Kinder- und Jugendarmut in Deutschland
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Wie viele Kinder und Jugendliche leben in Deutschland in Armut?
In Deutschland ist seit Jahren jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Im Jahr 2023 galten 20,7 % und somit knapp drei Millionen Kinder unter 18 Jahren als armutsgefährdet, d. h., sie lebten in einem Haushalt, dessen Einkommen weniger als 60 % des mittleren Einkommens aller vergleichbaren Haushalte betrug. Der Anteil armutsbetroffener Kinder und Jugendlicher ist in den Bundesländern unterschiedlich hoch (Bremen: 41,4 %, Bayern 13,4 %) (Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2024).
Besonders häufig von Armut betroffen sind junge Menschen, die in alleinerziehenden Familien oder Familien mit drei und mehr Kindern aufwachsen. Während die Armutsgefährdungsquote für Paarfamilien mit einem Kind im Jahr 2023 bei 8,1 % und mit zwei Kindern bei 10,4 % lag, erreicht sie bei Paarfamilien mit drei und mehr Kindern 30,1 % und bei Alleinerziehenden 41 % (ebd.).
Viele von Armut betroffene Kinder und Jugendliche bzw. ihre Familien beziehen SGB-II-Leistungen. Aber längst nicht alle beantragen diese Leistungen, da sie eventuell gar nicht wissen, dass sie einen Anspruch auf Unterstützung haben, den bürokratischen Aufwand scheuen oder sich schämen. Im Dezember 2023 lebten 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Familien im SGB-II-Leistungsbezug, das entspricht 13,4 % (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2024).
Was bedeutet es, als Kind in Deutschland arm zu sein?
In einem reichen Land wie Deutschland bedeutet Armut nicht unbedingt, Hunger zu leiden oder kein Dach über dem Kopf zu haben. Armut wird vielmehr relativ, also im Vergleich zum Lebensstandard der Bevölkerung insgesamt, beschrieben: Arm ist demnach, wer über so wenig Einkommen verfügt, dass er oder sie nicht an dem teilhaben kann, was in unserer Gesellschaft als selbstverständlich bzw. normal gilt. Armut begrenzt die Möglichkeiten junger Menschen, beschämt sie und bestimmt vielfach ihr Leben. Dabei können sie nichts dafür, wenn sie in armen Verhältnissen aufwachsen, und können sich auch nicht selbst aus Armut befreien (Funcke & Menne, 2023a).
Armut begrenzt die Möglichkeiten von Kindern im Hier und Heute
Wachsen Kinder in Armut auf, so haben sie zu Hause seltener ein eigenes Zimmer oder einen ruhigen Ort, an den sie sich zurückziehen können, sodass sie z. B. nicht in Ruhe Hausaufgaben machen können. Häufiger als andere sind sie in ihrer digitalen Teilhabe eingeschränkt, denn sie haben seltener Zugang zu einem Computer und Internet. Sie sind weniger mobil, weil die Familie häufiger kein Auto besitzt, das Geld für Bus und Bahn fehlt oder sie in einer eher unsicheren Wohnumgebung leben, in der sie sich nicht ganz frei bewegen können (Lietzmann & Wenzig, 2020; Andresen & Möller, 2019).
Arme Kinder und Jugendliche erhalten selten Taschengeld, sodass Sparen, z. B. auf den Führerschein oder den Auszug von zu Hause, kaum möglich ist. Sie können nicht dabei sein, wenn Freund*innen1 etwas unternehmen, das Geld kostet (Kino, Eis essen oder etwas trinken gehen) (Andresen & Möller, 2019). Auch können sie Hobbies oft nicht ausüben, weil das Geld für den Vereinsbeitrag oder die Ausrüstung (Instrument, Sportgeräte und -kleidung) fehlt (Tophoven et al., 2017).
Arme Familien machen auch nur selten eine Woche Urlaub zusammen (Lietzmann & Wenzig, 2020). Dadurch fehlen ihnen gemeinsame Zeit, Erholung und Erlebnisse. Auch bei Klassenfahrten o. Ä. sind armutsbetroffene Schüler*innen häufig nicht dabei. Zwar gibt es dafür Unterstützungsleistungen, doch die sind oft unbekannt und zu bürokratisch. Zudem sind für diese Fahrten auch noch Taschengeld oder besondere Ausstattung nötig, die für ihre Eltern finanziell nicht zu stemmen sind (Funcke & Menne, 2023a). Insgesamt geben gut gestellte Familien für Bildungsangebote für ihre Kinder dreimal mehr aus als die einkommensschwächsten Familien (iwd, 2022).
Für Medikamente, Arztkosten und Therapien für ihre Kinder geben einkommensstarke Familien rund zehnmal mehr aus als das einkommensschwächste Zehntel der Familien (ebd.). Auch eine gesunde Ernährung ist in armen Familien angesichts steigender Lebensmittelpreise vielfach kaum gewährleistet. Insgesamt hat Armut so nachweislich negative Auswirkungen auf die Gesundheit junger Menschen (Lampert & Kuntz, 2019).
Armut beschämt junge Menschen
Arme Kinder und Jugendliche laden seltener Freund*innen nach Hause ein, weil kein Platz ist oder sie sich für ihre Wohnverhältnisse schämen (Lietzmann & Wenzig, 2020). Sie schlagen Einladungen zum Geburtstag aus, weil sie kein Geschenk haben, und können selbst keinen Geburtstag feiern. Bei Lehrer*innen oder Trainer*innen müssen sie stigmatisierende Anträge für Klassenfahrten, Freizeitangebote o. Ä. stellen und dabei unangenehme Fragen über ihre Familienverhältnisse beantworten. Um diesen Beschämungen zu entgehen, melden sie sich teilweise krank und erfinden Freund*innen gegenüber Ausreden, wenn sie bei Aktivitäten nicht dabei sein können, die sie sich nicht leisten können (Andresen & Galic, 2015). Dadurch fühlen sie sich häufiger ausgeschlossen. Sie erleben aber auch mehr Ausgrenzung und sogar Gewalt (Andresen et al., 2019). Zu oft geben sie sich dabei selbst die Schuld an ihrer Situation und haben das Gefühl, etwas falsch zu machen.
Armut bestimmt das Leben und die Zukunft der betroffenen jungen Menschen
Wer in Armut aufwächst, weiß früh um die eigenen eingeschränkten Möglichkeiten und fühlt sich schon in jungen Jahren der Gesellschaft weniger zugehörig (Tophoven et al., 2018). Betroffene junge Menschen erleben Benachteiligungen im Bildungssystem: Bei gleichen Noten erhalten sie seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium, erreichen geringere Kompetenzniveaus und müssen häufiger eine Klasse wiederholen. Insgesamt weisen sie instabilere Bildungs- und Berufswege auf (OECD, 2023; Autor*innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022; Eckelt, 2022).
Zudem wachsen armutsgefährdete junge Menschen in einem deutlich anregungsärmeren Umfeld auf. Ihnen fehlen Erfahrungsräume, die andere durch die Familie, Freunde, Hobbies oder auf Reisen gesammelt haben (El-Mafaalani, 2021). Sie haben oft zeitliche Einschränkungen und Stress, weil sie sich neben der Schule, Ausbildung und dem Studium etwas hinzuverdienen müssen. Dadurch bleibt weniger Zeit, um für die Schule oder ihr Fach zu lernen oder auch für unbezahlte Praktika. Sie nehmen einen weiter entfernten Studien- oder Ausbildungsplatz eventuell nicht an, obwohl dieser ihren Interessen entspräche, weil ein Umzug nicht finanzierbar ist. Das alles verringert ihre Chancen am Arbeitsmarkt und die Aussicht auf eine auskömmliche Beschäftigung (Funcke & Menne, 2023a).
Die Forschungsbefunde zeigen die Folgen von Armut für jeden betroffenen jungen Menschen – heute sowie für ihre/seine Zukunft. Armut wirkt sich aber auch auf die gesamte Gesellschaft aus: Lassen wir weiterhin so viele Kinder und Jugendliche, die von Armut betroffen sind, zurück und eröffnen ihnen nicht die ihnen zustehenden Chancen auf Teilhabe und Bildung, fehlen später Fachkräfte am Arbeitsmarkt sowie Steuereinnahmen und es entstehen Kosten in den Sozialsystemen. Auch gefährden wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität der Demokratie (Funcke & Menne, 2023b).
Notwendige Reformen gegen Kinder- und Jugendarmut
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf gutes Aufwachsen und faire Bildungs- und Teilhabechancen. Das muss endlich eingelöst werden, indem die Politik wirksame Maßnahmen gegen Kinder- und Jugendarmut ergreift. Denn die derzeitigen Leistungen für Familien und ihre Kinder in Deutschland haben – auch aufgrund ihrer Komplexität – Kinderarmut nicht vermeiden können.
Eine wirksame Kindergrundsicherung muss an den Bedarfen von Kindern und Jugendlichen orientiert sein
Der aktuell debattierte Gesetzentwurf (Stand Mai 2024) löst das eigentliche Ziel einer Kindergrundsicherung – Kinderarmut zu vermeiden und Kindern umfassende Teilhabe zu eröffnen – nicht ein. Er ist höchstens ein erster Schritt hin zu dem dringend benötigten Systemwechsel in der Familienpolitik, indem er Leistungen (Kindergeld, Kinderzuschlag, SGB-II-Leistungen für Kinder) bündelt, eine vereinfachte digitale Beantragung und einige Verbesserungen für Alleinerziehende umsetzt. Damit wird die Kindergrundsicherung mehr Kinder und Jugendliche erreichen, die einen Anspruch auf staatliche Leistungen haben, diesen aber aufgrund von bürokratischen Hürden oder Informationsdefiziten bislang nicht wahrnehmen. Nachgebessert werden müsste aber in folgenden Punkten (Expert*innenbeirat & Projekt, 2024):
- Die Höhe der Kindergrundsicherung bringt kaum finanzielle Vorteile im Vergleich zum Status Quo. Sie basiert weiterhin auf einer Regelbedarfsermittlung, die die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen nicht im Blick hat. Genau diese müssten aber unter der Beteiligung von jungen Menschen erfasst und von der Kindergrundsicherung gedeckt werden. Dabei gilt es, Kindern und Jugendlichen das zu gewährleisten, was zu einer »normalen« Kindheit und Jugend in Deutschland dazugehört. Nur so eröffnen wir ihnen Chancen und Spielräume auf gutes Aufwachsen und echte Teilhabe.
- Alle Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland aufwachsen, sollten die Kindergrundsicherung erhalten. Nach Deutschland geflüchteten jungen Menschen bis zu drei Jahre lang nur geringere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren, beraubt diese ihrer Möglichkeiten, sich gut in unsere Gesellschaft zu integrieren.
- Aufgrund von Sonderregelungen für einige Alleinerziehende und ihre Kinder (Unterhaltsanrechnung, Unterhaltsvorschuss in Abhängigkeit vom Erwerbsumfang des alleinerziehenden Elternteils) kann es zu Verschlechterungen für diese Familien kommen. Das gilt es aufgrund der hohen Armutsbetroffenheit Alleinerziehender unbedingt zu vermeiden.
- Die Kindergrundsicherung muss einfach und niedrigschwellig – möglichst digital – beantragt werden können, damit sie alle Kinder und Jugendlichen erreicht. Dazu sollte es einheitliche und vertrauensvolle Anlaufstellen geben, die Hilfen aus einer Hand anbieten.
Kein Entweder-oder zwischen Geld und Infrastruktur
Neben der Neugestaltung finanzieller Leistungen brauchen Kinder, Jugendliche und ihre Familien qualitativ hochwertige Bildungs- und Betreuungsinstitutionen sowie eine erreichbare Unterstützungsinfrastruktur mit vertrauensvollen Ansprechpartner*innen. Auch sind Kinder- und Jugendarbeit sowie Beteiligungsstrukturen für junge Menschen fest zu verankern und langfristig finanziell abzusichern.
Fußnote
1 Auf Wunsch der Autorinnen wird in diesem Beitrag der Gender-Stern verwendet.
Zitation
Funcke, A., & Menne, S. (2024). Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 60–64.
Veröffentlichungsdatum
Antje Funcke studierte Volkswirtschaftslehre in Marburg. Sie ist Senior Expert in der Bertelsmann Stiftung. Ihre Schwerpunkte sind Familien-, Sozial- und Bildungspolitik sowie die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen.
Kontakt: antje.funcke(at)bertelsmann-stiftung.de
Sarah Menne studierte Internationale Volkswirtschaftslehre in Erlangen-Nürnberg. Als Senior Project Managerin beschäftigt sie sich in der Bertelsmann Stiftung vorrangig mit familien-, bildungs- und sozialpolitischen Fragestellungen.
Kontakt: sarah.menne(at)bertelsmann-stiftung.de
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Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
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- Krieg, Pandemie und Zukunft: Was Jugendliche bewegt
- Mädchen in der Krise – Wertewandel bei der Familienplanung
- Diskriminierung von Jugendlichen an Schulen. Ergebnisse aus »ICCS 2022«
- Lebenslagen, Wohlbefinden und Perspektiven Jugendlicher in Deutschland und Frankreich
- Was beschäftigt Jugendliche?
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- Kinder- und Jugendarmut in Deutschland
- Prävention psychischer Belastungen und Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
- Macht Diskriminierung krank? Die psychische Gesundheit von LSBTQI*-Menschen
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- Eine repräsentative Wiederholungsbefragung zum Sexual- und Verhütungsverhalten junger Menschen in Deutschland
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