Mädchen in der Krise – Wertewandel bei der Familienplanung
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Mädchen sind stärker betroffen als Jungen. Prägnant ist ein Wertewandel beim Thema Familienplanung. Nur noch eine Minderheit erachtet es als wichtig, später einmal Kinder zu haben. Der Bedeutungsverlust ist bei Mädchen nochmals drastischer als bei Jungen. Die aktuell stark einbrechenden Geburtenzahlen, insbesondere bei jungen Frauen zwischen 20 und 30 Jahren, zeigen bereits einen messbaren Wandel im Geburtenverhalten an.
Methodische Vorbemerkungen
Die Leipziger Jugendstudie fand im ersten Halbjahr 2023 in ausgewählten Klassen aus insgesamt 64 Schulen statt. Die Grundgesamtheit stellen ca. 39.000 Schülerinnen und Schüler aus Leipzig. Von ca. 5.000 ausgewählten Personen (Bruttostichprobe) nahmen 3.053 teil, was einer Ausschöpfungsquote von 61 % entspricht. Die Leipziger Jugendstudie befasste sich mit den Themen Lebenszufriedenheit, Selbstbild, schulische Problemlagen, Drogenkonsum, Freizeitverhalten und Sport sowie Lebensziele. Die Daten repräsentieren die Schülerinnen und Schüler der allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen ab Klasse 7 in der Stadt Leipzig (Stadt Leipzig, 2023).
Lebensziele und Werte
In aktuellen Studien wird die Generation Z (zwischen 1995 und 2010 geboren) vor allem mit hohen Ansprüchen in Bezug auf Arbeitsbedingungen in Verbindung gebracht und deren Wunsch nach einer Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance beschrieben (Schnetzer, Hampel & Hurrelmann, 2024; Forsa im Auftrag von XING, 2024). Im Vergleich zu Vorgängergenerationen tritt vor allem ein Wertewandel deutlich hervor: Kinder zu haben oder eine Familie zu gründen ist nicht mehr zentral für ein gutes Leben. Kein anderer Bereich in der Zukunftsplanung junger Menschen in Leipzig erlebt gerade einen derartigen Bedeutungsverlust wie der Kinderwunsch. Im Jahr 2010 (Generation Y) gaben noch 78 % der Schülerinnen und 69 % der Schüler an, dass es ihnen wichtig oder sehr wichtig sei, Kinder zu haben. Im Jahr 2023 sank die Bedeutung auf 40 % bei den Mädchen und 43 % bei den Jungen. Bei den Mädchen hat sich die Bedeutung der Familiengründung folglich nahezu halbiert. Ein derart dramatischer Einbruch ist für kein anderes erhobenes Lebensziel zu messen. Zudem wird ein Wandel der Geschlechterrollen deutlich. Einmal Kinder zu haben ist für Mädchen nicht mehr wichtiger als für Jungen. Gleichzeitig hat sich die Bedeutung beruflichen Erfolgs ebenfalls angepasst: Mädchen sehen aktuell beruflichen Erfolg deutlich häufiger als (sehr) wichtig an als noch in der Generation Y (Befragung 2010). Jungen und Mädchen liegen bei der Karriereorientierung nunmehr gleichauf (vgl. Abbildung 1).
Unzufriedenheit, Belastungen, Unsicherheit, schulische Probleme
Der starke Bedeutungsverlust der Familiengründung erhält einen interessanten Kontext durch einen ähnlich auffälligen Rückgang der allgemeinen Lebenszufriedenheit und gestiegene Belastungsindikatoren und Zukunftssorgen.
Lebenszufriedenheit
Aktuell ist nur noch die Hälfte der befragten Leipziger Schülerinnen mit ihrem Leben zufrieden. Im Vergleich zur Studie 2015 entspricht dies einem Zufriedenheitsrückgang um 14 Prozentpunkte. Auch die Jungen weisen aktuell geringere Zufriedenheitswerte auf als 2015. Dennoch ist der Rückgang bei den Jungen milder ausgeprägt. Seit der Vergleichsstudie im Jahr 2015 erlebten die Leipziger Jugendlichen die Auswirkungen multipler Krisen. Zunächst hatte die Corona-Pandemie mit Schulschließungen und einem temporären Erliegen vieler sozialer Interaktionen eklatante Auswirkungen auf das Alltagsleben der Schülerinnen und Schüler. Zudem haben der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die vor Ort erlebbaren Auswirkungen durch mehr als 10.000 Geflüchtete in Leipzig ihr Leben geprägt. Im Vergleich zu 2015 wurden die Auswirkungen des Klimawandels deutlicher und der öffentliche Diskurs sowie Bewegungen wie »Fridays for Future« oder die »Letzte Generation« rückten diese stärker in den Fokus. Zudem hatte die stark gestiegene Inflation vor Erhebungsstart Auswirkungen auf die finanziellen Möglichkeiten der Familien und der befragten Schülerinnen und Schüler.
Auffällig ist, dass die Lebenszufriedenheit insgesamt deutlich stärker zurückgeht als die in Abbildung 2 erfragten Bereichszufriedenheiten. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie lässt sich festhalten, dass die Zufriedenheit mit den Beziehungen zu Freunden (-8 Prozentpunkte bei den Mädchen und -5 Prozentpunkte bei den Jungen) schlechter als noch 2015 eingeschätzt wird. Bei den Mädchen hat sich zudem die Zufriedenheit mit der Freizeitgestaltung verschlechtert (-8 Prozentpunkte). Die Zufriedenheitsrückgänge betreffen insgesamt vor allem soziale Beziehungen beziehungsweise die Möglichkeiten zu sozialer Interaktion außerhalb von Schule und Familie (siehe Abbildung 2).
Bei den Mädchen ist für alle befragten Altersgruppen (12 bis 21 Jahre) ein deutlicher Zufriedenheitsrückgang (12 und 21 Jahre) festzustellen. Minderjährige Jungen sind dagegen ähnlich zufrieden mit ihrem Leben wie noch 2015. Der Zufriedenheitsrückgang betrifft bei den Jungen nur die volljährige Altersgruppe (siehe Abbildung 3).
Schulische Probleme
Die Betrachtung der Belastungssituation komplettiert den Blick auf die Lebenssituationen der befragten Schülerinnen und Schüler und liefert weitere Erklärungsansätze für den Wertewandel in Bezug auf einen zukünftigen Kinderwunsch und Familiengründungen. Deutlich mehr Schülerinnen geben an, sich im letzten Schuljahr überfordert gefühlt zu haben. Eine große Mehrheit von 79 % kann sich hier einordnen, bei den Jungen ist es jeder zweite (siehe Abbildung 4).
Zwar berichtete auch schon 2015 die Mehrheit der Mädchen von schulischer Überforderung, die aktuellen Werte zeigen jedoch eine weitere Zuspitzung des Phänomens. Diese Erfahrungen sind die neue Normalität und keine Ausnahme mehr. Das Überforderungsgefühl lässt sich jedoch kaum mit gestiegenen Erwartungen der Eltern erklären. Gleiches gilt für den schulischen Erfolg, gemessen an Schulnoten. Wie auch 2015 hat nur etwas weniger als die Hälfte der Befragten Probleme mit schlechten Noten. Folglich müssen weitere Einflüsse bestehen, die im Rahmen der gegenwärtigen Untersuchung nicht aufgeklärt werden konnten. Zumindest erwähnt werden soll in diesem Kontext, dass 85 % der befragten Schülerinnen und Schüler täglich Social Media nutzen. 31 % der Mädchen und 26 % der Jungen sind jeden Tag mehr als vier Stunden mit Social Media beschäftigt. Hinzu kommen weitere digitale Aktivitäten wie Computer-, Konsolen- oder Handspiele (23 % mehr als vier Stunden täglich) oder Fernsehen und Videostreaming (14 % mehr als vier Stunden täglich; siehe auch den Beitrag von Feierabend et al., in diesem FORUM). Alles in allem füllen digitale Aktivitäten einen bedeutenden Zeitanteil im Alltag der Schülerinnen und Schüler aus. Kausale Abhängigkeiten zwischen zeitintensivem Medienkonsum und Überforderungsgefühlen oder Zufriedenheitsdefiziten konnten mit der Leipziger Jugendstudie jedoch nicht gefunden werden, was auch nicht Ziel der Untersuchung war.
Ängste und persönliche Probleme
Zu den schulischen Problemen gesellen sich weitere persönliche Problemlagen. Auffällig sind die Zukunftssorgen der Schülerinnen und Schüler. Jeder vierte Junge und sogar jedes zweite Mädchen gibt an, regelmäßig Belastungssituationen aus Unsicherheit vor der Zukunft zu erleben (siehe Abbildung 5).
Bei den 18-Jährigen erreicht dieser Belastungsindikator seinen Höchstwert. Ebenso ist eine Selbstzuschreibung psychischer Symptomatik weit verbreitet. Fast jedes zweite Mädchen gibt an, regelmäßig durch psychische Probleme (Depressionen, Angststörungen, Burn-out) belastet zu sein. Auch hierbei gilt der bereits getroffene Befund: Die Häufigkeit dieser Selbsteinschätzungen zeigt, dass psychische Probleme weite Teile der jungen Bevölkerung betreffen und sich epidemisch entwickeln.
Jeder fünfte Junge und jedes dritte Mädchen führt zudem an, regelmäßig Sorgen wegen Klimawandelfolgen zu haben. Jedes zehnte Mädchen fühlt sich aufgrund einer Scheidung bzw. Trennung der Eltern belastet. Mädchen berichten insgesamt deutlich häufiger von belastenden persönlichen Problemen als Jungen.
Nur eine kleine Minderheit von 7 % gibt an, unter keinerlei persönlichen Belastungen zu leiden (Mädchen 4 %, Jungen 10 %). Die Selbstwahrnehmung ihrer eigenen Jugend ist folglich für die überwiegende Mehrheit alles andere als unbeschwert.
Angesichts dieser Befunde sind Auswirkungen auf den eigenen Kinderwunsch nicht verwunderlich. Weit verbreitete Zukunftssorgen, Überforderungsgefühle und die Folgen des Klimawandels können Erklärungen für den stark eingebrochenen Kinderwunsch bei den (weiblichen) Jugendlichen sein.
Aktueller Geburteneinbruch – Folge der Belastungssituation?
Der eingangs darstellte Wertewandel in Bezug auf Familiengründungen steht nicht als singulärer Befund da. In den aktuellen Geburtenzahlen spiegelt sich die Tendenz zu weniger Kindern als reale Beobachtung wider.
Deutschlandweit bricht die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) seit zwei Jahren ein. In Leipzig ändert sich das Geburtenverhalten bereits seit 2016. Von 1,47 Kindern je Frau (2016) ausgehend, liegt die zusammengefasste Geburtenziffer in Leipzig aktuell (2023) nur noch bei 0,99 Kindern je Frau. Ähnliche Entwicklungen sind in anderen Großstädten gleichermaßen zu beobachten.1
Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung erklärt die sinkenden Geburtenraten ebenfalls vor dem Hintergrund aktueller Krisen. Der Bevölkerungsforscher Martin Bujard resümiert: »Der Krieg in der Ukraine, die gestiegene Inflation oder auch der fortschreitende Klimawandel haben die Menschen zusätzlich zur Pandemie verunsichert. In einer solchen Zeit multipler Krisen setzen viele ihren Kinderwunsch nicht um« (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2024). Ein Bezug zu den aktuellen Krisen wird folglich auch von den Bevölkerungswissenschaftlern gezogen, ähnlich wie es die Leipziger Jugendstudie in Bezug auf Belastungssituationen und Lebensziele bewertet.
Es sind faktisch vor allem die jungen Frauen zwischen 20 und 35 Jahren, die sich aktuell seltener für ein Kind entscheiden. Der Anteil der Erstgebärenden geht in Leipzig bereits seit 2013 kontinuierlich zurück.2 In Abbildung 6 sind die Geburtenziffern nur für erste Geburten dargestellt. Daran sieht man eindrücklich, dass die »fehlenden« Kinder vor allem auf ein geändertes Geburtenverhalten der jungen Frauen zwischen 20 und 30 Jahren zurückzuführen sind (siehe Abbildung 6). Es sind die Frauen im jungen Erwachsenenalter, die den Einbruch der zusammengefassten Geburtenziffer verursachen. Gemeinsam mit den Ergebnissen der Leipziger Jugendstudie, die Schülerinnen und Schüler ab 12 Jahren einschließt, finden wir also verschiedene Hinweise auf einen Trend zu weniger Kindern und mehr kinderlosen Frauen in den Generationen Y und Z.
Offen ist, ob sich diese Entwicklungen in den kommenden Jahren weiter fortsetzen werden. Denkbar wäre, dass die aktuellen Krisen den Kinderwunsch nur temporär beeinflussen und sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit den genannten Krisen und Stressoren arrangieren. Die Familiengründung würde in diesem positiven Szenario im späteren Alter nachgeholt werden. In jedem Fall bleibt zu konstatieren, dass bereits der aktuelle Geburteneinbruch langfristige demografische Spuren hinterlässt, da diese Kohorten sehr gering besetzt sind.
Fußnoten
1 In Jena lag die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) 2023 noch bei 0,98 Kindern je Frau, in Leipzig bei 0,99 und in Düsseldorf bei 1,04. In einer kleinen Studie wurde die TFR in 26
deutschen Großstädten untersucht. In allen Städten ging die TFR zurück. Im Mittel um 7,8 % (0,1 Kinder) im Vergleich zu 2022 bzw. um 18 % (0,3 Kinder) im Vergleich zu 2016 (Schultz, 2024)
2 Vor 2013 liegen keine belastbaren Zahlen vor.
Zitation
Schultz, A. (2024). Mädchen in der Krise –Wertewandel bei der Familienplanung. FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 14–21.
Veröffentlichungsdatum
Dr. Andrea Schultz, Abteilungsleiterin Stadtforschung, Stadt Leipzig, Stellv. Vorsitzende des Verbands Deutscher Städtestatistik (VDSt), Stadtforschung, Städtestatistik, Analysen zur Stadtentwicklung
Kontakt: andrea.schultz(at)leipzig.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
- Wer sind »die 14- bis 17-jährigen Jugendlichen«?
- Krieg, Pandemie und Zukunft: Was Jugendliche bewegt
- Mädchen in der Krise – Wertewandel bei der Familienplanung
- Diskriminierung von Jugendlichen an Schulen. Ergebnisse aus »ICCS 2022«
- Lebenslagen, Wohlbefinden und Perspektiven Jugendlicher in Deutschland und Frankreich
- Was beschäftigt Jugendliche?
- Nackt im Netz – Porno, Sexting, Missbrauch
- Jugend online
- Kinder- und Jugendarmut in Deutschland
- Prävention psychischer Belastungen und Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
- Macht Diskriminierung krank? Die psychische Gesundheit von LSBTQI*-Menschen
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