eine gewisse Aufmerksamkeit erfahren: Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sowie Kinder und Jugendliche, die bereits sexuelle Gewalt erfahren mussten. Bezüglich der ersten Gruppe haben einzelne Studien bei Untergruppen von Kindern mit Behinderung Viktimisierungsraten untersucht, um das Ausmaß einer erhöhten Gefährdung zu belegen (z.B. Maschke/Stecher 2018b). Im Hintergrund gibt es zudem wichtige Studien zum generellen Verlauf der sexuellen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Deutschland (Wienholz et al. 2016). Was aber bislang fehlt, sind Studien zu Täterstrategien, Gegenwehr und Disclosure bei dieser Gruppe von Kindern, die für angepasste Präventionskonzepte besonders bedeutsam wären. Zudem ändern sich im Zuge der Inklusion gerade die Bildungsumwelten von Kindern bzw. Jugendlichen mit Behinderungen ganz erheblich, und es ist im Moment wissenschaftlich noch völlig unbearbeitet, was dies für die Prävention sexueller Übergriffe bei dieser vulnerablen Gruppe bedeutet.
Bereits mehr auf Prozesse fokussiert, die weitere sexuelle Gewalt begünstigen oder erschweren, sind Studien, die sich Kindern und Jugendlichen zuwenden, die schon sexuellen Missbrauch erfahren mussten. Ausgangslage ist hier der verstörende Befund, dass Kinder und Jugendliche nach bereits erlittenem sexuellem Missbrauch als Gruppe betrachtet im weiteren Lebensverlauf häufig weitere sexuelle Gewalt erfahren, und zwar auch dann, wenn sie im Rahmen einer Kinderschutzintervention die Herkunftsfamilie verlassen. Zwei Längsschnittstudien haben sich in den letzten Jahren in Deutschland mit hier relevanten psychologischen und sozialen Prozessen beschäftigt (Krahé/Berger 2017; Kindler et al. 2018). Dabei wurde unter anderem gefunden, dass nicht nur Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit das Phänomen teilweise erklären, sondern auch ein gut entwickeltes Konzept sexueller Integrität weiteren Opfererfahrungen entgegenwirkt. Gute psychotherapeutische wie sexualpädagogische Angebote erscheinen daher als Weg, um Re-Viktimisierungen unwahrscheinlicher zu machen.
In der Summe zeigt die generative Analyse einige von der Forschung herausgearbeitete Ansatzpunkte für Präventionsanstrengungen, die bereits in Modellprojekten (z.B. Beratungsansätze mit pädophilen oder hebephilen Menschen vor ersten Missbrauchshandlungen) oder in der Fläche genutzt werden (z.B. Ermutigung von Kindern und Jugendlichen zur Hilfesuche nach sexueller Gewalt). Hier rücken Fragen der Wirkungsprüfung und schrittweisen Verbesserung von Präventionskonzepten in den Mittelpunkt. Weiter gibt es mehrere erkennbare Ansatzpunkte, die bislang kaum genutzt werden (z.B. Prävention von Re-Viktimisierungen; Prävention sexueller Gewalt im Rahmen ambulanter Hilfen zur Erziehung). Hier geht es zunächst einmal darum, überhaupt Fachkonzepte zu entwickeln. Schließlich sind einige Lücken hervorgetreten, bei denen mehr Wissen mittelfristig zu besseren Präventionskonzepten beitragen könnte (z.B. sexuell aggressive Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen; Auswirkungen von Inklusion auf die Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche). Die deutlich gewordene Expansion relevanten Wissens verlangt weiter nach verstärkten Bemühungen der Integration und Vermittlung der Befundlagen, jedoch existiert in Deutschland bislang keine Organisation oder kein Zentrum, das sich dieser Aufgabe verschrieben hätte und über die dafür nötigen Mittel verfügen würde.
Wirkungsforschung zu Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Soweit aus der generativen Analyse gewonnene Ansatzpunkte für die Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu Konzepten ausgearbeitet werden, kann Wirkungsforschung betrieben werden. Für solche Wirkungsprüfungen gibt es in der Präventionswissenschaft stehende Konzepte (Flay et al. 2005; Gottfredson et al. 2015). Grundlegend dabei ist, dass Wirkungsprüfungen aus mehreren Schritten bestehen, von denen ein erster hier in den Mittelpunkt gerückt wird. Dieser erste Schritt besteht darin, unter Studienbedingungen möglichst klar zu zeigen, dass das Präventionskonzept erwünschte Veränderungen bewirkt und unerwünschte Veränderungen vermeidet. Studien zu dieser Frage können verschieden angelegt werden. Wird eine Präventionsgruppe mit einer (vor dem Präventionsangebot) sehr ähnlichen Kontrollgruppe im Hinblick auf wichtige Ergebniskriterien verglichen, so ist dies ein eher aussagekräftiges Studiendesign. Weniger sicher sind Rückschlüsse, wenn Veränderung anhand einer einmaligen Erhebung nach dem Präventionsangebot oder anhand einer Vorher-nachher-Messung, aber ohne Kontrollgruppe erfasst wird. Wichtig ist die Auswahl der Ergebniskriterien. Da das eigentliche Ziel die Verhinderung sexueller Gewalt ist, sind Veränderungen in der Häufigkeit bzw. dem Umgang mit sexueller Gewalt auch das beste Ergebniskriterium. Hilfsweise muss aber häufig auf andere Ergebniskriterien ausgewichen werden, etwa die von geschulten Fachkräften oder Eltern aufgenommenen Präventionsbotschaften. Hilfskriterien sind aber stets mit Unsicherheit verbunden, inwieweit das eigentliche Ziel, die Verhinderung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, erreicht wird. Wirkungsforschung ist zyklisch zu denken, d.h., Präventionskonzepte sollen über mehrere Runden von Wirkungsprüfungen zunehmend besser werden.
Wie mit Personen umgegangen wird, die wegen Sexualstraftaten gegen Kinder bzw. Jugendliche verurteilt werden, etwa welche Strafen sie erhalten und welche Behandlungsangebote oder wie Begleitung und Aufsicht nach einer Verurteilung organisiert werden, wird nicht immer in das Feld der Prävention einbezogen, da im Rahmen von Strafverfolgung noch viele ganz andere Fragen berührt werden, etwa nach der ausdrücklichen Anerkennung, dem Opfer sei Unrecht geschehen (z.B. Reemtsma 2002). Auf der anderen Seite ist unbestritten, dass strafrechtliche Sanktionen auch zukünftige sexuelle Gewalt verhindern sollen, indem sie etwa weitere Übergriffe auf Kinder während einer Haftstrafe
unmöglich machen oder die Rückfallgefahr vermindern. Daher hat beispielsweise Finkelhor (2009) strafrechtliche Sanktionen im Kontext eines Forschungsüberblicks zur Prävention sexuellen Missbrauchs mitdiskutiert. Vier Aussagen scheinen uns hier gegenwärtig belegbar oder zumindest wahrscheinlich: Zum einen zeigt der Vergleich mit Weltgegenden, in denen Strafverfolgung zusammengebrochen ist oder staatliche Strukturen kaum funktionsfähig sind, dass ohne ein System von Strafverfolgung sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sehr häufig sein kann (Stark/Landis 2016). Unbeabsichtigte Nebenwirkungen glaubwürdiger Strafandrohungen, wie sie in
Deutschland existieren, sind Ausweicheffekte, in der Form von Kinderprostitutions tourismus in andere Weltgegenden (Koops et al. 2017) oder Kinderpornografie im schwer zu kontrollierenden Internet (Franke/Graf 2016), die deshalb stärker zu einem eigenen Forschungsthema werden müssen. Zweitens zeigt sich, dass im deutschen System der Strafverfolgung die Verurteilungsquoten nach angezeigten Sexualstraftaten generell gering sind (Jehle 2012; Kammal 2017). Warum dies so ist und inwieweit Strafverfolgung hier effektiver gestaltet werden könnte, ist weitgehend unklar. Da ausbleibende Sanktionen für Kinder und Jugendliche, die sich als Opferzeugen einem Ermittlungs- bzw. Strafverfahren stellen, zusätzlich belastend wirken (Goodman et al. 1992), sind hier vertiefende Studien und Modellprojekte dringend erforderlich. Bis dahin ist eine starke Empfehlung zur Anzeige in jedem Verdachtsfall als Versuch zu sehen, den zweiten vor dem ersten Schritt zu gehen. Ausgehend vom gegenwärtigen Strafrahmen sehen Kriminologen, drittens, generell wenig Nutzen in immer weiteren Strafverschärfungen (Kury 2013). Nach sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt es bislang aber kaum Versuche, Zusammenhänge zwischen unterschiedlich langen Haftstrafen und der Rückfallhäufigkeit zu untersuchen und die Anzahl durch Haft verhinderter Übergriffe zu schätzen (Budd/Desmond 2014; Wermink et al. 2013). Auch hier wären Studien in Deutschland also wünschenswert. Hinzu kommt, viertens, dass die Wirksamkeit psychotherapeutischer Angebote während oder nach einer Haftstrafe auf die Häufigkeit von Rückfällen bei Sexualstraftätern, die Kinder zum Opfer hatten, nach wie vor ungesichert ist (Grønnerød et al. 2015), während eine Wirksamkeit bei Sexualstraftätern insgesamt als gesichert gelten kann (Rettenberger 2018). Ähnlich unbefriedigend ist die Befundlage bislang im Hinblick auf Therapien für Jugendliche, die wegen Sexualstraftaten gegen Kinder oder andere Jugendliche verurteilt wurden (Ter Beek et al. 2018). In beiden Bereichen sind daher Forschungsanstrengungen erforderlich, um wirksamere Therapiekonzepte zu entwickeln. Erste positive Hinweise gibt es dagegen hinsichtlich der Wirksamkeit von therapeutischen Angeboten für Dunkelfeldtäter oder Personen, die sich selbst in der Gefahr sehen, sexuelle Übergriffe gegen Kinder bzw. Jugendliche zu begehen (Beier 2018). Allerdings sind hier noch Wiederholungsstudien erforderlich, um prüfen zu können, ob positive Wirkungen bestehen bleiben, wenn es sich nicht mehr um ein ganz neues Modellprojekt handelt. Insgesamt ist also zu erkennen, dass täterbezogene Ansätze sowohl im Hinblick auf die Effektivität von Strafverfolgung als auch hinsichtlich der Wirksamkeit von Behandlungs angeboten in den nächsten Jahren noch der Weiterentwick lung und Investition in Forschung bedürfen.
Erwachsend aus der Diskussion um sexuelle Gewalt in Institutionen ist in Deutschland am Runden Tisch »Sexueller Kindesmissbrauch« die Idee von Schutzkonzepten entstanden (BMJ/BMFSFJ/BMBF 2011), die seitdem vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindes missbrauchs (UBSKM) weiterentwickelt und über Vereinbarungen in verschiedenen institutionellen Feldern verankert wurde (UBSKM 2013). Schutzkonzepte beinhalten mehrere Elemente, etwa eine einrichtungsbezogene Analyse von Risiken, thematische Fortbildungen für Fachkräfte und Präventionsangebote für Kinder und Jugendliche, Vereinbarungen zu Verhaltensstandards für Fachkräfte, die regelmäßige Einholung von Führungszeugnissen, die Benennung von Ansprechpersonen, Kooperation mit Fachstellen und das Erstellen von Handlungsplänen für Verdachtsfälle. Schutzkonzepte sollen partizipativ entwickelt werden und im Ergebnis Einrichtungen zu sichereren Orten machen, die zudem handlungsfähig sind, wenn Kinder und Jugendliche, unabhängig davon, wo sie sexuelle Gewalt erleben mussten, Ansprechpartner und Hilfe suchen. International gibt es vereinzelt ähnliche Überlegungen (z.B. Wurtele/Mathews/Kenny 2018). Insgesamt stellt der umfassende Ansatz der Schutzkonzepte bislang aber eine Besonderheit der in Deutschland verfolgten Strategie dar. Zu den Effekten dieser Strategie lässt sich bislang zeigen, dass Schutzkonzepte an eine Vielzahl von Handlungsfeldern angepasst werden können und breite Resonanz finden (Pooch/Kappler 2017; Kappler/Pooch 2018), zumal zunehmend unterstützende Materialien verfügbar werden (Wolff/Schröer/Fegert 2017). Noch kaum untersucht sind bislang tatsächliche Auswirkungen von Schutzkonzepten auf eine verringerte Häufigkeit sexueller Übergriffe und eine erfolgreiche Hilfesuche von Kindern und Jugendlichen, wenn es doch zu sexueller Gewalt gekommen ist. Es gibt aber einige ermutigende Einzelbefunde. So fanden sich etwa in einer großen Studie mit Schulen Zusammenhänge zwischen Angaben der Schule über thematische Fortbildungen für Lehrkräfte und einer von Schülerinnen und Schülern berichteten erhöhten Bereitschaft, sich Lehrkräften anzuvertrauen (Hofherr/Kindler 2018a). Zudem gingen von Schülerinnen und Schülern berichtete thematische Angebote der Schule mit einem vermehrten unterstützenden Eingreifen bei sexuellen Übergriffen unter Gleichaltrigen einher (Hofherr/Kindler 2018b). Wie Schutzkonzepte so ausgestaltet werden können, dass sie tatsächlich zu weniger sexuellen Übergriffen führen, ist aber bislang eine insgesamt offene Frage, deren Beantwortung durch geeignete Studien für die fachliche Entwicklung in Deutschland und darüber hinaus bedeutsam ist.
Den Schutzkonzepten verwandt, jedoch etwas weniger auf Dauer hin angelegt sind Multi-Akteur-Programme, d.h. Konzepte, die in einer Einrichtung für ein zeitlich beschränktes thematisches Präventionsangebot verschiedene Gruppen und Ebenen wie etwa Kinder und Jugendliche, Eltern, Fachkräfte und Leitungen einbinden und die präventionsfreundliche Veränderung des Organisationsklimas als zusätzliche Zielebene definieren. Mehrere Studien konnten hier im Kontrollgruppendesign verringerte Häufigkeiten sexueller Gewalt in teilnehmenden Einrichtungen aufzeigen. In Deutschland zielt ein solches Konzept (PräviKIBS) etwa auf Jugendliche in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und bindet Leitungen, Fachkräfte und Jugendliche selbst ein. In der Evaluation schilderten Jugendliche aus Einrichtungen, in denen das Programm ganz durchgeführt wurde, weniger sexuelle Grenzverletzungen in den vergangenen Monaten als Jugendliche aus Einrichtungen, in denen das Programm nicht oder nur teilweise umgesetzt wurde (Derr et al. 2017). Die Befunde deuten zugleich darauf hin, dass die Umsetzungsqualität eines Konzepts für den Erfolg ausschlaggebend sein kann. Im Übergangsbereich zwischen Multi-Akteur-Programmen und kindzentrierten Präventionsprogrammen, die in Deutschland wie international den Schwerpunkt der Ansätze bilden, ist das theaterbasierte Präventionsprogramm Trau dich! für Grundschulkinder angesiedelt. Das von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zusammen mit dem Bundesfamilienministerium in mehreren Bundesländern durchgeführte Programm beinhaltet auch Informationsangebote für Eltern und Lehrkräfte.2 Zudem wurden einrichtungsbezogene Veränderungen in der Häufigkeit oder dem Umgang mit sexueller Viktimisierung bislang nicht gemessen, wohl aber wurde im Prä-Post-Design festgestellt, dass teilnehmende Kinder Präventionsbotschaften aufnehmen und im Selbstbericht mehr Kompetenzen beschreiben (Firnges/Amann 2016). Ähnlich ist die Situation beim Programm »Resilienz und Sicherheit« (ReSi), einem der wenigen bislang mit Kontrollgruppe evaluierten deutschen Programme für das Vorschulalter. Einbezogen wurden Kinder, Eltern und Fachkräfte. Positive Evaluationsergebnisse liegen bislang auf der Ebene der Kompetenzen für Kinder und Fachkräfte vor (Storck/Pfeffer 2018), wohingegen Daten zum Präventionsklima auf Gruppen- bzw. Einrichtungsebene sowie zur Häufigkeit und dem tatsächlichen Umgang mit sexuellen Grenz verletzungen fehlen. Multi-Akteur-Programme stellen insgesamt einen vielversprechenden Ansatz dar, wenn auch bislang die Anzahl der Evaluationen mit Kontrollgruppe und Viktimisierungsraten als Ergebniskriterium gering geblieben ist. Zweifellos stellen Multi-Akteur-Programme vergleichsweise hohe Anforderungen an teilnehmende Einrichtungen, was möglicherweise ein Grund für ihre bislang geringe Verbreitung ist. Auf der anderen Seite besteht ein weitgehender fachlicher Konsens, dass kindbezogene Präventionsprogramme alleine nicht ausreichen, da Machtungleichgewichte als Teil sexueller Gewalt hierdurch nicht aufgehoben werden können, sodass Institutionen und Erwachsene als »Guardians« an Prävention beteiligt sein müssen (Kindler/Schmidt-Ndasi 2011; Rudolph/Zimmer-Gembeck 2016). Fachlich-konzeptionell sprechen also mehrere Gründe für einen Ausbau und stärkere Evaluationsanstrengungen bei dieser Art von Programmen.
Universelle Präventionsangebote, die sich unterschiedslos an alle Kinder einer Kita, Schulklasse oder Schule wenden, stellen bislang die Mehrheit aller Präventionsangebote dar. In der Regel wird dabei über Gefahren in Zusammenhang mit sexueller Gewalt informiert, Selbstschutzstrategien werden thematisiert und es wird zur Hilfesuche nach erlebter sexueller Gewalt ermutigt. Viele Programme vermitteln zudem Informationen über Rechte von Kindern, sexuelles Wissen oder wollen das generelle Selbstvertrauen und emotionale Kompetenzen von Kindern fördern. Eine systematische internationale Forschungs übersicht schulbasierter Programme zählte bis 2014 bereits 24 Kontrollgruppenstudien zu solchen Programmen (Walsh et al. 2018). Auch aus Deutschland liegen einige neuere Untersuchun gen vor, etwa von Krahé und Knappert (2009). Zusammen fassend kann es demnach als belegt angesehen werden, dass Kinder, als Gruppe betrachtet, sich mit den vermittelten Informationen innerlich beschäftigen, ohne dadurch aber nachhaltig belastet zu werden. Auch werden Präventionsbotschaften aufgenommen und positiv bewertet. Dies gilt alles zumindest dann, wenn einige Qualitätsmerkmale gegeben sind, insbesondere Kinder sich aktiv beteiligen und einbringen können (Davis/Gidycz 2000). Bereits wenn es um den Übertrag solcher Lernprozesse auf reale Risikosituationen geht, ist die Befundlage allerdings sehr ge mischt (White et al. 2018) und es ist unbekannt, ob es mit dieser Art von Programmen tatsächlich gelingt, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zurückzudrängen (Walsh et al. 2018). Immerhin gibt es Hinweise darauf, dass Kinder nachhaltig ermutigt werden, im Falle erfahrener sexueller Gewalt Hilfe zu suchen (Finkelhor/Asdigian/Dziuba-Leatherman 1995). Zusammen fassend spricht also einiges dafür, universelle kindbezogene Präventionsprogramme nicht als Element einer Präventionsstrategie zu verstehen, das für sich stehen kann. Anzustreben ist vielmehr ein Einbau in Schutz konzepte oder Multi-Akteur-Programme.
Anders stellt sich die Situation bei Programmen dar, die sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken. Präventionsansätze mit Jugendlichen, die Gruppennormen zu sexuellen Grenzverletzungen, Selbstschutzstrategien und unterstützende Interventionen für andere bei sich anbahnenden Risikosituationen in den Mittelpunkt gerückt haben, führten hier in einer Reihe von Kontrollgruppenstudien zu einer verringerten Häufigkeit sexueller Gewalt (z.B. Rowe et al. 2015; Cocker et al. 2017). Vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus der generativen Analyse ist dies auch nachvollziehbar, da Jugendliche, häufiger als Kinder, Zeit ohne Erwachsene verbringen, sexuelle Gewalt sich dann überwiegend zwischen Gleichaltrigen ereignet und bei sich anbahnenden Übergriffen andere Jugendliche teilweise anwesend sind. Mit einer Studie von Muck, Schiller und Kärtner (2018) gibt es bereits einen ersten Versuch aus Deutschland, sich der Präventionsarbeit mit Jugendlichen wissenschaftlich zu nähern. Insgesamt stellen Präventionskonzepte gegen sexuelle Gewalt im Jugendalter, die international unter der Überschrift »Bystander-Programme« firmieren, da ein unterstützendes Verhalten gegen sexuelle Gewalt in Gleichaltrigengruppen gefördert werden soll, in Deutschland aber noch eine Lücke in der Präventionsarbeit und -forschung dar.
Auch im Hinblick auf die Präventionsarbeit mit eher vulnerablen Gruppen von Kindern und Jugendlichen liegen bislang aus Deutschland insgesamt wenige ausgearbeitete und auf Effekte überprüfte Konzepte vor. Insbesondere trifft dies zu auf Kinder, deren Eltern in ihrer Rolle als Aufsichts- und Vertrauenspersonen eingeschränkt sind (z.B. aufgrund psychischer Erkrankung) sowie auf Kinder, die bereits Vernachlässigung oder sexuelle Gewalt erfahren mussten. Für Jugendliche in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe kann zumindest auf ein positiv evaluiertes Konzept zurückgegriffen werden (Derr et al. 2017). Etwas besser sieht die Situation im Hinblick auf Programme für Kinder bzw. Jugendliche mit Behinderungen aus. Hier wurden in den letzten Jahren in Deutschland zwei Programme entwickelt und evaluiert, von denen für ein Programm bereits Ergebnisse veröffentlich wurden (Bienstein 2018). Das für verschiedene Altersgruppen und Formen von Behinderung ausformulierte Programm »Stark mit SAM« ging demnach in einer Kontrollgruppenstudie mit mehr präventions relevantem Wissen und selbst berichteten Hand lungsstrategien einher. Ergebnisse auf der Ebene tatsäch licher Viktimisierung bzw. des Umgangs damit fehlen aller dings bislang. Wie es scheint, sind insgesamt im Bereich der Präventionsansätze mit besonders vulnerablen Gruppen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland noch viele Leer stellen zu beklagen. Unübersehbar sind aber auch erste positive Ansätze, die der Vertiefung und Verbreitung bedürfen. Werden zuletzt noch Ansätze angesprochen, die sich an erwachsene Guardians wenden, die als Fachkräfte oder Eltern Aufgaben beim Schutz von Kindern bzw. Jugendlichen vor sexueller Gewalt wahrnehmen, so haben die letzten Jahre auch hier in Deutschland erste positive Befunde erbracht. Bei der Evaluation eines E-Learning-Programms zu sexuellem Missbrauch zeigten Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer im Vergleich zu einer Kontrollgruppe beispielsweise deutlichere selbst eingeschätzte Kompetenzzuwächse (König et al. 2015). Ebenfalls positiv im Rahmen einer Kontrollgruppenstudie evaluiert wurde ein Fortbildungsangebot für Studierende aus dem Bereich der Sonderpädagogik (Verlinden et al. 2016). Auffallend ist allerdings, dass keine der bislang aus Deutschland vorliegenden Studien tatsächliche Veränderungen im institutionellen Schutzhandeln untersucht hat und darüber hinaus eine intensivere Beschäftigung mit Fortbildungsangeboten für Eltern aussteht.
In der Gesamtschau der letzten Jahre ist in Deutschland eine ermutigende Anzahl an Studien mit wichtigen Ergebnissen zur Wirkung von Präventionsangeboten gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen entstanden. Einigen Studien ist es gelungen, Zusammenhänge zu abnehmenden Raten an berichteten sexuellen Übergriffen oder dem Umgang damit herzustellen (z.B. Derr et al. 2017). Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass auch sehr große Studien mit mehreren Akteursgruppen zu Lerneffekten nach kindbezogenen Präventionsangeboten (z.B. Firnges/Amann 2016) oder Evaluationsstudien zu Angeboten für vulnerable Gruppen von Kindern und Jugendlichen (Bienstein 2018) möglich sind. Wenn es das Ziel ist, der Praxis in sehr verschiedenen Handlungsfeldern belegbar wirksame und praktikable Präventionskonzepte zur Verfügung zu stellen, ist aber offensichtlich erst ein Teil des Wegs zurückgelegt und weitere Studien sind erforderlich. Zudem ist erkennbar, dass es für einige Gruppen von Kindern bzw. Jugendlichen noch keinerlei Konzepte in Wirkungs prüfung gibt. Besonders wichtig wäre es, dass für den umfassenden und für Deutschland bislang spezifischen Ansatz der Schutzkonzepte bald mehr Wirkungsbefunde vorliegen.
Translation: Forschung und Praxis zusammenführen
Mit Translationsforschung wird die Idee von Praxis als bloßem Anwendungsort von Forschungsergebnissen verabschiedet. Stattdessen werden nicht nur die Sichtweisen von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Fachkräften auf Prävention und verschiedene Präventionskonzepte zu einem eigenständigen Forschungsthema, sondern es wird auch im Rahmen partizipativer Forschung die Frage bearbeitet, wie Strukturen und Konzepte verändert werden müssen, um wirksame Präventionsansätze nachhaltig zu verankern. Wie wichtig Translationsforschung für das Feld der Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche werden kann, belegen etwa Studien, die aufzeigen, dass Jugendliche teilweise fürchten, Prävention gegen sexuelle Gewalt könne von Erwachsenen genutzt werden, um ihre Freiräume wieder einzuengen (Domann et al. 2015). Auf der Ebene engagierter Fachkräfte zeigen qualitative Befragungen und Fallstudien wiederum, dass nach der Entwicklung und Durchsetzung von Schutzkonzepten in Einrichtungen neue, in der Forschung bislang wenig berücksichtigte Herausforderungen entstehen, nämlich Schutzkonzepte im Alltag lebendig zu halten (Pooch/Tremel 2016). Die angesprochenen Fallstudien deuten zudem darauf hin, dass in Einrichtungen häufig drei Umstände zusammenkommen müssen, um eine Qualitätsentwicklung in Richtung engagierter Präventionsarbeit in Gang zu setzen: (a) ein thematischer Anstoß, der aus der Einrichtung, aber auch von außen kommen kann (z.B. ein eindrücklicher Fall, eine Themenkampagne); (b) einzelne Fachkräfte, die bereit sind, sich zu engagierten und die die inneren wie äußeren Ressourcen dafür haben; und (c) eine unterstützende Leitung. Gegen den Strich gelesen deutet dies darauf hin, dass die institutionelle Prävention sexueller Gewalt weithin als etwas »Zusätzliches« empfunden wird und deshalb strukturell gefährdet ist, wenn Institutionen so »gierig« werden (Coser 2015), dass sie alle thematischen Energien der Fachkräfte und Leitungen mit Regelaufgaben binden. Daraus ergibt sich die Frage, welche Ressourcen und Motivation Einrichtungen benötigen, um Prävention sexu eller Gewalt als Regelaufgaben anzunehmen und welche Anreize und Orientierungen darüber hinaus nötig sind, um wirksame und daher meist aufwendigere Präventions konzepte aufzugreifen. Auf diese Fragen gibt es derzeit noch keine guten Antworten, da hier eine institutionenvergleichende, Qualität von Prävention einbeziehende, partizipative Forschung benötigt wird. Es ist aber klar, dass gerade der Erfolg und die zunehmende Verbreitung von Präventions konzepten diese Fragen aufs Tapet bringen.
Insgesamt wird erkennbar, an wie vielen verschiedenen Stellen im letzten Jahrzehnt in Deutschland und darüber hinaus neue Erkenntnisse zur Verbreitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, ihren Entstehungsweisen und möglichen Präventionsmaßnahmen gewonnen wurden. Schmerzlich treten dadurch auch Wissenslücken hervor und Bereiche, in denen der Praxis noch keine ausformulierten und auf Wirkungen hin geprüften Präventionskonzepte vorgeschlagen werden können. Zudem werden neue Fragen sichtbar, nicht nur im Hinblick auf neue Formen von Viktimisierung (z.B. online) oder Folgen von Umgestaltungsprozessen in Institutionen (z.B. durch Inklusion), sondern auch im Hinblick auf das Zusammenspiel von Praxis und Forschung und solche Strukturen, die eine gute Präventionspraxis in unserer Gesellschaft unterstützen.
Fussnoten
1 Sexuelle Präferenz für pubertierende Jungen oder Mädchen.
2 Zu den Evaluationsergebnissen s. den Beitrag von S. Paschke und F. Knirsch in diesem FORUM.
Veröffentlichungsdatum
Heinz Kindler, Dr. phil., Dipl.-Psych.,
leitet am Deutschen Jugendinstitut die Fachgruppe »Familienhilfen und Kinderschutz«. Forschungsschwerpunkte: Sexuelle Gewalt, Kinderschutz, Kinder in Fremdunterbringung.
Kontakt: kindler(at)dji.de
Regine Derr, Dipl.-Soz.,
Regine Derr ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut. Forschungsschwerpunkte: Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, Kinderschutz.
Kontakt: derr(at)dji.de
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
- Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
- Prävention sexualisierter Gewalt als Aufgabe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
- Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und betroffenensensible Prävention
- Erfahrungswissen in der Prävention von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend – Qualität lässt sich beschreiben
- Hinsehen, Handeln und Schützen mit Ben und Stella
- Jugendliche und ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt
- Sexuelle Gewalterfahrungen von Schülerinnen und Schülern und sexuelle Gewalt als Thema in der Schule
- Evaluation der bundesweiten Initiative Trau dich! zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
- Umgang mit sexuellem (grenzüberschreitendem) Verhalten von Kindern und Jugendlichen
- Die BKSF stellt sich vor
- Infothek - Ausgabe 02/2018