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FORUM 1–2024

Krieg, Pandemie und Zukunft: Was Jugendliche bewegt

Alle zwei Jahre werden Neuntklässler*innen in Baden-Württemberg zu ihren Einstellungen und Erfahrungen mit Themen rund um Politik und Gesellschaft befragt. Die jüngste veröffentlichte Studie 2022 traf genau den Zeitpunkt des russischen Angriffs auf die Ukraine und berührte noch die letzten Monate der Covid-19-Pandemie.

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Was wollt ihr nach der Schule machen? Wofür interessiert ihr euch? Werden eure Belange im politischen Tagesgeschehen adressiert? Jugendliche gegen Ende der Pflichtschulzeit befinden sich in einer Phase ständigen Fragens. Fragen, die an sie gerichtet werden, aber auch Fragen, die sie selbst haben: an das Leben, die Schule, Lehrkräfte, Freundinnen, Freunde, Eltern oder sich selbst (Eschenbeck & Knauf, 2018; Pinquart et al., 2018). In der mittlerweile sechsten Jugendstudie Baden- Württemberg, die im Frühjahr 2022 stattfand, äußerten sich 2 160 Schüler*innen1 der neunten Klasse und beantworteten Fragen in Form eines standardisierten Fragebogens. Die meisten Jugendlichen (knapp 38 %) besuchten eine Realschule, fast ebenso viele (knapp 35 %) ein Gymnasium. 17 % waren auf einer Gesamtschule, 8 % auf einer Haupt- und Werkrealschule, etwa 2 % besuchten ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ). Durch die Gewichtung entsprechen diese Anteile denen der Grundgesamtheit (Klassenstufe 9) in Baden-Württemberg.

Eine Besonderheit der sechsten Jugendstudie war, dass die Jugendlichen im Befragungszeitraum vom 24. Februar bis zum 9. Mai 2022 beim Ausfüllen des Fragebogens unter dem unmittelbaren Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine standen. Gleichzeitig waren die letzten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie noch deutlich zu spüren.

Was die Jugendlichen bewegt

Die Lebenswelt der Jugendlichen heute ist so virulent wie nie zuvor. In der Jugendstudie 2022 gaben sie Einblicke in das, was sie bewegt und welche Themen ihnen besonders wichtig sind.

Familie und Gesundheit am wichtigsten

Aus einer Reihe von Themen sollten die Neuntklässler* innen die beiden für sie wichtigsten auswählen. Über die Jahre zeigte sich, dass die zentralen Werte der Jugendlichen weitestgehend stabil sind: Wie bereits in den Jugendstudien 2017 und 2020 waren den Jugendlichen ihre Familie, Gesundheit und der Freundeskreis am wichtigsten. Dabei änderte sich die Rangfolge der ausgewählten Themen vor allem bei den Top-Werten über die Zeit hinweg kaum: Für zwei Drittel (67 %) ist die Familie eines ihrer beiden bedeutsamsten Themenfelder, für 44 % die Gesundheit und für 26 % ihr Freundeskreis. Weitere zur Auswahl stehende Themen wie Geld, Freizeit, Liebe, Erfolg oder Umwelt wurden deutlich seltener priorisiert.

Sorgen und Belastungen

Nicht erst seit der Corona-Pandemie hat das Thema seelische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen einen Stellenwert erlangt, der sowohl im Bereich wissenschaftlicher Forschung als auch in den Medien breit dokumentiert ist (Ravens-Sieberer et al., 2021; Reiss et al., 2019; Xie et al., 2020). Selbst international vergleichende Schulleistungsstudien wie PISA greifen Aspekte wie Mobbing oder Bullying im schulischen Kontext auf und bilden eine weite Verbreitung entsprechender Erfahrungen ab, die weltweit anzutreffen sind (OECD, 2020).

Im Rahmen der Jugendstudie 2022 in Baden-Württemberg wurde der Fokus deshalb besonders auf psychische Belastungen und Sorgen gelegt: Zur Sprache kamen in der vorliegenden Befragung die Aspekte »Sich Sorgen machen«, Schlafprobleme, Antriebslosigkeit, das Gefühl, sich zu sehr anstrengen zu müssen, oder eine generelle Niedergeschlagenheit. Die Jugendlichen sollten angeben, wie häufig sie in der vergangenen Woche von diesen Aspekten betroffen waren (»immer«, »fast immer«, »meistens«, »manchmal«, »fast nie«, »nie«). Ein Blick auf die Antworten der Jugendlichen ergibt, dass sie sich insgesamt recht viele Sorgen machten: Lediglich 19 % gaben an, sich in der letzten Woche nie oder fast nie Sorgen gemacht zu haben. Sich Sorgen machen war unter den erfragten Facetten psychischer Belastungen die am häufigsten berichtete Kategorie. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen kennt zudem Schlafprobleme; auf die Frage, wie oft sie in der letzten Woche unruhig geschlafen haben, gaben 6 % an, dass dies zumindest manchmal der Fall gewesen war.

Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine betrafen die Sorgen der Jugendlichen am häufigsten Krieg und Terror (67 % machten sich große oder sehr große Sorgen), soziale Ungleichheit und Armut (46 % machten sich große oder sehr große Sorgen) und den Klimawandel (41 % machten sich große oder sehr große Sorgen). Am wenigsten sorgten sich die Jugendlichen bezüglich der Themen Zuwanderung nach Deutschland (33 % machten sich große oder sehr große Sorgen) und Corona (25 % machten sich große oder sehr große Sorgen). Zwei Jahre nach den ersten Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie war Corona kein großes Sorgenthema mehr für die Jugendlichen.

Vertrauen

Vertrauen ist eine der wichtigsten Grundlagen für demokratisches Denken und Handeln und damit auch für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften (Luhmann, 2014). Die in der Jugendstudie befragten Neuntklässler*innen dürfen bei der anstehenden Europawahl 2024 erstmals selbst wählen, weshalb die Frage des Vertrauens in Akteurinnen und Akteure der politischen Sphäre besonders aufschlussreich ist. Umso ernüchternder sind die Ergebnisse: Politiker*innen schnitten in Bezug auf das Vertrauen der Jugendlichen schwach ab, lediglich 27 % der Befragten gaben an, Politiker*innen eher nicht, und 15 % gaben an, ihnen überhaupt nicht zu vertrauen. 38 % antworteten mit »teils/teils«, gut 10 % mit »eher mehr Vertrauen« und weniger als 1 % mit »volles Vertrauen«. Ähnlich niedrige Zustimmungswerte beim Vertrauen erhielten politische Parteien: 31 % gaben eher kein Vertrauen, weitere 14 % gaben überhaupt kein Vertrauen an. Im Gegensatz dazu genossen Expert*innen ein hohes Vertrauen bei den Jugendlichen: 41 % berichteten, diesen eher mehr, und 16 % gaben an, ihnen voll zu vertrauen.

Wunsch nach Berufsorientierung

Mit Blick auf die Zukunft beschäftigte die Jugendlichen vor allem die Frage, welchen Beruf sie einmal ergreifen möchten und ob sie später dort einen Arbeitsplatz finden werden. Angesichts des zunehmenden und sehr präsenten Fachkräftemangels ist erstaunlich, dass gut zwei Drittel unter ihnen sichSorgen machten, später einmal einen Arbeitsplatz zu finden. In Bezug auf die Berufsfelder, die sich die Jugendlichen wünschen, waren deutliche Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen erkennbar. Die von weiblichen Befragten am häufigsten genannten Berufsfelder waren Gesundheit/Medizin (32 %), Soziales/Pädagogik (30 %), Kunst/Gestaltung (18 %) und Büro/Verwaltung (14 %). Männliche Jugendliche hingegen nannten am häufigsten technische Berufe (32 %), die IT/Computer-Branche (28 %), das Handwerk (20 %) oder den Sportbereich (17 %).

Wie die Jugendlichen zu ihrer Berufswahl kommen, ist in zahlreichen Studien beschrieben worden, und auch die Jugendstudie 2022 bestätigt, dass die wichtigsten Bezugspersonen hierfür die Eltern sind. 86 % der Jugendlichen sprachen mit ihren Eltern über die Berufswahl, 67 % auch oder stattdessen mit ihren Freundinnen und Freunden. Fast jede*r Zehnte gab an, mit niemandem über die Berufsorientierung reden zu können. Das Internet ist hier eine wichtige Informationsquelle, die von gut zwei Dritteln genutzt wurde. Insgesamt wünschten sich die befragten Jugendlichen mehr persönliche Unterstützung bei der Berufswahl, insbesondere von ihrer Schule: Gut die Hälfte gab an, sich mehr Unterstützung allgemein zu wünschen, und von diesen waren es 75 %, die konkret ihre Schule in der Pflicht sahen, hier aktiver zu werden. Jeweils ein knappes Drittel benannte hier die Eltern oder ein Berufsinformationszentrum (BIZ).

Jemand zum Reden

Wenn es den Jugendlichen gesundheitlich oder psychisch schlecht ging, hatten die meisten von ihnen jemanden, an den oder die sie sich wenden konnten (77 %). Meist hatten sie sogar mehrere Personen, denen sie sich anvertrauten. Am häufigsten waren dies Familienmitglieder (knapp 82 %) oder Freund*innen (knapp 77 %). Wesentlich seltener wurden Personen in der Schule als Vertrauenspersonen genannt: Nur etwa jede sechste Person besprach Probleme mit Lehrkräften oder der Schulsozialarbeit, jeweils knapp 12 % wandten sich an professionelle Psycholog*innen, Therapeut*innen oder an nicht näher spezifizierte andere. Aus einer institutionellen Perspektive wird hier deutlich, dass Schulen in Bezug auf die Wahrnehmung von Jugendlichen als ganze Personen (und nicht nur in ihrer Rolle als Schülerin oder Schüler) noch viel verbessern können. Wenn Jugendliche ihre Schule als einen Ort mit Vertrauenspersonen wahrnehmen, identifizieren sie sich auch stärker mit ihr, als wenn dies nicht der Fall ist.

Fazit

Insgesamt haben sich in der Jugendstudie 2022 in Baden-Württemberg gegenüber den früheren Erhebungen keine markanten Veränderungen bei den Werten und Einstellungen der Jugendlichen gezeigt. Familie, Gesundheit und ihr Freundeskreis waren ihnen nach wie vor am wichtigsten, während ihnen Krieg und Terror am meisten Sorgen machten. Diese Themen traten unter dem unmittelbaren Eindruck des Krieges in der Ukraine stark hervor. Die Herausforderungen, mit denen sich die Jugendlichen mit Blick auf ihre Zukunft konfrontiert sehen, etwa Klimawandel oder soziale Ungleichheiten, sind nicht neu, verschärfen sich jedoch zusehends. Die nachfolgende Jugendstudie 2024, deren Datenerhebung aktuell läuft, wird die Bedeutung dieser Themen erneut untersuchen und die Entwicklung der Prioritäten der nächsten Kohorte aufzeigen.

Fußnote

1 Auf Wunsch der Autorin wird in diesem Beitrag der Gender- Stern verwendet. 

Veröffentlichungsdatum

Christine Sälzer, Prof. Dr., Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: Lehrkräftebildung, international vergleichende Schulleistungsstudien, Schulabsentismus
Kontakt: christine.saelzer(at)ife.uni-stuttgart.de 

 

Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

FORUM 1–2024

Jugend

Das Thema »Jugend« bildet den Schwerpunkt dieser Ausgabe des FORUM. In den Artikeln geht es um das Selbstbild Jugendlicher, ihre Lebenszufriedenheit – nach Corona und unter dem Eindruck multipler Krisen –, die Zunahme psychischer Belastungen sowie Einstellungen zu Partnerschaft, Familie und Kinderwunsch. Auch die Mediennutzung Jugendlicher, ihr Umgang mit Social Media und Themen wie Cybermobbing, Cybergrooming, Sexting, Konfrontation mit Pornografie etc. werden behandelt.
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