Jugendliche gegen sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen stark machen
Erprobung und Evaluierung des »CHAT«-Präventionsworkshops
Sexualisierte Gewalt in Peer-Kontexten
Die Betroffenheit von sexualisierten Übergriffen und Gewalt nimmt in der Adoleszenz zu. Dies betrifft insbesondere Mädchen (Finkelhor et al., 2009, S. 721; Erkens et al., 2021, S. 1 385). In einer Studie der BZgA (N = 6.032) gab die Hälfte der betroffenen Mädchen und jungen Frauen an, bei der ersten erlebten körperlichen sexualisierten Gewalt zwischen 14 und 17 Jahre alt gewesen zu sein. Ein knappes Drittel der Betroffenen war 18 bis 25 Jahre alt (Erkens et al., 2021, S. 1 385). Ausübende der sexualisierten Gewalt sind dabei überwiegend Peers, also in etwa Gleichaltrige, im lebensweltlichen Kontext der Betroffenen (Helming et al., 2011; Hofherr, 2017; Maschke & Stecher, 2018). In einer durch das Deutsche Jugendinstitut (DJI) durchgeführten Befragung (N = 4.334) nannten 83 % der betroffenen Mädchen und 88 % der betroffenen Jungen Peers (z. B. Mitschüler*innen1) als Ausübende ihres schlimmsten Erlebnisses sexualisierter Gewalt mit Körperkontakt (Hofherr, 2017).
Im Projekt »CHAT«2 wurde nun aus einer dritten Perspektive der Fokus auf das Problem sexualisierter Peer-Gewalt gelegt; denn neben Betroffenen und Ausübenden spielen auch sogenannte Bystander*innen eine bedeutende Rolle bei sexualisierter Gewalt. Im Peer-Kontext finden sexualisierte Übergriffe und Gewalt nämlich häufig auch im Beisein anderer Jugendlicher statt. Die Reaktionen der Bystander*innen können dann (vom Einbezug Dritter über die Konfrontation der Tatperson bis hin zu keiner Intervention) sehr unterschiedlich sein (Hofherr & Kindler, 2018) und können Gewalt verhindern, beenden, aber auch verstärken und ermöglichen. Doch nicht nur die unmittelbare Präsenz in der Übergriff-Situation macht Jugendliche zu Bystander*innen. Es zeigt sich auch, dass Peers nach erlebter sexualisierter Gewalt, insbesondere, wenn diese durch Jugendliche ausgeübt wurde, besonders häufig ins Vertrauen gezogen werden und ihnen von der Gewalt berichtet wird (Priebe & Svedin, 2008).
Festhalten lässt sich damit, dass »von Gleichaltrigen also eine potenzielle Gefährdung aus[geht], gleichzeitig sind sie jedoch bedeutsam als Dritte (»Bystander*innen«), um bei (drohenden) sexuellen Übergriffen zugunsten der Betroffenen einzugreifen oder das soziale Umfeld helfend einzubinden« (Pooch et al., 2021, S. 36).
Projektziele
Vor diesem Hintergrund setzt sich »CHAT« dafür ein, die Prävention von sexualisierten Übergriffen zwischen Jugendlichen (z. B. auf Partys, in Wohngruppen, in der Schule, digital) mit einem Fokus auf die Bystander*innen-Perspektive zu verbessern. Ziel ist, dass Jugendliche befähigt werden, Situationen angemessen zu deuten und zu bewerten (Checken und Abklären), um sich selbst auf dieser Basis besser schützen und/oder andere unterstützen zu können und ggf. zu intervenieren (Entscheiden, Tun). Auf Basis einer qualitativen Analyse von Interviews mit Fachpraktiker*innen sowie mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen (16 bis 24 Jahre) sowie Gruppendiskussionen und einer Re-Analyse3 sind wir der Frage nach möglichen Hürden und Dilemmata eines effektiven Eingreifens als Bystander*innen nachgegangen. Unter effektivem Bystander*innen-Verhalten verstehen wir ein Eingreifen der Jugendlichen vor, während oder nach dem Übergriff, das auf eine Verhinderung oder Unterbrechung des Übergriffs oder auf die Unterstützung bei der Verarbeitung abzielt. Diese empirische Fundierung war Ausgangspunkt für die Entwicklung von Präventionsworkshops für Jugendliche, eines Fortbildungscurriculums, Materialien für Fachkräfte (in Form zweier Manuale) sowie Modulen für die curriculare Lehre an Fach- und Hochschulen. Die Konzepte und Materialien wurden gemeinsam mit pädagogischen Fachkräften entwickelt und erprobt und durch das DJI evaluiert. Im Folgenden möchten wir die Erprobung und Evaluation der Präventionsworkshops für Jugendliche vorstellen
»Chat«-Präventionsworkshops für Jugendliche
Die entwickelten Präventionsworkshops bestehen aus vier 90-minütigen Einheiten. Die inhaltlichen Kernelemente sind:
- Gründe/Hürden/Dilemmata ineffektiven Eingreifens als Bystander*in,
- Konzepte sexueller Integrität und Schutzerwartungen (Vorgängerstudien),
- Machtdynamiken,
- wiederkehrendes Ablaufschema bei sexualisierter Peer-Gewalt,
- Rollen und Positionen Dritter.
Bei der Entwicklung des Workshopkonzepts haben wir uns an dem sogenannten »Bedrängten- und Bystander*innen-Handlungsmodell« orientiert. Konkret geht es darum, dass jugendliche Bystander*innen
- Situationen in Peer-Settings genau wahrnehmen, Entwicklungen erkennen und Ressourcen einschätzen lernen (Checken);
- Handlungen als sexualisierte Übergriffe deuten können, aber auch eigene Grenzen kennen und den Anspruch auf Integrität und Schutz verstehen (Abklären);
- das Spektrum der Handlungsoptionen kennen, sich mit Hürden, Dilemmata eines Eingreifens auseinandersetzen und einen Entschluss fassen, also die eigene Handlungsmacht vergrößern (Entscheiden) und dann
- zum Handeln gelangen, also z. B. weitere (erwachsene) Bystander*innen zu Hilfe holen, um damit die eigene Handlungs- und Organisationsmacht und die der betroffenen Person zu erweitern (Tun).
Herzstück der Präventionsworkshops sind dabei die Rollenspiele um die entwickelten lebenswelt- und verhaltensbezogenen Fallvignetten, die aus dem Interviewmaterial der Jugendlichen erstellt wurden. Die Fallvignetten umfassen u. a. Situationen auf Jugendfreizeiten und Festivals, in der Schule, auf Partys und im digitalen Raum. Es werden männliche und weibliche Bedrängende und Betroffene und verschiedene Bystander*innen-Positionen (wie direkt anwesend oder im Nachhinein ins Vertrauen gezogen) integriert. Die Rollenspiele bieten die Möglichkeit erfahrungsbezogenen Lernens, das auch Irritationen und kognitive Dissonanzen ermöglicht oder initiiert. So konnten die Teilnehmenden diverse Optionen des Bystander*innen-Verhaltens erproben
Evaluation der Präventionsworkshops durch die Jugendlichen
Der Workshop wurde von 122 Jugendlichen mittels eines standardisierten Fragebogens vor und nach dem Workshop evaluiert. Die Workshops fanden in verschiedenen Bereichen statt: vier in der Jugend(verbands-)arbeit (n = 42), vier in der (stationären) Jugendhilfe (n = 27), zwei in Schulen (n = 48) und einer in der Behindertenhilfe (n = 5). Aufgrund der geringeren Fallzahl und angepasster Fragebögen in einfacher Sprache wurden die Ergebnisse der Behindertenhilfe teilweise nur deskriptiv und separat ausgewertet. Diese Ergebnisse sind nur dann in den Gesamtanalysen enthalten, wenn explizit angegeben. Die teilnehmenden Jugendlichen waren etwa zu gleichen Teilen männlich und weiblich, 2,46 % beschrieben sich als divers (Behindertenhilfe mit einbezogen). Die Mehrheit identifizierte sich als heterosexuell, während 20,5 % eine nicht-heterosexuelle Orientierung nannten. Das Durchschnittsalter lag bei rund 17 Jahren, wobei die meisten Teilnehmenden 15 oder 20 Jahre alt waren (Behindertenhilfe mit einbezogen).
Wie bewerten Jugendliche den Workshop und ihren Wissenszuwachs?
Die Jugendlichen bewerteten den Workshop durch ihre Zustimmung zu positiv formulierten Items. Hinsichtlich des Inhalts, der Didaktik und des Ablaufs stimmten sie auf einer Skala von eins (gar nicht) bis vier (ganz genau) den verschiedenen Items im Durchschnitt mit »ziemlich« oder »ganz genau« zu (M = 3,27; SD = .61; Behindertenhilfe mit einbezogen). Dies zeigt, dass der Rahmen, der Inhalt und die Didaktik des Workshops bei den Jugendlichen sehr gut ankommen. Ihren Wissenszuwachs, der sich auf ein besseres Verständnis von Selbstschutz, Fremdschutz und die Einschätzung sexueller Übergriffe sowie auf eine verbesserte Kommunikationsfähigkeit über sexuelle Übergriffe bezieht, bewerteten die Jugendlichen auf derselben Skala im Durchschnitt mit »ziemlich« ebenfalls positiv (M = 2,95; SD = .73; Behindertenhilfe mit einbezogen). Besonders hervorzuheben ist der Wissenszuwachs beim Hauptthema des Workshops, dem Bystander*innen-Verhalten. Mit einem Durchschnitt von M = 3,06 (SD = .84) bewerteten die Jugendlichen am höchsten, dass sie nun wissen, was zu tun ist, wenn andere von sexuellen Übergriffen bedroht sind. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass der Workshop insbesondere das Thema Bystander*innen-Verhalten erfolgreich vermittelt und der intendierte Fokus auf diesem Hauptthema sich im Wissenszuwachs der Jugendlichen klar widerspiegelt. Auch das Herzstück des Workshops, die Rollenspiele, wurden überaus positiv bewertet und erzielten ein Evaluationsergebnis, das zu »sehr gut« auf der dreistufigen Bewertungsskala (gar nicht gut, ok, sehr gut) tendiert (M = 2,58; SD = .56). Die offenen Antworten der Jugendlichen unterstreichen die Beliebtheit des Rollenspiels: 37,61 % nannten es dort als beste Methode. Diese Ergebnisse zeigen deutlich, dass das Rollenspiel als zentrale Methode des Workshops von der Zielgruppe sehr geschätzt wird.
Die »CHAT«-Präventionsworkshops für Jugendliche, insbesondere die lebenswelt- und verhaltensbezogenen Fallvignetten und Rollenspiele, die auf empirischen Grundlagen basieren, erreichen ihre Ziele und Zielgruppe effektiv. »CHAT« trägt somit zur Erweiterung der Präventionspraxis sexualisierter Gewalt um Bystander*innen-bezogene Interventionen bei und schärft den Blick für sexualisierte Peer-Gewalt.
Fußnoten
1 Auf Wunsch der Autorinnen wird in diesem Beitrag der Gender-Stern verwendet.
2 »CHAT« ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Verbundprojekt, das gemeinsam mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI), dem Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen (SoFFI F), der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e. V. (DGfPI) im Rahmen der 3. Förderlinie zur Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten durchgeführt wird.
3 Auswertung von Interviews mit Mädchen aus der stationären Jugendhilfe aus der Vorgängerstudie PRÄVIK – Prävention zur Verhinderung von Reviktimisierung (n = 42)
Literatur
Erkens, C., Scharmanski, S., & Heßling, A. (2021). Sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher: Ergebnisse einer repräsentativen Befragung. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 64(11), 1382–1390. URL: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00103-021-03430-w.pdf (24.04.2024)
Finkelhor, D., Ormrod, R. K., & Turner, H. A. (2009). The developmental epidemiology of childhood victimization. Journal of interpersonal violence, 24(5), 711–731.
Helming, E., Kindler, H., Langmeyer, A., Mayer, M., Entleitner, C., Mosser, P., & Wolff M. (2011). Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Abschlussbericht des DJI-Projektes. München. www.dji.de/fileadmin/user_upload/sgmj/Rohdatenberichttext_Endversion_Juni_2011.pdf (26.04.2024)
Hofherr, S., & Kindler, H. (2018). Wie Jugendliche auf miterlebte Situationen sexueller Gewalt reagieren. Bystander*innen-Verhalten als möglicher Ansatzpunkt für Prävention? ZSE Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 38(2), 171–190.
Maschke, S., & Stecher, L. (2018). Sexuelle Gewalt. Erfahrungen Jugendlicher heute. Weinheim.
Pooch, M.-T., Meyer, R, & Derr, R. (2021). Wie Jugendliche versuchen, sich und andere vor sexuellen Übergriffen zu schützen, DJI Impulse, 21(1), 36-40. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull125_d/DJI_1_21_Web.pdf (26.04.2024)
Priebe, G., & Svedin, C. G. (2008). Child sexual abuse is largely hidden from the adult society. An epidemiological study of adolescents’ disclosures. Child abuse & neglect, 32(19), 1095–1108.
Alle Links und Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Zitation
Gulowski, R., & Holz, M. (2024). Jugendliche gegen sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen stark machen. FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 99–102.
Veröffentlichungsdatum
Dr.in Rebecca Gulowski, wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut. Arbeitsschwerpunkte: die Soziologie von Konflikten und Gewalt, sexualisierte Gewalt, Gewalt in der Partnerschaft, (weibliche) Täterschaft, Opferschaft und Bystander sowie qualitative Methoden der Sozialforschung.
Kontakt: gulowski(at)dji.de
Magdalena Holz, M.Sc. Psychologie, wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut im Projekt »CHAT« mit Arbeitsschwerpunkt auf der quantitativen empirischen Sozialforschung, insbesondere deskriptive und inferenzstatistische Datenanalyse.
Kontakt: mholz(at)dji.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Wer sind »die 14- bis 17-jährigen Jugendlichen«?
- Krieg, Pandemie und Zukunft: Was Jugendliche bewegt
- Mädchen in der Krise – Wertewandel bei der Familienplanung
- Diskriminierung von Jugendlichen an Schulen. Ergebnisse aus »ICCS 2022«
- Lebenslagen, Wohlbefinden und Perspektiven Jugendlicher in Deutschland und Frankreich
- Was beschäftigt Jugendliche?
- Nackt im Netz – Porno, Sexting, Missbrauch
- Jugend online
- Kinder- und Jugendarmut in Deutschland
- Prävention psychischer Belastungen und Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
- Macht Diskriminierung krank? Die psychische Gesundheit von LSBTQI*-Menschen
- LIEBESLEBEN-Beratung zum Schutz vor Konversionsbehandlungen
- Fortbildungsnetz sG: Qualität sichtbar machen
- Jung ist alt: Shell Jugendstudie wird 71
- Eine repräsentative Wiederholungsbefragung zum Sexual- und Verhütungsverhalten junger Menschen in Deutschland
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- Selbstorganisiertes Lernen für Fachkräfte mit Waschtasche, Handgepäck und großem Reisekoffer