Mobile Medien Selfies, Sexting, Selbstdarstellung
Ergebnisse einer quantitativen Studie zum Umgang Jugendlicher mit Sexting
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In der öffentlichen Diskussion wird Sexting vorrangig als sexualbezogenes Interaktionsrisiko thematisiert. Im Fokus stehen dabei die mögliche Weiterleitung von Bildmaterial und damit verbundene negative Folgen, wie z. B. Mobbing und Stigmatisierung der abgebildeten Person. Beim Sexting handelt es sich jedoch nicht per se um ein riskantes Mediennutzungsverhalten. Der in Form von Selfies in Szene gesetzte Körper kann ein wichtiger Bezugspunkt der sexuellen Identitätsentwicklung im Jugendalter sein (vgl. Tillmann 2014, S. 44). Mittels sexualisierter Selbstdarstellung können Jugendliche beispielsweise ihre sexuellen Identitätsentwürfe erproben, Normen von Schönheit, Attraktivität, »Sexyness«, Weiblichkeit/Männlichkeit testen und auf Tauglichkeit für das eigene Selbst überprüfen. Mit welchen Potenzialen Sexting im Rahmen der sexuellen Sozialisation und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter verbunden sein kann, wird jedoch häufig nicht betrachtet.
In welchen Kontexten findet Sexting statt?
Je nach zugrunde liegender Definition, sind die Angaben zur Häufigkeit des Vorkommens von Sexting im Jugendalter sehr unterschiedlich. In der durchgeführten Online-Befragung (vgl. Vogelsang 2017) geben 28 Prozent der 254 Befragten an, schon ein- oder mehrmals ein erotisches Foto oder Video, auf dem sie selbst nackt oder halbnackt zu sehen sind, an andere Jugendliche versendet zu haben. Mit 55 Prozent haben mehr als die Hälfte der Befragten schon ein- oder mehrmals sogenannte Sexts (Sexting-Fotos/Videos) erhalten (vgl. ebd., S. 274).
Bereits 2012 konnte Hoffmann im Rahmen einer qualitativen Studie feststellen, dass Sexting in verschiedenen Szenarien abläuft: als Bestandteil einer Paarbeziehung (zur Beziehungspflege, zur Aufrechterhaltung des sexuellen Verlangens bei Fernbeziehungen, als Vertrauensbeweis etc.), zur Anbahnung einer Beziehung, zum unverbindlichen Flirten, zum Verabreden von Gelegenheitssex oder aus Motiven, denen keine sexuelle Intention zugrunde liegt, wie z. B. zum Spaß oder zum Einholen eines Werturteils von Freund*innen (vgl. ebd., S. 55 ff.). Auch in der durchgeführten Online-Befragung spiegelt sich dies wider. Knapp über die Hälfte der befragten Sexter*innen nennen als Adressat*innen der Sexts feste Freund*innen. Es zeigt sich somit deutlich, dass Sexting überwiegend als Bestandteil einer Paarbeziehung abläuft. Doch auch beste Freund*innen oder Personen, die ausschließlich aus dem Internet bekannt sind, werden von einem Teil der Jugendlichen als Adressat*innen des Bildmaterials angeführt.
Als Motive für das Versenden/Veröffentlichen von Sexts geben die befragten Jugendlichen an, Sexting z. B. zum Flirten zu nutzen (m: 53 %; w: 15 %), Bilder als Scherz oder zum Spaß versendet zu haben (m: 31 %; w: 33 %) oder um sich selbst sexy zu fühlen (m: 16 %; w: 13 %). Das Versenden von sexualisierten Selfies oder Nacktfotos an Online-Bekanntschaften sowie das bewusste Veröffentlichen sexualisierter Selbstdarstellungen der eigenen Person zum Flirten steht jedoch im Widerspruch zu den in der Praxis häufig vorkommenden Empfehlungen, generell nicht mit Fremden bzw. Online-Bekanntschaften zu kommunizieren, keine sexualisierten Fotos zu veröffentlichen, sowie Ratschlägen, den Zugriff auf das eigene Profil in sozialen Netzwerken für fremde Kontakte zu beschränken. In der medien- und sexualpädagogischen Praxis ist es daher wichtig, zu berücksichtigen, dass das Anwenden der häufig empfohlenen Sicherheitsstrategien für Jugendliche mit Ambivalenzen und Widersprüchen verbunden sein kann. Ein kompetenter Umgang mit Sexting bzw. ein »Safer-Sexting« (vgl. Döring 2012, S. 20) schließt das Abwägen möglicher Chancen und Risiken ein. Damit verbunden ist die Reflexion, wie ein sensibler Umgang mit Sexting-Bildern aussehen kann, der sowohl Sicherheitsstrategien berücksichtigt als auch dem Bedürfnis gerecht wird, sich selbst darzustellen, die sexuelle Identität zu erproben und sexuelle Beziehungen zu initiieren bzw. mit fremden Personen zu flirten.
Im Einklang mit Ergebnissen internationaler Studien zeigt sich in der Online-Befragung deutlich, dass Sexting bei einem Großteil der Befragten reziprok abläuft. Fast zwei Drittel der Jungen und ein Drittel der Mädchen geben an, das Sexting-Bildmaterial als Antwort auf ein erhaltenes Sexting-Bild verschickt zu haben. Erfolgt ein gegenseitiger Austausch der sexualisierten Selfies, können erhaltene Bilder der Rück versicherung dienen, damit versendete Bilder der eigenen Person nicht weitergeleitet werden.
Als weiteres Motiv für Sexting geben 29 Prozent der Jungen und 43 Prozent der Mädchen an, die Bilder/Videos als »sexy Geschenk« für den/die Partner*in verschickt zu haben. Hinsicht lich dieses Motivs stellt sich jedoch die Frage, inwiefern dabei möglicherweise die eigene Grenze überschritten wurde, um dem/der Partner*in eine Freude zu machen oder Erwartungen des/der anderen zu erfüllen.
Bedenklich erscheint, dass auch gruppendynamische Aspekte (»… weil das andere auch gemacht haben«, m: 6 %; w: 15 %) oder Druck durch andere Personen (m: 6 %; w: 13 %) als Motive für Sexting genannt werden. Zwar spielen diese Aspekte im Vergleich zu den anderen Motiven ausschließlich eine untergeordnete Rolle, es ist jedoch wichtig, diese Szenarien als Risiken mit in den Blick zu nehmen und in der sexual- und medienpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen aufzugreifen. Im Fokus steht hier die Reflexionsfrage »Wie möchte ich meine Sexualität leben und meine sexuelle Identität ausgestalten?.« Eine Sensibilisierung Jugendlicher für die Wahrnehmung und Achtung eigener Gefühle ist dabei von besonderer Relevanz. Als Empfehlung für ein sicheres Sexting formuliert Döring (2012): »Höre (…) auf dein Bauchgefühl und lasse dich zu nichts überreden, womit du dich nicht wirklich wohl fühlst und wovon du nicht selbst überzeugt bist« (S. 21).
Weiterleitung von Bildmaterial und »Victim-Blaming«
Als problematischer Aspekt des Sextings kann die mögliche Weiterleitung des Bildmaterials gesehen werden, die häufig mit negativen Folgen verbunden ist.
In der durchgeführten Online-Befragung berichten 10 Prozent der befragten Sexter*innen, dass ein von ihnen verschicktes Foto/Video schon einmal ohne ihr Einverständnis an andere weitergeleitet oder veröffentlicht wurde. Damit stimmt der Wert der Online-Befragung mit US-amerikanischen Befunden überein (vgl. Cox Communication 2009, S. 38; GfK Group 2013, S. 44).
Von den Jugendlichen, die bereits Sexting-Bildmaterial erhalten haben, geben 23 Prozent an, die Sexting-Bilder/Videos anderer ohne Einverständnis weitergeleitet oder anderen Personen gezeigt zu haben. Zwar kennen knapp drei Viertel der Befragten das Recht am eigenen Bild, doch auch das Bewusstsein über eine mögliche Rechtsverletzung hindert einen Teil der Befragten nicht daran, Bilder/Videos anderer Jugendlicher ohne deren Einverständnis weiterzuleiten.
Ein zentraler Aspekt, der in Verbindung mit der Weiterleitung von Sexts gesehen werden muss, ist das sogenannte Victim-Blaming – die Schuldzuschreibung an die abgebildete Person. 67 Prozent der Befragten stimmen der Aussage »Wer intime Fotos von sich verschickt, ist selbst schuld, wenn die Bilder dann an die Öffentlichkeit gelangen« voll und ganz oder eher zu (vgl. Vogelsang 2017, S. 287). Die Studienergebnisse legen somit ein gravierendes Ausmaß des Victim-Blamings offen.
Die Ergebnisse zur Weiterleitung der Bilder/Videos, die damit verbundene bewusste Missachtung des Rechts am eigenen Bild und das deutliche Victim-Blaming weisen darauf hin, dass der kompetente Umgang mit Sexting als Basis eine Grenzen achtende Kommunikationskultur voraussetzt, die ein Teil der Befragten nicht lebt. Es zeigt sich somit deutlich, wie wichtig es ist, eine kritische Reflexion ethisch-moralischer Aspekte des Umgangs miteinander anzu regen und soziale Kompetenzen, Respekt und Empathiefähigkeit zu fördern.
Berücksichtigung stereotyper Geschlechterzuschreibungen
Das Veröffentlichen von Sexts wird von ca. einem Drittel der Befragten als rufschädigender für Mädchen eingeschätzt als für Jungen (vgl. Vogelsang 2017, S. 285). Dies erscheint vor dem Hintergrund stereotyper Geschlechterzuschreibungen nicht verwunderlich, denn männliche und weibliche Jugendliche verfügen über unterschiedliche geschlechternormative Grenzen und Freiheiten, die das Verhaltensrepertoire sowie die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Jugendlichen eingrenzen. Offensives sexuelles Handeln, wie das Erstellen, Versenden und Weiterleiten von Sexting-Bildmaterial, unterliegt in unserem Kulturkreis unterschiedlichen geschlechtsbezogenen Zuschreibungen und Normen. Während von weiblichen Jugendlichen im typischen Beziehungs- und Dating-Skript im Kontext der heterosexuellen Matrix sexuelle Zurückhaltung/Passivität erwartet wird, wird männlichen Jugendlichen der aktive sexuelle Part zugeschrieben (vgl. Döring 2012, S. 14). Offensives sexuelles Verhalten bei Mädchen stellt somit eine sexuelle Normverletzung dar. Diese wird häufig mit einem negativen Image (»billig« bzw. »schlampig«) verbunden (vgl. Grimm et al. 2010, S. 113). Im Gegensatz dazu wird offensives sexuelles Verhalten bei Jungen vorrangig mit Männlichkeit assoziiert. Für Mädchen ergibt sich hieraus eine sexuelle Doppelmoral, denn sie stehen beim aktiven Sexting vor der widersprüchlichen Anforderung, sich als sexy darzustellen, aber gleichzeitig nicht »billig« oder »schlampig« zu wirken.
Die vorliegenden Forschungsbefunde weisen darauf hin, dass die stereotypen Geschlechterzuschreibungen das sexuelle Medienhandeln – inklusive der damit verbundenen möglichen Nutzungspotenziale und Gefahren – beeinflussen können. Im Hinblick auf das bereits thematisierte Victim-Blaming ist daher die Reflexion zentral, ob weiblichen Jugend lichen im Umgang mit Sexting andere Freiheiten zugestanden werden als männlichen Jugendlichen.
Eine sexualbezogene Medienkompetenz schließt Wahrnehmen, Analysieren und Reflektieren stereotyper Geschlechterzuschreibungen im Umgang mit Medien ein (vgl. Vogelsang 2017, S. 314). Dazu gehört auch die Berücksichtigung des (medialen) Orientierungsangebots für die sexuelle Identitätsentwicklung im Jugendalter. Im Kontext der medien- und sexualpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen ist es daher wichtig, zu hinterfragen, welche Geschlechterstereotype und Normen von Schönheit, Attraktivität und Sexyness z. B. in Video-Schmink-Tutorials auf YouTube oder durch andere mediale Stars und Vorbilder vertreten werden (s.a. den Beitrag von Prommer et al. in dieser Ausgabe).
Ansprechpersonen, Hilfs- und Unterstützungsangebote
Um Unsicherheiten und Fragen im Umgang mit Sexting zu thematisieren und Hilfe und Unterstützung zu erhalten, falls z. B. Bildmaterial weitergeleitet wird oder Sexting in Verbindung mit sexueller Gewalt oder sexualisiertem Mobbing steht, benötigen Jugendliche Ansprechpersonen, denen sie sich anvertrauen können. Da 16 Prozent der befragten Jugendlichen (n=245) angeben, über keine Ansprechpersonen zu verfügen oder sich nicht zu trauen, mit anderen Personen über sexuelle Themen zu sprechen, ist es in der sexual- und medienpädagogischen Praxis wichtig, Jugend li chen Räume zu eröffnen, in denen sie ihre Fragen zum Thema be sprechen können und Hilfe und Unterstützung erhalten (vgl. ebd., S. 297f.).
Darüber hinaus ist eine Aufklärung Jugendlicher über mögliche Hilfs- und Beratungsangebote zentral. Weniger als die Hälfte der Befragten geben an, spezialisierte Beratungseinrichtungen zu kennen. Online-Beratungsangebote, die aufgrund ihrer Anonymität und leichten Zugänglichkeit niedrigschwellige Unterstützung ermöglichen, sind ausschließlich einer Minderheit bekannt (vgl. ebd., S. 299).
Schlussfolgerungen für die Förderung einer sexualbezogenen Medienkompetenz
Die Studienergebnisse zeigen, dass Sexting für einen nicht zu vernachlässigenden Anteil der Jugendlichen zum sexuellen Experimentieren im Jugendalter dazugehört, selbstbestimmt abläuft und mit Nutzungspotenzialen verbunden ist. In der Praxis steht jedoch häufig ausschließlich das Risiko der Weiterleitung im Fokus mit der Aufforderung an Jugendliche, Sexting zu unterlassen.
Derartige Abstinenzforderungen blenden jedoch positive Nutzungspotenziale aus, entmündigen Jugendliche und tragen zu einer Verstärkung der Schuldzuweisung an Betroffene von weitergeleitetem Sexting-Bildmaterial bei (vgl. Hoffmann 2012, S. 85). Medienkompetenz im Umgang mit Sexting zu fördern bedeutet, Jugendliche darin zu unterstützen, dass sie sich auf Basis der Reflexion individueller Bedürfnisse und sozialer Anforderungen, Werte und Normen, möglicher Risiken und Nutzungspotenziale selbstbestimmt für oder gegen aktives Sexting entscheiden können. Die Förderung einer sexualbezogenen Medienkompetenz und einer Grenzen achtenden Kommunikationskultur ist dabei eng mit der Förderung von Sozialkompetenz, ethischmoralischer Urteilsfähigkeit, emotionaler Kompetenz, sexueller Bildung, Genderkompetenz und der Fähigkeit zur Anschlusskommunikation verbunden.
Veröffentlichungsdatum
Verena Vogelsang, Dr. phil., Diplom-Pädagogin
mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für soziale Arbeit e.V. Münster. Ihre Arbeits- und Forschungsthemen sind: Kinder- und Jugendmedienforschung, sexualbezogene Medienkompetenzförderung, Prävention sexualisierter Gewalt.
Kontakt: verena.vogelsang(at)isa-muenster.de
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
- Jugendliche und Social Media
- »Das Internet ist immer da«
- Sexualaufklärung in digitalen Medien:
- Geschlechterdarstellungen auf YouTube
- Mobile Medien Selfies, Sexting, Selbstdarstellung
- Loveline
- Mediennutzung und Essstörungen
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- Infothek - Ausgabe 01/2019