Online-Videos zum Schwangerschaftsabbruch: Anbieter, Botschaften und Publikumsreaktionen
- Artikel
- Bibliografische Daten
- Autorinnen/Autoren
- Gesamtausgabe
- Forschungsprojekt
Wer sich über Schwangerschaftsabbruch informieren möchte, findet auf Social-Media-Plattformen heutzutage zahlreiche Beiträge. Anhand einer systematischen Medieninhaltsanalyse der populärsten Online-Videos und zugehörigen Publikumskommentare beschreibt der vorliegende Artikel kursorisch den Status quo der deutschsprachigen Abtreibungskommunikation auf YouTube und TikTok.
Einführung
Das Abbrechen einer ungewollten Schwangerschaft ist statistisch ein verbreitetes Phänomen – sowohl national als auch international: In Deutschland werden jährlich rund 100.000 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen (Destatis, 2022), weltweit wird jede dritte Schwangerschaft absichtlich beendet (WHO, 2023).
Der Schwangerschaftsabbruch
Der medikamentös oder chirurgisch durchgeführte Schwangerschaftsabbruch ist eine medizinische Behandlung und somit Gegenstand der Gesundheitskommunikation und gesundheitlichen Versorgung. Gleichzeitig ist der Schwangerschaftsabbruch in vielen Ländern ein Straftatbestand und somit Gegenstand der politischen Kommunikation. In Deutschland ist der Schwangerschaftsabbruch durch §218 StGB illegalisiert und kann eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren nach sich ziehen. Er wird aber gleichzeitig durch §218a straffrei gestellt, sofern er in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten auf Wunsch der Schwangeren von medizinischem Fachpersonal durchgeführt wird und mindestens drei Tage zuvor eine Schwangerschaftskonfliktberatung stattgefunden hat. Im Vergleich zu anderen west- oder nordeuropäischen Ländern wie Frankreich oder Schweden ist das Abtreibungsrecht in Deutschland besonders restriktiv (Krolzik-Matthei, 2019). In der aktuell laufenden 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages soll gemäß Koalitionsvertrag die bisherige rechtliche Regelung überprüft werden, was zu einer Entkriminalisierung führen könnte.
Ethisch und politisch kontrovers ist der Schwangerschaftsabbruch, da sich zwei Positionen gegenüberstehen, die entweder die schwangere Frau oder den Embryo bzw. Fötus ins Zentrum rücken (Krolzik-Matthei, 2019): Wenn die schwangere Person1 im Zentrum steht, geht es um ihre Entscheidungsfreiheit und ihr Menschenrecht, eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen oder eben legal und sicher beenden zu können (sog. Pro-Choice-Position). Wenn der Embryo oder Fötus im Zentrum steht, geht es um dessen Lebensrecht und ein Verbot oder zumindest eine sehr starke Einschränkung von Abtreibungen, unabhängig von Leben, Gesundheit und Wohlbefinden der Schwangeren (sog. Pro-Life-Position).
Mediendarstellungen des Schwangerschaftsabbruchs
Ungewollt Schwangere benötigen medizinische, juristische und praktische Informationen, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch erwägen und rechtzeitig durchführen lassen wollen. Weiterhin müssen sie ihre eigene Haltung für oder gegen das Austragen der Schwangerschaft klären. Nicht zuletzt sind sie gezwungen, bei der Suche nach Austausch und sozialer Unterstützung abzuwägen, wem sie sich anvertrauen können und wem gegenüber sie ihre Situation lieber verheimlichen, um nicht wegen unmoralischen Verhaltens abgewertet und ausgegrenzt zu werden. Diese Herausforderungen bei der Suche nach Informationen und Unterstützung führen dazu, dass Online-Medien für ungewollt Schwangere eine wichtige – da niedrigschwellige und diskrete – Anlaufstelle darstellen. Das gilt für Erwachsene (Bomert, 2022), aber auch für Jugendliche, von denen lediglich ein Drittel angibt, im schulischen Sexualkundeunterricht etwas über den Schwangerschaftsabbruch erfahren zu haben (Scharmanski & Hessling, 2021). Doch nicht nur für akut von einer ungewollten Schwangerschaft betroffene Personen sind Mediendarstellungen des Schwangerschaftsabbruchs relevant. Solche Repräsentationen können vielmehr auch die Meinungsbildung der breiten Bevölkerung beeinflussen.
Die Fachliteratur betont einhellig die große Bedeutung der Online-Medien im Bereich der sexuellen und reproduktiven Aufklärung (Conti & Cahill, 2027; Döring, 2017), bewertet ihre Bedeutung jedoch zwiespältig. Denn gerade Soziale Medien können nicht nur informierend wirken (Duggan, 2023), sondern auch Falschinformationen verbreiten oder gar gezielte Desinformationskampagnen. Schließlich liegen bislang kaum Studien vor, die Online-Abtreibungsinformationen systematisch untersuchen. Die wenigen verfügbaren Daten beziehen sich meist auf englischsprachige Medieninhalte (Pleasure et al., 2023).
Methode
Die vorliegende Studie2 verfolgt daher das Ziel, erstmals die deutschsprachige Darstellung des Schwangerschaftsabbruchs auf den beiden führenden Video-Plattformen YouTube und TikTok zu untersuchen. Leitend sind drei Forschungsfragen:
F1: Wer veröffentlicht reichweitenstarke Videos zum Schwangerschaftsabbruch auf YouTube und TikTok?
F2: Welche Botschaften haben reichweitenstarke Videos zum Schwangerschaftsabbruch auf YouTube und TikTok?
F3: Wie kommentiert das Publikum reichweitenstarke Videos zum Schwangerschaftsabbruch auf YouTube und TikTok?
Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen wurden auf beiden Plattformen zum Erhebungszeitpunkt im Februar 2023 jeweils die 50 bestplatzierten Videos zum Suchbegriff »Schwangerschaftsabbruch« sowie die 50 bestplatzierten Videos zum Suchbegriff »Abtreibung« ausgewählt. Die in der Videosuche bestplatzierten Videos wurden untersucht, da sie durch ihre Sichtbarkeit und Reichweite den größten Einfluss haben. »Schwangerschaftsabbruch« und »Abtreibung« wurden als Suchbegriffe genutzt, weil es sich um die beiden zentralen Begriffe im Feld handelt. Eingeschlossen wurden nur deutschsprachige Videos, die den Schwangerschaftsabbruch als zentrales Thema behandeln. Nach Ausschluss von Dubletten ergab sich ein Sample von N = 167 Videos (YouTube: n = 75 und TikTok: n = 92). Für jedes Video wurden zudem die sechs meistgeliketen themenbezogenen Kommentare erfasst, das heißt, sachfremde Kommentare wie Grüße oder Werbung wurden ausgeschlossen. Da nicht alle eingeschlossenen Videos mindestens 6 themenrelevante Kommentare aufwiesen, lag das Kommentar-Sample unter der theoretischen Maximalgröße von 167 x 6 = 1.002 Kommentaren, und zwar bei N = 807 Publikumskommentaren (YouTube: n = 326 und TikTok: n = 481).
Die Videos und Publikumskommentare wurden mit einem reliabilitätsgeprüften Codebuch ausgewertet (durchschnittlicher Reliabilitätskoeffizient: Gwets AC1 = 0.84). Die statistische Datenanalyse umfasste die Berechnung von Summen-, Mittel- und Prozentwerten. Im vorliegenden Beitrag werden in Übereinstimmung mit einschlägigen Richtlinien der Online-Forschungsethik die veröffentlichten Online-Videos zwecks Transparenz genau spezifiziert, die zugehörigen Kommentare des Publikums allerdings anonymisiert. Die Hauptbefunde werden separat für die drei Forschungsfragen berichtet.
Anbieter der Top-Videos zum Schwangerschaftsabbruch
Die Top-YouTube-Videos zum Schwangerschaftsabbruch stammen in großer Mehrheit von Medienprofis wie Journalist*innen3 (83 %). Weit abgeschlagen folgen Gesundheitsprofis (11 %), politische oder religiöse Akteur*innen (4 %) sowie Gesundheitslaien (3 %). Journalist*innen prägen somit nicht nur in den klassischen Massenmedien wie Presse und Fernsehen, sondern auch auf YouTube den Abtreibungsdiskurs. Ihre Beiträge bestehen hauptsächlich aus etwa halbstündigen Reportage-, Diskussions- oder Interviewsendungen aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Beispiele sind Videos wie »7 Tage… in der Abtreibungsklinik« (SWR Doku) oder »Sollten Schwangerschaftsabbrüche legalisiert werden? | 13 Fragen« (ZDF heute). Unter den 100 bestplatzierten YouTube-Videos zum Thema sind nur zwei Videos von Laien zu finden, die über eigene Erfahrungen berichten: fraeulein chaos (»Die schwerste Entscheidung meines Lebens: Mein Schwangerschaftsabbruch«) und Jacko Wusch (»Mein Schwangerschaftsabbruch«).
Auf der Kurzvideo-Plattform TikTok zeigt sich ein anderes Bild (siehe Abbildung 1). Hier dominieren die Gesundheitslaien (69 %) und verweisen die Medienprofis (21 %) auf den zweiten Platz. Denn während auf YouTube heutzutage von Inhaltsanbietern professionelle Videoqualität erwartet wird, können TikToks einfach schnell per Smartphone gedreht und bearbeitet werden, sodass sich niedrigschwellig viele Menschen an der Video-Produktion beteiligen können.
Botschaften der Top-Videos zum Schwangerschaftsabbruch
Betrachtet man die politischen Botschaften zum Schwangerschaftsabbruch, welche die bestplatzierten Videos vermitteln, so dominiert sowohl auf YouTube als auch auf TikTok die Pro-Choice-Position, welche auf die Menschenrechte der ungewollt Schwangeren fokussiert und ihr Entscheidungsrecht für oder gegen das Austragen einer ungewollten Schwangerschaft betont (siehe Abbildung 2). Am zweithäufigsten vertreten in den Top-Videos ist eine neutrale Position. Eine Pro-Life-Position, die Abtreibungen erschweren oder ganz verbieten will, ist nur am Rande sichtbar (YouTube: 3 %; TikTok: 5 % der Videos).
Top-Publikumskommentare zu den Top-Videos zum Schwangerschaftsabbruch
Die in die vorliegende Analyse (N = 167) eingeschlossenen bestplatzierten Online-Videos zum Schwangerschaftsabbruch bringen es insgesamt auf rund 41 Millionen Views. Dabei folgen die öffentlich sichtbaren Metriken der Publikumsreaktionen (Anzahl der Views, Likes, Shares, Kommentare) einem klaren Muster: Je häufiger ein Video angesehen wird, umso mehr Likes, Shares und Kommentare sammelt es im Laufe der Zeit. Zwischen YouTube und TikTok zeigt sich dabei der systematische Unterschied, dass TikToks, die als Kurzvideos oft nur eine Minute dauern, sehr viel schneller größere Zuschauerzahlen erreichen als die durchschnittlich 15-minütigen YouTube-Videos.
Betrachtet man die Inhalte der meistgeliketen themenbezogenen Kommentare, so zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei den Video-Botschaften: Die Pro-Choice-Position dominiert und ist in 76 % der untersuchten Kommentare (N = 807) vertreten. Im Plattform-Vergleich (siehe Abbildung 3) ergibt sich eine sehr ähnliche Verteilung der Positionen: Sowohl auf YouTube als auch auf TikTok vertreten rund drei Viertel der Top-Kommentare der bestplatzierten Videos eine Pro-Choice-Position (z. B. »Ich lasse sicher keinen Zellhaufen über mein Leben bestimmen. Es werden ja auch keine Zwangskastrationen eingeführt«). Pro-Life-Kommentare (z. B. »Schwangerschaftsabbrüche sollten außer in Härtefällen grundsätzlich bestraft werden«) hingegen sind auf beiden Plattformen selten vertreten (YouTube: 8 %; TikTok: 6 % der Kommentare).
Fazit
Das Thema Schwangerschaftsabbruch wird auf YouTube und TikTok in reichweitenstarken Videos behandelt. Auf YouTube dominieren anbieterseitig Journalist*innen, auf TikTok Gesundheitslaien. Hinsichtlich der vermittelten Botschaften ist die Pro-Choice-Position in den Top-Videos sowie meistgeliketen themenbezogenen Kommentaren deutlich führend, die Pro-Life-Position dagegen nur marginal vertreten. Diese Hauptbefunde entsprechen denen einer Analyse der meistgelikten englischsprachigen TikTok-Videos zum Schwangerschaftsabbruch (N = 200; Pleasure et al., 2023): Auch diese Studie zeigt, dass als Videoanbieter vor allem Gesundheitslaien und Journalist*innen agieren und primär die Pro-Choice-Position vertreten wird. Die aktuellen politischen Bestrebungen, die bisherige Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland kritisch zu prüfen, harmoniert mit dem hier aufgezeigten Social-Media-Meinungsbild.
Die vorliegende Studie ist durch die begrenzten Video- und Kommentarstichproben und den Fokus auf die politischen Botschaften limitiert. Zukünftige Studien sollten größere Stichproben und weitere Inhaltsdimensionen untersuchen (z. B. Art und Qualität der medizinischen Informationen zum Abbruch). Weiterhin gilt es, die Rezeptionsweisen und Wirkungen der Videos durch Befragungen und Experimente zu untersuchen. Nicht zuletzt ist die Forschung gefordert, aktuelle Medientrends aufzugreifen, etwa, welche Informationen zum Schwangerschaftsabbruch durch Künstliche Intelligenz (KI) vermittelt werden, beispielsweise bei Anfragen an KI-Tools wie ChatGPT.
Fußnoten
1Unmittelbar betroffen von Schwangerschaft und möglichem Schwangerschaftsabbruch sind Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter (Kerngruppe: 15 bis 45 Jahre). Inklusiver kann auch von gebärfähigen bzw. schwangeren »Personen« gesprochen werden, um einzubeziehen, dass z. B. auch trans* Männer Kinder bekommen können (vgl. Mehring, 2022).
2Die vorliegende Analyse ist Teil eines größeren, von der Autorin geleiteten kommunikationswissenschaftlichen Forschungsprojekts, das die Darstellung von Themen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit auf Social-Media-Plattformen untersucht. Dieses Projekt mit dem Titel »EMSA« (Erstes Mal, Menstruation und Schwangerschaftsabbruch auf Sozialen Medien) wird von 2023 bis 2026 durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gefördert. Die Autorin dankt Eva Kubitza für die Unterstützung bei der Durchführung der vorliegenden Analyse.
3Auf Wunsch der Autorin wird in diesem Beitrag der Gender-Stern verwendet.
Zitation
Döring, N. (2023). Online-Videos zum Schwangerschaftsabbruch: Anbieter, Botschaften und Publikumsreaktionen. FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 41–47.
Veröffentlichungsdatum
Nicola Döring, Dr. phil., Diplom-Psychologin, ist Professorin für Medienpsychologie und Medienkonzeption am Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft der TU Ilmenau.
Kontakt:
nicola.doering(at)tu-ilmenau.de
www.nicola-doering.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Artikel der Gesamtausgabe
- Geschlechterrollen, Hausarbeit, Paarkonflikte. Ein erster Blick in „FReDA – das familiendemografische Panel"
- Die Sicht der Eltern auf die Sexualaufklärung ihrer Kinder
- Ungewollte Schwangerschaften im Lebenslauf – Ergebnisse der Studie „frauen leben 3“
- Reproduktionspolitik im Ländervergleich: Eine neue internationale Datenbank
- Pioneering Change: ANSER's Impact Linking Research and Policy on Sexual and Reproductive Health
- Online-Videos zum Schwangerschaftsabbruch: Anbieter, Botschaften und Publikumsreaktionen
- KisS: Ein Programm zur Vermeidung sexueller Aggression bei jungen Erwachsenen
- Sexualisierte Gewalt in der Jugendphase − ein Vergleich dreier repräsentativer Studien
- „Wie geht’s euch?“ Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*
- Erfahrungen mit §219-Beratung per Telefon oder Video. Sichtweisen von Klientinnen
- Relevanz der sexuellen Rechte in der familiären und schulischen Sexualaufklärung der Schweiz
- Schulische Sexualerziehung aus Adressat*innenperspektive
- Erschwerter Zugang zu Verhütung in den Asylzentren: Perspektiven von geflüchteten Frauen in der Schweiz
- Die EMSA-Studie – Erstes Mal, Menstruation und Schwangerschaftsabbruch in Sozialen Medien
- Sexualaufklärung in der Grundschule. Eine Lehrkräftebefragung im Mixed Methods-Design
- Das EU-Projekt »PERCH«: Gemeinsam gegen HPV-bedingten Krebs
- Erasmus+ Projekt: Sexualaufklärung für Jugendliche und junge Erwachsene mit Fluchthintergrund
- »Safe Clubs« − Ein Transferprojekt zur Prävention sexualisierter Gewalt im Sport
- Unheilbar queer? Konversionsbehandlungen in Deutschland erforschen – eine Annäherung
- Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag (LeSuBiA)
- Infothek