Sexualisierte Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen sichtbar machen
Menschen mit Behinderungen erleben in ihrem Alltag häufig, dass sie nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Sie sind oft auf die Unterstützung durch andere Menschen wie beispielsweise rechtliche Betreuer*innen 1, versorgende Familienangehörige bzw. Fachkräfte oder Behindertentransporte angewiesen. Diese Angewiesenheit verweist auf Machtverhältnisse, die sich umso stärker auswirken können, je mehr weitere Abhängigkeiten hinzukommen. Insbesondere mit dem Schweregrad der Lernschwierigkeiten, bei hohem Unterstützungsbedarf und bei eingeschränkten Möglichkeiten, sich sprachlich mitzuteilen, steigt das Risiko, von sexualisierter Gewalt betroffen zu sein (Keupp & Mosser, 2018.)
Tatsächlich sind Minderjährige mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in deutlich größerem Ausmaß von sexualisierter Gewalt in Familien und in Institutionen betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Ihr Zugang zu Informationen über ihre Rechte und über Angebote zu Schutz und Unterstützung ist oft eingeschränkt. Zudem sind die vorhandenen Unterstützungsangebote häufig nicht ausreichend barrierefrei und es gibt zu wenig zielgruppenspezifische, passende Angebote (BMFSFJ, 2013; BMAS, 2013). Die Risikofaktoren für das Erleben sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend sind bei Behinderung grundsätzlich dieselben wie für alle anderen: vor allem Geschlecht, soziale Isolation und die Tabuisierung von Sexualität. Jedoch gibt es hier spezifische Ausprägungen. Das Leben in Wohneinrichtungen und Internaten schneidet von vielen gesellschaftlichen Bereichen ab und begrenzt soziale Kontakte. Wesentliche Risikofaktoren bei Menschen mit Behinderungen sind der häufige Mangel an sexueller Bildung (Jennesen et al., 2020; Krüger et al., 2022) und die fehlende Aufklärung über sexualisierte Gewalt und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Hier fehlt es nach wie vor an Schutzkonzepten und Fortbildungsangeboten für die hier tätigen Fachkräfte. Dass selbst in Einrichtungen, die Kindern mit Behinderungen ein schützendes Umfeld bieten sollen, sexuelle Gewalt ausgeübt wird – sei es durch Personal oder durch andere Kinder und Jugendliche –, muss aufgearbeitet werden.
Forschung hat in unterschiedlicher Weise dazu beigetragen, die Belastung von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen durch sexualisierte Gewalt in der Kindheit sichtbar zu machen. Eine Übersicht über internationale Forschungsergebnisse (Verlinden, 2018) zeigt eine durchgängig hohe Belastung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in vielen Ländern. Deutsche Untersuchungen bestätigen diese internationalen Befunde (BMFSFJ, 2014; BMAS, 2013). Vielfältige Barrieren erschweren bzw. verhindern z. B. für die Gruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten die Versorgung durch therapeutische Unterstützung, vor allem durch Traumatherapie, da nur wenige Fachkräfte dafür qualifiziert und bereit sind, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Für die Gruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten bestehen zudem enorme Hürden, ein Strafverfahren zu führen. Die rechtliche Verfolgung der Taten ist kaum möglich (Chodan et al., 2015). Somit sind sowohl die individuelle Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend als auch deren rechtliche Aufarbeitung für Menschen mit bestimmten Behinderungen sehr erschwert.
Prävention als dominierendes Thema
In vielen Feldern der Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend, z. B. in den Kirchen, in Schulen oder in der stationären Jugendhilfe, hat die öffentliche Debatte, die seit 2010 geführt wird, zum Umdenken und zu Aktivitäten geführt. Der Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch veröffentlichte einen Forderungskatalog an die Politik (https://www.aufarbeitungskommission.de/service-presse/service/glossar/runder-tischsexueller-kindesmissbrauch). Betroffene wurden sichtbar und forderten öffentlich die Anerkennung von Unrecht und Leid. Das Amt des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs wurde geschaffen, der den Betroffenenrat und 2016 die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch (im Folgenden Aufarbeitungskommission) berufen hat. In drei Förderlinien unterstützte das Ministerium für Bildung und Forschung mehrere Forschungsprojekte zu sexuellem Missbrauch in pädagogischen Kontexten, in denen auch die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen Thema wurde. Ein zentrales Ergebnis dieser Entwicklungen war die Erarbeitung und Implementierung von Schutzkonzepten in pädagogischen Einrichtungen. Hier liegt der Schwerpunkt auf Handlungsleitlinien und einem Präventionskonzept. Inzwischen liegen aus mehreren Initiativen hervorragende Materialien und Konzepte für die Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten und kognitiven Beeinträchtigungen vor, die in der Praxis aufgegriffen werden müssen (https://dgfpi.de/best-beraten-und-staerken-2015-2020/). Projekte zur Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen haben beispielhaft unter aktivem Einbezug der Zielgruppe das Recht von Menschen mit Behinderung auf Liebe, Sexualität und Partnerschaft zum Thema gemacht. Alle diese Initiativen zu Empowerment und Prävention sollten durch Bestrebungen zur Aufarbeitung ergänzt werden.
Der Blick nach vorne dominiert die Diskussion, der Blick zurück wird oft vermieden. Aufarbeitung der Vergangenheit steht jedoch gleichwertig neben der Prävention. Aufarbeitung will das Schweigen beenden und zurückliegende Taten aufdecken. Folgen für Betroffene sollen benannt und Strukturen, die sexuellen Missbrauch begünstigt und Aufdeckung verhindert haben, sollen identifiziert werden. Das Unrecht, das Betroffenen widerfahren ist, indem sie als Kinder nicht geschützt wurden, ihnen damals und auch später sehr oft nicht geglaubt wurde und sie keine Unterstützung erhielten, soll anerkannt werden. Aufarbeitung bedeutet auch, dass Institutionen und Gesellschaft an Formaten des Erinnerns arbeiten, um diese Anerkennung zum Ausdruck zu bringen und gerechtere Verhältnisse anzustreben. Daraus können Konsequenzen für die Gegenwart und den Schutz von Kindern und Jugendlichen heute gezogen werden. Betroffene haben diese Entwicklung angestoßen, und ohne den Einbezug von Betroffenen kann weder Prävention noch Aufarbeitung gelingen (https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/aufarbeitung/ ).
In der öffentlichen Wahrnehmung sind inzwischen Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend sichtbar und hörbar. Vor kurzer Zeit hat sich eine Interessenvertretung von Betroffenen auf Bundesebene gegründet (https://aus-unserer-sicht.de/). Menschen mit körperlicher Behinderung beteiligen sich an diesem Prozess; Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber auch Menschen mit Taubheit/ Hörbehinderung stehen vor hohen Barrieren, sich in die Entwicklungen im Bereich der Selbsthilfe und der politischen Initiativen einzubringen. Sie standen 2010 nicht in der Öffentlichkeit und sind bis heute kaum hörbar geworden. Hier setzt eine Initiative der Aufarbeitungskommission an.
Die Initiative der Aufarbeitungskommission: Barrieren überwinden
Die ehrenamtlich tätige, interdisziplinär zusammengesetzte Kommission besteht aus sieben Fachleuten, die sich seit vielen Jahren für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs einsetzen und u. a. vertrauliche Anhörungen durchführen. Eine Anhörung kann einen Rahmen bieten, der zur Stärkung und Bewältigung beiträgt: »Jetzt fühle ich mich wieder als Teil dieser Gesellschaft« (betroffene Person in einer Anhörung).
Abgeleitet aus den Rückmeldungen von Betroffenen und anderen Expert*innen erarbeitet die Kommission Empfehlungen an Politik und Zivilgesellschaft für die bessere Unterstützung Betroffener und für Prävention, die in Zukunft Kinder besser vor sexualisierter Gewalt schützt. Zudem adressiert die Kommission mit Empfehlungen zur Aufarbeitung Institutionen wie Kirchen, Schulen, Heime und Sportorganisationen und weist sie auf die Notwendigkeit von Aufarbeitung hin. Institutionen, die sich mit Gewalt in ihrer Vergangenheit nicht auseinandergesetzt haben und gefährdende Strukturen im Heute nicht erkennen, werden auch in Zukunft nicht erkennen, wenn es sexualisierte Gewalt in ihrer Obhut gibt. Es soll erreicht werden, dass Institutionen, Fachkräfte und politisch Zuständige Verantwortung dafür übernehmen, wenn Kinder und Jugendliche mit Behinderung nicht geschützt und Erwachsene mit Behinderung nicht ernst genommen wurden.
Inzwischen haben sich über 2.000 Personen bei der Kommission gemeldet, über 1.800 Anhörungen wurden durchgeführt und über 700 schriftliche Berichte von Betroffenen wurden zugeschickt. Aber nur wenige Betroffene mit Behinderungen sind darunter. Von einigen haben wir eindrückliche Beschreibungen erhalten, mit welchen Barrieren und Problemen sie nach der sexualisierten Gewalt konfrontiert waren. Ihre Bedürfnisse wurden ignoriert, wodurch sie sich immer wieder abgewertet und missachtet fühlten, was die Auswirkungen der sexualisierten Gewalt verstärkt hat: »Die Suche nach einer barrierefreien psychosomatischen Klinik mit freiem Therapieplatz war nervenaufreibend gewesen. Ich hörte immer wieder: ›Wie, im Rollstuhl? Nein, dann geht das hier nicht.‹ Oder: ›Für die paar Rollstuhlfahrer, die hier pro Jahr anrufen, würde es sich nicht lohnen, barrierefrei umzubauen.‹ Letzteres O-Ton aus christlicher Einrichtung! Meines Erachtens besonders bitter. Und mit meinen Vorerfahrungen, als ›unwert‹ erachtet zu werden, so, so triggernd und zum Aufgeben schlimm« (betroffene Person in einem Bericht). Eine weitere betroffene Person äußerte im Rahmen einer Anhörung: »Wie konnte es so weit kommen? Noch dazu in einer Einrichtung, bei der besonders zu schützende Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Schwerbehinderung untergebracht sind.«
Die Kommission will zukünftig mehr Menschen mit Behinderungen erreichen, sie direkt ansprechen und ihnen ihr Angebot der Anerkennung von Unrecht und Leid zugänglich machen. In erster Linie geht es bei der Organisation von vertraulichen Anhörungen darum, sie mitzudenken und mit vorhandenen Ressourcen einzubeziehen. Für Menschen mit Hörbehinderung können wir z. B. Anhörungen mit Gebärdendolmetschung organisieren, für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen können wir geeignete Räumlichkeiten mit passendem Zugang wählen. In einem Pilotprojekt haben wir zunächst Menschen mit Lernschwierigkeiten in Berlin in den Blick genommen. Sie haben spezifische Schwierigkeiten, mit ihrer Geschichte Gehör zu finden. Inzwischen haben wir das Pilotprojekt ausgeweitet und es sind bundesweit Anhörungsbeauftragte fortgebildet worden und stellen sich auf ihren Bedarf ein. Um die Zielgruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten zu erreichen, müssen wir dazulernen und passende Wege finden. Deshalb haben wir eine Initiative gestartet, um diese Zielgruppe anzusprechen und über die Möglichkeit einer Anhörung zu informieren.
Wir suchen den Kontakt zu Menschen mit Behinderungen
Dazu haben sich Mitglieder der Kommission und Anhörungsbeauftragte zunächst in einfacher Sprache und zum Abbau von Barrieren fortgebildet. Unterstützt wurden wir dabei von der »Mutstelle« der Lebenshilfe Berlin. Um das Angebot der Anhörungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten bekannt zu machen, hat die Kommission über 100 Einrichtungen der Behindertenhilfe in Berlin angeschrieben. Um Betroffene direkt über die Kommission und die Möglichkeit einer Anhörung zu informieren, drehten wir – wieder mit Unterstützung der Mutstelle – kleine Videos für Social-Media-Plattformen, in denen Menschen mit Lernschwierigkeiten ein Mitglied der Kommission befragten und so erklärt werden konnte: Was ist eine Anhörung? Wie läuft diese ab? Warum sollte man eine Anhörung machen? Die Videos sind in Gebärdensprache übersetzt (https://www.aufarbeitungskommission.de/themen-erkenntnisse/sexueller-kindesmissbrauchbeeintraechtigung/).
Um unser Vorhaben bekannter zu machen, vernetzte sich die Kommission mit Behindertenbeauftragten auf kommunaler, Landes- und Bundesebene und nahm an Fachtagen teil, z. B. auch am digitalen »ReWiKs«-Forum »Gewaltprävention durch die Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung«.
Es stellte sich heraus, dass die aufsuchende Informationsarbeit die effektivste Methode ist, um eine Sensibilisierung für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zu erreichen. Vertreterinnen der Kommission waren in Teamsitzungen in Institutionen und Gremien der Behinderten- und Eingliederungshilfe zu Gast, zum Beispiel in den Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften der Bezirke, in geschützten Werkstätten und Wohneinrichtungen und im Inklusionsbeirat des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung.
Menschen mit Lernschwierigkeiten
Insbesondere die Informationsveranstaltungen für Frauen mit Lernschwierigkeiten in Werkstätten, die mit Unterstützung der Frauenbeauftragten vor Ort zustande kamen, stießen jeweils auf großes Interesse. Die meisten Teilnehmerinnen waren bereits über sexualisierte Gewalt informiert, einige sprachen sich sehr deutlich dafür aus, dass mehr gegen Gewalt an Frauen mit Lernschwierigkeiten getan werden müsse. Im Verlauf der Veranstaltungen erzählten mehrere Teilnehmerinnen spontan von erlebter sexualisierter Gewalt in der Kindheit oder als Erwachsene. Als Tatkontexte wurden dabei die Familie, die Werkstatt, die Partnerschaft sowie Fremdtäter genannt. Andere Teilnehmerinnen deuteten Erfahrungen sexuellen Missbrauchs an. Es ergab sich insgesamt der Eindruck, dass selbst in den vergleichsweise kleinen Gruppen, mit denen die Kommission ins Gespräch kam, ein hohes Maß an Betroffenheit vorhanden war: »Menschen mit Beeinträchtigung erfahren mehr Gewalt als andere Menschen, und wir sind hier, um darüber aufzuklären« (Victoria Schillert, Frauenbeauftragte in einer Werkstatt).
Die Zusammenarbeit mit den Frauenbeauftragten der Werkstätten gestaltete sich äußerst fruchtbar. Sie werden von den weiblichen Werkstattbeschäftigten aus ihrer Mitte gewählt und stehen für alle frauenspezifischen Themen zur Verfügung. Einige von ihnen waren bereits in ihrer Beratungsarbeit mit dem Thema sexualisierte Gewalt in Berührung gekommen und hatten ein großes Interesse, die Anstrengungen zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt zu verstärken: »Es gibt ganz viele Frauen in der Werkstatt, die Frauenbeauftragten, und es gibt auch Peer-Beratung, wo man hingehen kann. Da ist man nicht alleine und kann immer Unterstützung holen« (Janet Lennig, Frauenbeauftragte in einer Werkstatt).
Schutzkonzept für Anhörungen
Andere zeigten sich zurückhaltender und befürchteten, mit einer Informationsveranstaltung zum Thema bei möglichen Betroffenen alte Wunden aufzureißen. Diese Sorge begegnete der Kommission auch immer wieder in Gesprächen mit Mitarbeitenden aus Einrichtungen der Behindertenhilfe. Die Frage, ob eine Anhörung bei der Kommission retraumatisieren würde, was wegen mangelnder personeller Ressourcen vom Betreuungspersonal nicht angemessen aufgefangen werden könne, wurde oft gestellt. Einige Mitarbeitende wiesen auch darauf hin, dass es nur sehr wenige spezielle Therapiemöglichkeiten für Menschen mit Lernschwierigkeiten gebe. Sie äußerten die Sorge, dass eine Anhörung der Kommission nur eine einmalige Angelegenheit und eine langfristige Betreuung von Menschen mit Lernschwierigkeiten zur Bewältigung der sexualisierten Gewalt nicht gewährleistet sei.
Diesen Einwänden begegnet die Kommission mit ihrem Schutzkonzept für Anhörungen. Eine Begleitung durch eine Vertrauensperson ist immer möglich und sogar gewünscht. Es wird immer ein Hintergrunddienst durch eine Fachberatungsstelle zu sexualisierter Gewalt vorgehalten, bei der die Möglichkeit eines Vorgesprächs, einer Begleitung während der Anhörung und einer längerfristigen Anbindung angeboten wird. Noch gibt es zu wenig spezialisierte Beratung für die Zielgruppe der Betroffenen mit Lernschwierigkeiten, aber es gibt Bewegung in der Unterstützungslandschaft wie die Aktivitäten von Weibernetz e. V. oder die Kampagne des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.
Unserer Erfahrung nach waren die Anhörung und das Sprechen über das Erlebte für die meisten Betroffenen im Nachhinein eine Erleichterung und ein wichtiger Baustein in ihrer persönlichen Bewältigung. Es ist für die Kommission daher von großer Wichtigkeit, dass Fachberatungsstellen auch bundesweit barrierefreier werden und das Personal sich fortbildet, um Anhörungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten begleiten zu können.
Sexualisierte Gewalt im Sport
Eine besondere Form der Kontaktaufnahme und ein großer Erfolg für die Kommission war ein Informationsstand im Rahmenprogramm der Special Olympics, der weltgrößten Sportveranstaltung für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Mit Flyern in Leichter Sprache, einer Auswahl von Informationsmaterial und Mitmachaktionen begrüßten wir die Athletinnen und Athleten sowie Gäste und Begleitpersonal im Sommergarten der Messe Berlin. Unterstützt wurden wir durch Frauenbeauftragte aus Werkstätten, die bereits in der Vergangenheit mit der Aufarbeitungskommission zusammengearbeitet hatten. Mit dem Wurf auf eine Dartscheibe hatten die Sportlerinnen und Sportler Gelegenheit, über Themen wie Grenzen, Sex oder Gewalt mit der Kommission ins Gespräch zu kommen. Viele der Sportlerinnen und Sportler sowie ihre Begleitungen zeigten sich über das Thema informiert und hatten ein Interesse, darüber zu sprechen, wie man sexualisierte Gewalt im Sport verhindern kann: »Wir haben auch richtig Probleme, da NEIN zu sagen und STOPP« (Athletin).
Menschen mit Hörbehinderung
In einem nächsten Schritt möchten wir zu einer weiteren Gruppe von Menschen mit Behinderungen den Zugang verbessern: zu Menschen mit Hörbehinderung. Die Kommission führte Gespräche mit Vertreter*innen des deutschen Gehörlosenbunds und der Deutschen Gehörlosenjugend. Hier zeigte sich ein Problem, für das eine Lösung gefunden werden muss, um vertrauliche Anhörungen durchführen zu können: Die Community ist recht überschaubar und die Anzahl qualifizierter Gebärdendolmetscher* innen begrenzt. Wenn dieselben Personen für das Dolmetschen in unterschiedlichen Situationen des Alltags und Berufs in Anspruch genommen werden, ist keine Vertraulichkeit gewährleistet, wenn sie auch die Anhörung dolmetschen. Hier braucht es Personen, die spezifisch eingesetzt werden können. Ein Vertreter der Gehörlosenjugend wünscht sich Anhörungsbeauftragte, die selbst gebärden können. Doch dieser Wunsch ist nicht so leicht zu realisieren. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die ältere Generation der Menschen mit Hörbehinderung meist das Gebärden gar nicht erlernt hat, weil damals strikt auf Lautsprache und Lippenlesen gesetzt wurde. Für diese Personen müssen passende Lösungen der Information und Teilhabe gefunden werden.
Wie geht es weiter?
Die Zahl der Anhörungen von Menschen mit Behinderungen ist aus Sicht der Kommission immer noch zu gering, um sie wissenschaftlich auszuwerten oder Empfehlungen daraus abzuleiten. Deswegen setzen wir die aufsuchende Informationsarbeit in Einrichtungen der Behindertenhilfe fort und weiten sie aus. Mittlerweile wurden Anhörungsbeauftragte bundesweit im Umgang mit Menschen mit Lernschwierigkeiten fortgebildet. Eine*r von ihnen hat sich auf Anhörungen in Leichter Sprache spezialisiert. Zugangsbarrieren für die Anhörungen versucht die Kommission kontinuierlich abzubauen, beispielsweise, indem sie die Übersetzung ihrer Webseite in Leichter Sprache ausbaut. Zukünftig wird es auch Angebote in Deutscher Gebärdensprache geben. Als unverzichtbar sieht sie weiterhin die aufsuchende Informationsarbeit an, um bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und anderen Behinderungen, Mitarbeitenden der Behindertenhilfe sowie allen Menschen im Umkreis Verständnis und die Bereitschaft zur Aufarbeitung zu schaffen. Bitte unterstützen Sie uns dabei!
Fußnote
1 Auf Wunsch der Autorinnen wird in diesem Beitrag der Gender-Stern verwendet.
Literatur
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Alle Links und Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Zitation
Kavemann, B., Gerth, S., & Gebrande, J. (2023). Sexualisierte Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen sichtbar machen, FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2, 11–17.
Veröffentlichungsdatum
Prof. Dr. Barbara Kavemann ist Sozialwissenschaftlerin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen (SoFFI) tätig. Sie ist Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gewalt im Geschlechterverhältnis, sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend, Gewalt in Paarbeziehungen.
Kontakt: soffi-berlin(at)web.de
https://barbara-kavemann.de/
Sonja Gerth ist Referentin im Büro der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Öffentlichkeitsarbeit, sexueller Kindesmissbrauch und Behinderung.
Kontakt: sonja.gerth(at)aufarbeitungskommission.bund.de
Prof. Dr. Julia Gebrande ist Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen an der Hochschule Esslingen und Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Soziale Arbeit nach traumatischen Erfahrungen (Traumaberatung und Traumapädagogik) sowie Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.
Kontakt: Julia.Gebrande(at)aufarbeitungskommission.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Teilhabeplanung und sexuelle Selbstbestimmung: Stand – Herausforderungen – Möglichkeiten
- Sexualisierte Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen sichtbar machen
- Projekt »ReWiKs« – Erkenntnisse zur Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen
- »herzfroh 2.0« – Entwicklung von Materialien zur Sexualaufklärung für Jugendliche und junge Erwachsene mit Lernschwierigkeiten
- »BeSt – Beraten und Stärken«. Ein bundesweites Modellprojekt
- Digitale sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mit Taubheit/Hörbehinderung
- Das Projekt »MELiSSE – Meine Liebe und selbstbestimmte Sexualität« von pro familia
- Sexualaufklärung in der Grundschule aus Sicht von Förderpädagoginnen und Förderpädagogen
- Soziale Beziehungen von Jugendlichen mit Behinderung
- Gynäkologische und geburtshilfliche Versorgung von Frauen mit Behinderung
- Zur Sexualaufklärung junger Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit
- Wirksame Gewaltschutzprozesse in der Eingliederungshilfe
- Infothek