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FORUM 2–2020

Präsenzberatung und Technik sinnvoll verbinden

Bodo Reuser ist Vorsitzender der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke), Vorsitzender der LAG für Erziehungsberatung Baden-Württemberg e. V. und Geschäftsführer und fachlicher Leiter der Psychologischen Beratungsstelle für Erziehungs-, Paar- und Lebensfragen der Evangelischen Kirche in Mannheim. Zudem leitet er das dort angeschlossene Institut für Psychologische Fachberatung und Fortbildung (IPFF).

Herr Reuser, welche Formen von Beratung bietet die bke an?

Die bke ist vor allem ein Fachverband auf Bundesebene. Eigentlich bietet sie selbst keine Beratung an, sondern begleitet die fachliche Arbeit der rund 1070 Erziehungsberatungsstellen in Deutschland. Die Kernaufgaben der bke bestehen in der Entwicklung und Aktualisierung der fachlichen Qualitätsstandards, in der verbandspolitischen Vertretung der institutionellen Erziehungsberatung auf Bundesebene, im Angebot spezifischer Fort- und Weiterbildungen und von Fachtagungen sowie in der Vergabe eines Gütesiegels.

In einem Bereich ist sie allerdings doch operativ tätig. Vor ca. 20 Jahren beschäftigten sich erste Beratungsstellen, aber auch die bke, mit Fragen der Onlineberatung. Hier waren zuerst Jugendliche in Krisensituationen im Blick, die üblicherweise von Erziehungsberatungsstellen kaum erreicht wurden. Auf Bestreben der bke hat dann im Mai 2003 die Jugendministerkonferenz die Einrichtung einer bundeszentralen Erziehungs- und Familienberatung im Internet beschlossen; 2005 begann dann die Arbeit der bke-Onlineberatung.

 

Wie ist die Onlineberatung organisiert?

Die zentrale Organisation der Onlineberatung ist ein Bereich der Geschäftsstelle der bke. Sie ist institutionell gesehen zwar Teil der bke, allerdings werden die Beratungsangebote von Mitarbeitenden aus Beratungsstellen ganz unterschiedlicher Trägerschaft in ganz Deutschland erbracht. Nach dem sogenannten »Königsteiner Schlüssel« steht eine gewünschte Anzahl von Fachkräften pro Bundesland fest. Derzeit sind es insgesamt 85 Fachkräfte, die jeweils zehn Stunden pro Woche in der Jugend- bzw. Elternberatung der bke mitarbeiten. Aufgrund dieser Anzahl von mitwirkenden Fachkräften wäre die Onlineberatung quasi die größte Erziehungsberatungsstelle in Deutschland.

 

Welche Art von digitaler Beratung bieten Sie konkret an?

Angefangen hat es mit der Mailberatung. Dann kamen Chatangebote hinzu, einzeln und in Gruppen. Schließlich wurden Foren als Angebot entwickelt, in denen spezielle Themen zur Sprache kommen. Es sollten unterschiedliche Formate sein, um von einfacher Information bis zu sehr persönlichen Beratungsinhalten alles anbieten und vermitteln zu können. Und es wird immer wieder auf die lokalen Stellen verwiesen. Die bke-Onlineberatung versteht sich als eine Erweiterung der umfangreichen und vielfältigen Angebote der Erziehungsberatungsstellen. Sie deckt nur ca. ein Prozent aller Fälle der Erziehungsberatung in Deutschland ab. Damit ist sie ein weiterer und gut genutzter Zugang zu diesem Hilfeangebot.

 

Wie haben sich die drei Bereiche entwickelt?

In den 2000er-Jahren waren es überwiegend Mailkontakte; die sind in den letzten Jahren etwas zurückgegangen. Dafür sind die Chats und Foren mehr geworden und werden nach wie vor sehr gut genutzt.

 

Verliert die Telefonberatung dabei an Bedeutung?

Keineswegs. Die bke macht ja nur Onlineberatung, aber die Beratungsstellen haben, gerade jetzt in dem coronabedingten Lockdown, viel mittels Telefontechnik beraten. Damit haben sie eher durchweg gute Erfahrungen gesammelt. Der größere Teil der Ratsuchenden zog eine Telefonberatung einem längeren Warten auf einen Präsenztermin vor.

 

Welche Zielgruppen erreichen Sie?

Am Anfang waren es schwerpunktmäßig Jugendliche, die über die Website bke-jugendberatung.de Kontakt aufgenommen haben. Später kam die Überlegung auf, auch Eltern über das Internet erreichen zu können. So haben sich zwei getrennte Zugänge ergeben. Laut dem letzten Tätigkeitsberichts der bke Erziehungs- und Familienberatung im Internet aus dem Jahr 2018 wurden rund 4100 Menschen erreicht. Die Elternberatung (www.bke-elternberatung.de) zählt rund 2500, die Jugendberatung ca. 1500 Kontakte.

 

Zu welchen Themen suchen Jugendliche Rat?

Im Chatbereich sind es bei den Jugendlichen die Themen Freundschaft, Trauererlebnisse, Verlust in Freundschaft und Familien, und auch Drogen spielen eine Rolle. Weitere Themen sind psychische Erkrankungen eines Elternteils, Suchterkrankungen der Eltern, infolgedessen Vernachlässigung oder mangelnde Versorgung. Es gibt Fälle, in denen Kinder ihre Eltern am Morgen wecken und diese umsorgen – statt, dass sie unterstützt würden. Liebeskummer und Sexualität spielen auch eine Rolle. Ein weiterer Themenbereich, der nicht selten vorkommt, ist Suizidalität: das Ansprechen von Suizidgedanken bis hin zu Suizidplänen. Das ist eine sehr große Herausforderung für die Beraterinnen und Berater, die dann nur mit Übereinkünften und Versprechungen aus der Ferne arbeiten können. Allerdings versuchen Beraterinnen und Berater, insbesondere in diesem Themenbereich, Jugendliche zu motivieren, eine Beratungsstelle vor Ort aufzusuchen.

Esoterik, schwarze Magie, Jugendkulte sind auch Themen von Jugendlichen. Ein Mädchen hat beispielsweise anderthalb Jahre teils täglich sehr bedenkliche Mails geschrieben. Allerdings konnte sie nach dieser langen Zeit gewonnen werden, in die örtliche Beratungsstelle zu kommen und eine Präsenzberatung fortzuführen. Sie hat eine sehr gute Entwicklung vollzogen – allerdings hatte sie diese Zeit und diese Wege dafür gebraucht.

 

Und die Themen der Eltern?

Für Eltern sind vor allem familiäre Konflikte und die Entwicklung ihrer Kinder von Belang. Konkrete Benennungen sind z. B.: »Mein Kind verhält sich seltsam oder problematisch; ich mache mir Sorgen ...; ich habe Angst, dass es sich etwas antut; ...«. Überforderung, Hilflosigkeit, Ohnmacht den Kindern gegenüber, Streitigkeiten mit den Kindern, Probleme in der Schule, aber auch Konflikte, die Partnerschaft betreffend, Trennung, Scheidung oder auch häusliche Gewalt sind weitere Themen.

 

Worauf müssen Beratende achten?

In der Ausbildung zur Fachkraft in der Erziehungsberatung spielen Face-to-Face-Kontakte ganz klar die Hauptrolle. Die Fachkraft sieht, wie in der Live-Situation nonverbal reagiert wird, was mit den Händen geschieht, ob ein Blickkontakt besteht, ob der Ausdruck zu den Worten passt etc. Daher hat es viele Kolleginnen und Kollegen irritiert, als sie zu Beginn des Lockdowns zu ihren Klientinnen und Klienten plötzlich nur noch Kontakt über Telefon oder Mail hatten. Diese neue Situation erforderte, Stimmungen nur über das Zuhören zu erfassen, sich die mimischen Reaktionen nur noch vorstellen zu können, Stimmungen nur noch über das Medium herzustellen zu können, bei Mails zwischen den Zeilen zu lesen oder besonderen Ausdrücken Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Kollegin sagte, sie habe für eine Mail fast so viel Zeit wie für ein ganzes Gespräch gebraucht, weil sie versucht hatte, sehr genau zu lesen, und sich überlegen musste, wie ihre Worte wiederum gelesen werden könnten.

Die Resonanz, die die tatsächliche Begegnung hervorbringt, nämlich zu sehen, wie der andere auf die fachlichen Interventionen reagiert, ob er oder sie sich bewegt, empfindlich reagiert oder sich entspannt, ist bei einer mittelbaren Beratung eben nur zu erahnen.

Es ist allerdings Übungssache, sich auf die Reduktion durch die digitale Technik einzulassen und damit gut arbeiten zu können. Man muss ein bisschen von dem Dogma ablassen, die Ratsuchenden immer sehen zu müssen.

Viele Techniken und Haltungen, die in den Beratungsprozessen angewandt werden, können auch im Telefongespräch oder bei der Kommunikation über Mails zur Geltung kommen: den Fokus auf Resilienz zu legen, darauf zu achten, was gut läuft in der Familien, statt in Vorwürfen zu verharren, Wünsche und Erwartungen zu äußern, mit mehr Gelassenheit, Humor und Selbstironie die Anlässe zu behandeln, die zu Konflikten führen etc. Wenn z. B. Eltern mit ihren Kinder unzufrieden sind, dann nehmen sie das so wahr und äußern es so, als ob die Kinder alles immer falsch machten – dabei ist es, zeitlich gesehen, nur ein kleiner Bruchteil des Alltags. Häufig überlagern die Probleme und Schwierigkeiten allerdings alles andere und es wird nur noch gesehen, was Probleme erzeugt. Die Wahrnehmung und der Fokus liegen zu sehr auf dem Negativen. Diesbezügliche Interventionen können sowohl in der Präsenzberatung als auch mittels digitaler Technik erfolgen.

 

Wie sehen Sie die Zukunft digitaler Beratung?

Eine Frage, die uns seit mehreren Jahren beschäftigt, ist, wie die digitale Technik und die Präsenzberatung zusammengebracht werden und wie Beratungsprozesse von dem gezielten Einsatz der digitalen Technik profitieren können. Das Stichwort lautet hier Blended Counceling. Ich bin mir sehr sicher, sagen zu können, dass an der Präsenzberatung kein Weg vorbeiführt. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, braucht es eine Person, um in die Welt geführt und begleitet zu werden. Und so würde ich auch sagen, dass Beratung und Therapie einen Präsenzkontakt brauchen, ein individuelles, bindungsmäßiges Geschehen. Dennoch schließt das den Einsatz digitaler Technik als Hilfsmittel nicht aus. Vielmehr kann es Situationen geben, wie z. B. den Lockdown oder akute auftretende Krisen etc., die es sinnvoll erscheinen lassen, digitale Technik gezielt einzusetzen, d. h. die Präsenzberatung mit dem Notwendigen und Sinnvollen an technischen Möglichkeiten – aber auch darauf beschränkt – zu verbinden. Diese digitalen Hilfsmittel müssen selbstverständlich dem Datenschutz entsprechen, sonst machen sich die Fachkräfte der Beratungsstellen strafbar. Wir stehen hier erst am Anfang. Wir können unsere Erreichbarkeit und den Einsatz allerdings zunehmend verbessern.

Veröffentlichungsdatum

Dipl.-Psych. Bodo Reuser

Kontakt: reuser(at)bke.de

 

Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
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