Modellprojekt HeLB
Eine Mutter aus ländlicher Gegend, die ihr viertes Kind erwartet; eine Frau mit Fluchterfahrung, aber ohne Kenntnisse des deutschen Hilfe-, Beratungs- und Gesundheitssystems; ein Paar mit unerfülltem Kinderwunsch, das in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen lebt … Sie und andere »schwer erreichbare« Ratsuchende waren die Zielgruppen des donum vitae-Modellprojekts »HeLB – Helfen. Lotsen. Beraten.«, das der Bundesverband mit finanzieller Förderung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Mai 2019 startete.1 Das Ziel der dreijährigen Projektphase: gleichberechtigte Teilhabe an den Angeboten unseres Hilfe- und Beratungsystems, vor allem im ländlichen Bereich und für Frauen, die nur schwer den Weg in die Schwangerschaftsberatungsstellen finden. Dieses Ziel sollte durch die Entwicklung neuer zeitgemäßer Konzepte sowie die Erprobung und Implementierung niedrigschwelliger, vor allem digitaler Möglichkeiten zur Wahrnehmung des Beratungsanspruchs erreicht werden. Bestehende Angebote der Schwangerschafts(konflikt)beratung sollen somit zielgruppengerecht verbessert werden können.
Ausgehend von den Erfahrungen und Erkenntnissen aus den beiden Modellprojekten von donum vitae »Ich will auch heiraten! Implementierung passgenauer Angebote in der Schwangerschaftskonflikt- und der allgemeinen Schwangerschaftsberatung bei Menschen mit geistiger Behinderung« (2013 bis 2016)2 und »Schwangerschaft und Flucht« (2016 bis 2019)3 haben sich die HeLB-Beraterinnen4 flexibel auf die jeweiligen Bedürfnisse der – vornehmlich weiblichen – Zielgruppen eingestellt. So konnten sie neue Wege in der mobilen Beratung erschließen, neue Wege, um sprachlich Brücken zu bauen, neue Wege in der digitalen Kommunikation – alles, um den Zugang zu Beratung, auf die alle Frauen und Männer ein Recht haben, möglichst niedrigschwellig zu gestalten.
Digitale Beratung ergänzt Präsenzberatung
Neben einer schlechten Verkehrsanbindung zum Beispiel im ländlichen Raum gibt es viele Hindernisse, die Frauen die Teilhabe am Hilfe- und Beratungssystem erschweren. Sie werden von den herkömmlichen Angeboten schon im städtischen Raum oft nicht erreicht – auf dem Land gelingt dies noch seltener. Das bestehende Beratungsangebot konnte im HeLB-Projekt vor allem durch aufsuchende und digitale Angebote ausgebaut und weiterentwickelt werden. Mit einer Auswahlmöglichkeit an unterschiedlichen Beratungsformaten – dem Blended Counseling5 – sowie einem breiten Kooperationsnetzwerk sollte so die passgenaue Unterstützung für alle Ratsuchenden gelingen.
Wegen der Zuständigkeit der Länder für die Sicherstellung der Konfliktberatung war das Arbeitsfeld der (in einem Projekt auf Ebene des Bundes tätigen) HeLB-Beraterinnen auf alle Felder der Schwangerschaftsberatung außerhalb der Konfliktberatung nach § 5 SchKG begrenzt. Viele Erkenntnisse aus dem Projekt lassen sich in der Regel gleichwohl auch auf die Konfliktberatung übertragen.
Entwicklung von Angeboten und Formaten
An 23 Pilotstandorten – angeschlossen an donum vitae- Beratungsstellen im ganzen Bundesgebiet – haben die HeLB-Beraterinnen in den ersten zwei Projektjahren, der Entwicklungsphase, unterschiedliche Zugangswege wie aufsuchende und digitale Formate in der Beratung rund um Schwangerschaft und Geburt entwickelt. Sie haben in ihrem Beratungsalltag Videoberatung, schriftbasierte Online- Beratung und Online-Gruppenangebote ausgiebig getestet. Ergänzt wurden die digitalen Angebote durch die Entwicklung von Erklärfilmen, die Ratsuchenden erste Informationen zur Beratung geben und die auch in verschiedene Beratungsformate eingebunden werden können. Alle digitalen Angebote erfolgten unter strikter Beachtung der Datenschutz- und Schweigepflichtvorgaben. Im letzten Projektjahr, der Transformationsphase, führten die HeLB-Beraterinnen in Tandems ihr Wissen und ihre Erfahrungen in den Alltag weiterer 19 Modellberatungsstellen im Verband ein.
Eine Online-Fachtagung am 25. Februar 2021 stand unter dem Thema »Beratung, die ankommt – Fachtagung zu multiplen Zugängen in die Schwangerschaftsberatung«. In unterschiedlichen Dialog- und Gesprächsformaten diskutierten die Vertreter*innen von Fachverbänden und Netzwerkpartnern sowie die Berater*innen und weitere Akteur*innen aus dem Themenfeld die Erfahrungen und ersten Ergebnisse aus verschiedenen Perspektiven.6 Eine zweite Fachtagung am 16. März 2022 präsentierte das »Blended Counseling in der donum vitae-Schwangerschaftsberatung«. Die Fachtagung diente zudem dem öffentlichkeitswirksamen Abschluss des Projektzeitraums.7
Wissenschaftliche Begleitung
Welche Zielgruppe passgenau mit welchen Beratungsformaten erreicht werden kann, hat das Institut für E-Beratung der Technischen Hochschule Nürnberg über die drei Jahre projektbegleitend wissenschaftlich untersucht und systematisch ausgewertet. Um den Transformationsprozess und die Nachhaltigkeit zu sichern, wurden in einer Dokumentation des Modellprojekts die Ergebnisse und Wirkungen des HeLB-Projekts dargestellt. Zudem steht eine Evaluation der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Verfügung.
Blended Counseling, Beratungsformate und Zielgruppen
Das gut ausgebaute Beratungssystem in Deutschland geht davon aus, dass sich Ratsuchende an geeigneter Stelle Hilfe und Unterstützung holen. Diese Anforderung holt aber nicht alle Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation ab. Das Projekt untersuchte daher auch niedrigschwellige Zugänge zur Beratung. Der Einsatz von Dolmetscher*innen versetzt Klient*innen mit fehlenden Deutschkenntnissen in die Lage, selbstbestimmt über Art und Umfang der Hilfe zu entscheiden und Probleme in der Muttersprache zu klären. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist es hilfreich, für eine Beratung das vertraute Zuhause nicht verlassen zu müssen. Menschen mit geringer Literalität können über Bilder und Erklärfilme unterstützt werden. Frauen mit Behinderung sind mit unterschiedlichen Zugangshindernissen in der Beratung konfrontiert; durch angepasste Beratungsformate können auch sie individuell erreicht werden. Fortbildungen und Workshops im Projekt erweiterten das Wissen zu Zielgruppen und sensibilisierten für individuelle Bedarfe im Beratungsalltag.
Die Ergebnisse im Projekt zeigen, welche Beratungsformate bei welchen Zielgruppen funktionieren – je nach individuellem Bedarf, Unterstützung durch die Berater*innen und außenstehende Personen sowie je nach Rahmenbedingungen wie Zugang zu Technik, Internet und Räumlichkeiten. Zusammenfassend stellten wir fest, dass im ländlichen Raum die aufsuchende Beratung und die Videoberatung signifikant stärker nachgefragt wurden, die schriftbasierte Online-Beratung und die Telefonberatung fast ebenso stark und die Präsenzberatung, im Vergleich zu den allgemeinen Beratungszahlen, seltener. Gerade im ländlichen Raum ist das Blended Counseling also ein Schatz. Aber auch abseits des ländlichen Raums ist das Blended Counseling sehr gut angenommen worden und sowohl für die Klient*innen als auch für die Berater*innen wichtig: Das jeweilige Setting im Beratungsverlauf und die Wahl des Beratungsformats können die Berater*innen steuern – immer angepasst an die Bedarfe der Ratsuchenden. Jedes Beratungsformat kann für jede Zielgruppe passen – je nach den individuellen Einschränkungen und Wünschen sowie den Unterstützungsmöglichkeiten der Berater*innen. Für die Kontaktaufnahme erwies sich, neben einer guten Netzwerkarbeit vor Ort, vor allem eine Öffentlichkeitsarbeit als hilfreich, die nicht nur im lokalen, sondern auch im digitalen Raum stattfindet. Potenzielle Ratsuchende, gerade in der Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen, suchen Informationen zunehmend online und können damit unabhängig von Ort und Zeit (zum Beispiel über die Internetseite des Trägers) Kontakt mit der Beratungsstelle aufnehmen.
Im Verlauf der Pandemie haben sich Online-Gruppenangebote entwickelt. Die bereits vorhandenen und über Jahre erprobten Konzepte der Präsenzangebote wurden für das Online-Setting angepasst. Die Berater*innen entwickelten völlig neue Kompetenzen. Es zeigte sich, dass viele Methoden der Gruppenangebote auch online umgesetzt werden konnten – manche ohne Anpassung, andere mit kleinen Änderun- gen. Teilweise eröffneten sich gänzlich neue Möglichkeiten für die Arbeit im Digitalen, die mit Sicherheit auch noch nicht erschöpft sind.
Erkenntnisse aus dem Projekt
Um das Blended Counseling im Beratungsalltag erfolgreich einsetzen zu können, haben sich im Projektverlauf verschiedene Voraussetzungen und Kriterien als notwendig erwiesen:
Ausstattung
Für die Umsetzung des Blended Counseling sind die geeignete technische Ausstattung der Beratungsstellen, datenschutzsichere Tools und zusätzliche Büroausstattung wie Laptopständer, Ringlichter etc. nötig. Die Erfahrungen zeigten, dass ein Roll-up als Hintergrund eine professionelle Gestaltung für das Beratungssetting bietet. Diese Ausstattung kann nur mit den nötigen Finanzmitteln bereitgestellt werden
Qualifizierung
Qualifizierungsmaßnahmen sensibilisierten dafür, vulnerable Ratsuchende besser zu verstehen, und helfen dabei, Handlungsstrategien zu entwickeln. Dazu gehörten im Projekt verschiedene Fortbildungen zu den Zielgruppen und zum ländlichen Raum, zu digitalen Beratungsformaten, aber auch zu Grundlagen der Beratung allgemein. Ursprünglich waren die Fortbildungen in Präsenz geplant, aber aufgrund der Pandemie mussten sie online durchgeführt werden. Auch hier entwickelten sich völlig neue Kompetenzen bei den teilnehmenden Berater*innen und Verwaltungskräften, aber auch im Bundesverband und bei den Referent*innen der Fortbildungen. Die entwickelten Formate von online durchgeführten Fortbildungen, Workshops und Konferenzen waren ein erfolgreicher Schritt zu mobiler Beratungstätigkeit. Nicht nur die Verknüpfung der Beratungsformate zum Blended Counseling, sondern auch die flankierenden Online-Formate, die bei Netzwerken, in der Gruppenarbeit sowie in der Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern vielfältig eingesetzt werden können, erweiterten den Handlungsspielraum der Beratungsstellen.
Implementierung der Erfahrungen
Die Arbeit in den Tandems (in der Transformationsphase) ermöglichte den Austausch und die Implementierung der Ergebnisse in einem komprimierten Format. Auch die Be- rater*innen der Modellberatungsstellen besuchten im Laufe der Transformationsphase verschiedene Qualifizierungsangebote und wurden für die Bedarfe der Zielgruppen des Projekts sensibilisiert.
Die Pandemie hat das Modellprojekt stark beeinflusst. Die Statistik zeigt, dass der Einsatz der Beratungsformate schriftbasierte Online-Beratung, Videoberatung und Telefonberatung während der Lockdowns stark zunahm und dass Videoberatung und Telefonberatung miteinander korrelieren. Im Sommer nach dem ersten Lockdown war das Bedürfnis vieler Menschen groß, sich wieder persönlich zu treffen. Dadurch intensivierte sich das Blended Counseling.
Fazit
Das Projekt hat gezeigt, dass es eine große Vielfalt von Beratungsformen und -zugängen gibt, die die Klienten*innen sehr gut annehmen. Das Angebot multipler Formate hat für viele Zielgruppen große Vorteile und bietet eine qualitative Verbesserung des Beratungsangebots. Nach drei Jahren Entwicklung und Erprobung können wir sagen: Mit diesem Projekt ist donum vitae in eine neue Zeit gestartet und zieht eine positive Bilanz! Im Beratungsalltag stehen mehr Möglichkeiten zur Verfügung, um Ratsuchende zu erreichen und um Beratung kreativ zu gestalten – angepasst an die Bedarfe der Ratsuchenden. Um die Nachhaltigkeit auch über das Projektende hinaus sicherzustellen, wird donum vitae mit dem Handwerkszeug und diesen Erkenntnissen das Konzept des Blended Counseling weiterentwickeln und bewährte Beratungsformate mit digitalen Angeboten verknüpfen.
Handlungsempfehlungen für die Beratung:
- Blended Counseling sollte in den Fortbildungsprogrammen der Beratungsnetzwerke Eingang finden, um allen Ratsuchenden eine gleichberechtigte und niedrigschwellige Teilhabe am Recht auf qualifizierte und den individuellen Bedarfen angepasste Beratung zu sichern – unabhängig vom Wohnort.
- Dazu sind alle Berater*innen mit Blick auf die besonderen Anforderungen der digitalen Beratung zu qualifizieren. Wichtig ist auch, die Verwaltungsangestellten in die Weiterbildung einzubeziehen.
- Multiple Beratungskompetenz bleibt nicht bei der Fähigkeit zur Anwendung digitaler Tools stehen – Fortbildungen erweitern das Fachwissen und sensibilisieren für die individuellen Lebenslagen der Ratsuchenden.
- Es versteht sich, dass der Einsatz digitaler Beratungsformate nicht auf Kosten der bewährten Formate der unmittelbaren Beratung in Präsenz bzw. der aufsuchenden Beratung geschehen darf, die nach wie vor integrale Bestandteile des Konzepts des Blendend Counseling sind.
- Korrelierend ist aber auch der Ausbau der digitalen Infrastruktur zur Ergänzung der Präsenzberatung zu beschleunigen.
- Die Refinanzierung der Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen ist so abzusichern, dass die technische Ausstattung gesichert ist.
- Dazu sind alle Berater*innen in technischer Hinsicht zu qualifizieren, sowohl was den Umgang mit Endgeräten (Computer, Tablet, Handy) als auch mit den entsprechenden Programmen betrifft.
- Auch ein grundlegendes Verständnis hinsichtlich des Datenschutzes ist unerlässlich.
- Menschen mit Behinderungen konnten in diesem Projekt auch aufgrund der Pandemie noch schlechter erreicht werden als sonst. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Das Recht auf Beratung steht allen Menschen zu! Zur gleichberechtigten Teilhabe hat sich Deutschland verpflichtet und es muss diese Verpflichtung auch einlösen.
- Die Finanzierung des Dolmetschens ist in vielen Beratungsstellen nicht gesichert. Zudem fehlen Dolmetscher*innen für bestimmte Sprachen. Der Aufbau eines Netzwerks von Dolmetscher*innen sollte angegangen werden. Die Dolmetscher*innen müssen qualifiziert und mit Supervision begleitet werden. Eine passende Strategie für das Dolmetschen fehlt an einigen Beratungsstandorten noch, vor allem aufgrund fehlender Finanzierung.
- Die Refinanzierung der Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen ist an regionale Zuständigkeiten gekoppelt. Digitale Beratung ist aber davon unabhängig. Daher müsste dies in der Refinanzierung der Beratungsstellen zukünftig berücksichtigt werden.
Zum Abschluss des HeLB-Projekts ist eine Dokumentation erschienen. Diese und weiteres Hintergrundmaterial zum Projekt sind auf der Internetseite des donum vitae Bundesverbands zu finden: https://www.donumvitae.org/ueber-uns/ dokumentation-des-modellprojektes-helb
Zitation
Schyma, P. (2022). Modellprojekt HeLB, FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 28–32.
Veröffentlichungsdatum
Petra Schyma ist Dipl. Sozialarbeiterin und Sexualpädagogin. Seit 2011 ist sie im Bundesverband donum vitae als Referentin und Projektleitung tätig. Von 2019 bis April 2022 hatte sie
die Projektleitung für das Modellprojekt »HeLB – Helfen. Lotsen. Beraten.« inne.
Kontakt:
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Jugendliche Mediennutzung Ergebnisse der JIM-Studie 2021
- Verhütungsinformationen in Sozialen Medien: TikTok überholt Instagram und YouTube
- Schwangerschaftsberatungsstellen im pandemiebedingten Wandel. Auf dem Weg in eine digitalisierte Zukunft?
- Digitalisierung im Projekt ReWiKs: Herausforderungen und Chancen
- Wir vor Ort gegen sexuelle Gewalt OnlineBeratungsnetz für Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend
- Sexualaufklärung per App
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- Frühe Hilfen digital bekannt machen – Elternansprache über Instagram
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