Diskriminierung von Jugendlichen an Schulen. Ergebnisse aus »ICCS 2022«
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Gerade nichtbinäre Schüler*innen berichteten von Diskriminierung, weniger Fairness der Lehrkräfte und Angst vor Mobbing. Mädchen hatten mehr Angst vor Mobbing. Jungen, gerade solche mit Migrationsgeschichte, berichteten von weniger Lehrkraft-Fairness. Interessanterweise lag das politische Wissen von nichtbinären Schüler*innen trotz Diskriminierungserfahrungen nicht unter dem Landesmittelwert.
»ICCS 2022«: Studie zur politischen Bildung und Demokratieerziehung
International vergleichende Schulleistungsstudien können uns helfen, Herausforderungen des Bildungssystems zu identifizieren (Johansson, 2016). Die »International Civic and Citizenship Education Study (ICCS) 2022« untersucht, wie Schüler*innen1 in Demokratien auf ihre Rollen als Bürger*innen vorbereitet werden (Schulz et al., 2023). Dieser Beitrag legt den Fokus auf das Erleben von Diskriminierung und Sozialbeziehungen als Aspekt der politischen Sozialisation von Schüler*innen. »ICCS« bietet einen Einblick in die Sozialisation heranwachsender Bürger* innen in einer Zeit, in der Demokratien und die politische Bildung herausgefordert sind durch populistische Strategien, ökologische Krisen und kriegerische Auseinandersetzungen (Abs, 2021). Diese Herausforderungen interagieren mit den Identitäten der Menschen; insbesondere Populismus geht einher mit Polarisierung und einer stärkeren Unterscheidung zwischen Innen- und Außengruppen, die mit Diskriminierung einhergehen kann (Kinnvall & Svensson, 2022).
Populismus bezieht sich besonders auf Fragen der Zugehörigkeit und kann sich daher besonders auf die Erfahrung von Minderheiten auswirken. Beispielsweise erlebten amerikanisch-mexikanische Schüler*innen in den Vereinigten Staaten von Amerika nach der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten verstärkt Diskriminierung in der Schule (Huang & Cornell, 2019). Diskriminierung in der Schule hat negative Folgen für den akademischen Erfolg und die psychische Gesundheit von Schüler*innen (Civitillo et al., 2023; Schmitt et al., 2014). James Banks (2015) betont, dass Diskriminierungserfahrungen einen normierenden Assimilationsdruck auf Schüler*innen aus marginalisierten Gruppen ausüben. Politische Bildung kann Schüler*innen im besten Fall dazu befähigen, diskriminierende Strukturen zu erkennen und sich für Veränderungen einzusetzen. Für Lehrkräfte, Politikgestaltende und Forschende ist es jedoch zunächst wichtig, eine Bestandsaufnahme des Erlebens verschiedener Schüler* innengruppen vorzunehmen.
Studienaufbau von »ICCS«
Die Methodik von »ICCS« wird hier nur kurz vorgestellt; vertiefende Informationen finden sich im »ICCS«- Berichtsband (Deimel & Welsandt, 2024; Ziemes & Matafora, 2024). Für »ICCS 2022« wurden Schüler*innen, Lehrkräfte und Schulleitungen in 24 Bildungssystemen befragt. 20 dieser Bildungssysteme befanden sich in Europa. Zwei deutsche Bundesländer haben teilgenommen: Nordrhein-Westfalen (NRW) und Schleswig-Holstein (SH). Schulen wurden durch eine stratifizierte Zufallsauswahl in die intendierte Stichprobe mit aufgenommen. In jeder Schule wurde eine zufällige achte Klasse zur Befragung ausgewählt. In dieser Klasse waren alle Schüler*innen zur Teilnahme aufgerufen. Die Stichprobe ist dazu geeignet, Aussagen über die Gesamtheit (Population) der Achtklässler*innen in den teilnehmenden Bundesländern zu machen. Die Analysen fokussieren sich auf NRW. Hier wurde mit 3.269 Schüler*innen eine sehr gute Stichprobenausschöpfung erreicht.
Die Erhebung fand mit Computern oder Laptops statt und bestand aus drei Teilen: In einem 45-minütigen Test wurde das politische Wissen und Argumentieren von Schüler*innen mit offenen, geschlossenen und computer-erweiterten Items getestet. Schüler*innen sollten im Test beispielsweise Gründe nennen, warum Menschen Parteien beitreten, oder erklären, wie Fake News Demokratien schaden können. Darauf folgte eine Pause und ein Fragebogen, der in allen Teilnahmeländern eingesetzt worden ist und der neben soziodemografischen Angaben auch nach Einstellungen, Werten und Verhaltensabsichten der Schüler*innen fragt. Schließlich wurde in den meisten der europäischen Länder auch ein Modul mit europaspezifischen Fragen eingesetzt.
In dieser Studie wird von Familien mit Migrationsgeschichte gesprochen, wenn Schüler*innen entweder selbst im Ausland geboren sind oder dies auf beide Erziehungsberechtigte zutraf. In NRW waren das 33 % der Schüler*innen (n = 938). Schüler*innen konnten ihr Geschlecht selbst angeben. Neben den klassischen Optionen (Junge und Mädchen) konnten Schüler*innen auch eine weitere Option wählen (weiteres Geschlecht). 2 % der Schüler*innen nahmen diese Option wahr (n = 53). Somit stehen Informationen über Schüler*innen zur Verfügung, die sich als nichtbinär positioniert haben. Diese Gruppe konnte wegen der kleineren Gruppengröße nicht weiter in Schüler*innen mit und ohne Migrationsgeschichte unterteilt werden. Sofern nicht anders angegeben, sind beschriebene Gruppenunterschiede statistisch signifikant (p < .05).
Von Schüler*innen berichtete Diskriminierung
Im Fragebogen wurde den Schüler*innen eine Definition von Diskriminierung vorgestellt: »Diskriminierung liegt vor, wenn jemand nur aufgrund eines bestimmten persönlichen Merkmals, wie z. B. Alter, Geschlecht oder Hautfarbe, ungerecht benachteiligt wird.« Daraufhin wurden sie gefragt, welche Gruppen ihrer Meinung nach am meisten Diskriminierung im eigenen Land erfahren. Danach wurden Schüler*innen gefragt, ob sie in den letzten 12 Monaten aufgrund eines bestimmten Merkmals Diskriminierung erfahren haben. Schüler*innen konnten Mitschüler*innen oder Lehrkräfte als mögliche Quelle der Diskriminierung angeben und sie wurden gebeten, in einem Antwortfeld das Merkmal anzugeben, aufgrund dessen sie diskriminiert worden waren. Tabelle 1 zeigt, wie viel Prozent der Schüler*innen in den jeweiligen Subgruppen angegeben haben, in der Schule von Mitschüler*innen und/oder Lehrkräften diskriminiert worden zu sein. Im Durchschnitt waren es in NRW 27 % der Schüler* innen. Die Betrachtung der Subgruppen zeigt, dass Mädchen und Schüler*innen mit Migrationsgeschichte signifikant häufiger von Diskriminierung berichten. 18 % der Jungen ohne Migrationsgeschichte berichteten von Diskriminierungserfahrungen, dagegen waren es 32 % der Mädchen mit Migrationsgeschichte. Mit Abstand am häufigsten gaben jene Schüler*innen an, schulische Diskriminierung zu erleben, die sich einem weiteren Geschlecht zugehörig fühlen, also nichtbinär sind. Auch wenn die qualitativen Auswertungen darauf hinweisen, dass Schüler*innen ein sehr breites Verständnis von Diskriminierung haben (Ziemes et al., 2024), bieten die Analysen doch Hinweise darauf, dass nichtbinäre Schüler*innen in der Schule besonders viel Diskriminierung erfahren.
Erfahrungen von Lehrkraft-Fairness und Angst vor Mobbing
Um die Ergebnisse der Diskriminierungserfahrungen besser einordnen zu können, wurden weitere Berichte der Schüler*innen hinsichtlich des Erlebens in ihrer Schule betrachtet. Folgende Items haben wir näher analysiert:
- Die meisten Lehrkräfte behandeln mich fair.
- Ich habe Angst davor, von anderen Schüler*innen gemobbt zu werden.
Zu beiden Aussagen konnten Schüler*innen auf einer vierstufigen Antwortskala ihre Zustimmung, bzw. Ablehnung berichten. Tabelle 2 und Tabelle 3 zeigen, wie viel Prozent der Schüler*innen die jeweilige Aussage mit »Stimme zu« oder »Stimme stark zu« bewertet haben. Schüler*innen mit Migrationsgeschichte berichteten von weniger Lehrkraft-Fairness als Schüler*innen ohne. Interessanterweise erlebten Mädchen Lehrkräfte als etwas fairer als Jungen. Nichtbinäre Schüler*innen stimmten von allen Gruppen am seltensten zu, dass Lehrkräfte sie fair behandelt hätten.
Auch wenn Mädchen eher als Jungen den Eindruck hatten, von Lehrkräften fair behandelt zu werden, berichteten sie dennoch deutlich häufiger von der Angst, von Mitschüler*innen Mobbing zu erfahren, als Jungen. Die Migrationsgeschichte der Familie der Schüler*innen spielte hier keine signifikante Rolle (p > .05). Erneut zeigt sich jedoch, dass nichtbinäre Schüler*innen das soziale Klima an Schulen deutlich feindlicher wahrnehmen als ihre Mitschüler* innen. Etwa die Hälfte dieser Schüler*innen berichtet über Angst vor Mobbing.
Politisches Wissen im Vergleich
Politisches Wissen ist notwendig, um die eigenen Interessen effektiv in politische Entscheidungsprozesse einzubringen. Zusätzlich kann Bildung die negativen Effekte von Diskriminierung auf die Gesundheit von Menschen abschwächen (Allen et al., 2019). Bildung soll auch dabei helfen, diskriminierende Erlebnisse als solche einzuordnen und mit diesen umzugehen (ebd.). Politisches Wissen, wie es in »ICCS 2022« gemessen worden ist, könnte Schüler*innen helfen, Diskriminierung besser als solche zu erkennen. Es steht zum Beispiel in Zusammenhang mit der kritischen Analyse von Institutionen und der Unterstützung der Gleichberechtigung verschiedener Gruppen (Ziemes, 2022).
Abbildung 1 und Tabelle 4 zeigen die Verteilung des politischen Wissens über die Gruppen hinweg. Mädchen und Jungen sind in beiden Gruppen etwa gleich stark (p > .05), jedoch zeigen sich deutliche statistisch signifikante Unterschiede zwischen Schüler* innen mit und ohne Migrationsgeschichte (siehe Abbildung 1; siehe Tabelle 4). Zum Teil können die Differenzen auch über Unterschiede im sozioökonomischen Status erklärt werden (Hahn-Laudenberg et al., 2024). Diesen Schüler*innen stehen also weniger Ressourcen zur Verfügung, um Diskriminierung zu erkennen und diese zu verarbeiten. Interessanterweise liegt der Wert der nichtbinären Schüler*innen etwas über dem Mittelwert aller Schüler*innen in NRW (M = 524, SE = 2.6); wegen der kleinen Gruppengröße ist der Unterschied zum Landesmittel aber nicht statistisch signifikant (p > .05).
Fußnote
1 Auf Wunsch der Autorin verwenden wir in diesem Beitrag den Gender-Stern.
Zitation
Möller-Slawinski, H. (2024). Wer sind »die 14- bis 17-jährigen Jugendlichen«? FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 4–9.
Veröffentlichungsdatum
Dr. Johanna Ziemes, Bildungsforscherin mit den Schwerpunkten politische Sozialisation im Jugendalter, schulische Sozialbeziehungen, Vertrauen und Toleranz.
Kontakt: johanna.ziemes(at)uni-due.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Artikel der Gesamtausgabe
- Wer sind »die 14- bis 17-jährigen Jugendlichen«?
- Krieg, Pandemie und Zukunft: Was Jugendliche bewegt
- Mädchen in der Krise – Wertewandel bei der Familienplanung
- Diskriminierung von Jugendlichen an Schulen. Ergebnisse aus »ICCS 2022«
- Lebenslagen, Wohlbefinden und Perspektiven Jugendlicher in Deutschland und Frankreich
- Was beschäftigt Jugendliche?
- Nackt im Netz – Porno, Sexting, Missbrauch
- Jugend online
- Kinder- und Jugendarmut in Deutschland
- Prävention psychischer Belastungen und Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
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