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FORUM 2–2023

Zur Sexualaufklärung junger Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit

Katharina Urbann , Claudia Becker , Laura Avemarie , Informationen zu den Autorinnen/Autoren

Projekt »Jugendsexualität im Kontext von Taubheit/Schwerhörigkeit«

Eine Befragung von jungen tauben und schwerhörigen Menschen richtet den Fokus auf die sexuelle Aufklärung und erste sexuelle Erfahrungen junger Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit zwischen 14 und 25 Jahren. Weder auf nationaler noch internationaler Ebene liegen differenzierte Forschungsdaten hierzu vor.

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Seit 1980 führt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) regelmäßig die repräsentative Wiederholungsbefragung »Jugendsexualität « durch. Im Zuge der letzten, neunten Welle, wurden 6 032 junge Menschen zwischen 14 und 25 Jahren zu ihren ersten sexuellen Erfahrungen und ihrer Sexualaufklärung befragt. Junge Menschen mit Beeinträchtigung, z. B. mit Taubheit oder Schwerhörigkeit, wurden im Zuge der Repräsentativbefragungen dabei bislang nicht einbezogen, jedoch im Rahmen von zwei kleineren, von der BZgA beauftragten Studien in Sachsen adressiert (Wienholz et al., 2013; Retznik et al., 2017). Von 2012 bis 2014 wurde das Projekt »Jugendsexualität und Behinderung – Befragung von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren mit Hör-, Seh- und körperlicher Behinderung und schweren chronischen Erkrankungen« (Wienholz et al. 2013) und von 2012 bis 2014 das Projekt »Familienplanung bei jungen Erwachsenen mit Behinderungen in Sachsen – Befragung von 18- bis 25-Jährigen mit Hör-, Seh- und körperlicher Behinderung, chronischen und psychischen Erkrankungen, Lernbehinderung« (Retznik et al. 2017) durchgeführt. An der Studie von Wienholz und Kolleg*innen (2013) nahmen 73, an der Erhebung von Retznik und Kolleg*innen (2017) 40 junge Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit aus Sachsen teil.

Das Projekt »Jugendsexualität im Kontext Taubheit/ Schwerhörigkeit – Adaption der BZgA-Studie ›Jugendsexualität‹ für die Befragung von jungen tauben und schwerhörigen Menschen« richtet den Fokus auf die sexuelle Aufklärung und erste sexuelle Erfahrungen junger Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit zwischen 14 und 25 Jahren. Weder auf nationaler noch internationaler Ebene liegen differenzierte Forschungsdaten hierzu vor. Vermutet werden kann, dass Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit infolge kommunikativer Barrieren in der Familie, der Schule und der Gesellschaft verglichen mit hörenden Peers geringere Möglichkeiten zur sexuellen Aufklärung haben (Dietzel, 2002; Schröttle et al., 2013; Chodan et al., 2015). Basierend auf einem Beitrag von Urbann, Tenbrink und Avemarie (2022) werden die Hintergründe, die zu dieser Annahme führen, im Folgenden skizziert.

Familiäres Umfeld

Früheren Studien zufolge kann vermutet werden, dass neun von zehn Kindern mit Taubheit und Schwerhörigkeit in hörende Familien geboren werden (Mitchell & Karchmer, 2004). Daher sind die meisten dieser Kinder sogar in ihrem familiären, lautsprachlich kommunizierenden Umfeld mit kommunikativen Barrieren konfrontiert: Ihre Interaktionsqualität kann im Vergleich zu anderen Familienmitgliedern eingeschränkt, die Gesprächsinhalte und die Gesprächskomplexität können reduziert sein. Nachgewiesen ist z. B., dass hörende Erziehungsberechtigte mit ihren Kindern mit Taubheit und Schwerhörigkeit weniger über (eigene und fremde) Gefühle, Gedanken und Wünsche kommunizieren als Erziehungsberechtigte hörender Kinder (Morgan et al., 2014; Dirks et al., 2020). Auch heikle Themen wie Sexualität, sexuelle Aufklärung oder abstrakte Themen wie die wichtige Frage der sexuellen Selbstbestimmung werden von hörenden Erziehungsberechtigen eher ausgeklammert (Sullivan & Knutson, 1998; Kvam, 2004; Sebald, 2008; Francavillo, 2009; Wienholz et al., 2013; Fries, 2020). So kann angenommen werden, dass die sexuelle Aufklärung von Kindern und Jugendlichen mit Taubheit und Schwerhörigkeit im familiären Umfeld eher unzureichend ist (Fries, 2020).

Peers

Zusätzlich zu der beschriebenen unzureichenden Sexualaufklärung im familiären Umfeld ist eine geringere Qualität und Quantität an Peer-Kontakten festzustellen, was u. a. ebenfalls zu Informationsdefiziten führen kann (Antia et al., 2020). Auch diese sind Folgen kommunikativer Barrieren. Hörende Jugendliche verfügen nur selten über Gebärdensprachkompetenzen, weshalb der Interaktionsradius für gebärdensprachlich kommunizierende Kinder und Jugendliche eingeschränkt ist. In der Folge reduzieren sich potenziell auch die peerbezogenen Informationsquellen und sind in qualitativer Hinsicht weniger vielseitig als die hörender Heranwachsender. Belegt ist beispielsweise das Risiko der Fehlinformiertheit und verzögerten Vermittlung gesamtgesellschaftlicher Veränderungen (z. B. in Hinblick auf Rollenmuster), wenn sich Kinder und Jugendliche mit Taubheit und Schwerhörigkeit zur Sexualaufklärung ausschließlich untereinander austauschen (Gotthardt-Pfeiff, 1991; Eckerli-Wäspi, 2013; Fries, 2020). Rudimentäres und fragmentarisches Wissen kann so reproduziert werden.

Lernvoraussetzungen

Die Entwicklung von laut-, gebärden- und/oder schriftsprachlichen Kompetenzen entscheidet über die Möglichkeiten der Heranwachsenden mit Taubheit und Schwerhörigkeit, sich mit dem Thema Sexualität differenziert auseinanderzusetzen. Über das Medium Schrift werden vielfältige Informationen vermittelt, die gleichzeitig für die selbstgesteuerte Aufklärung besonders geeignet sind. Diese schriftbasierten Informationen sind für junge Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit nicht barrierefrei zugänglich. Dass Jugendzeitschriften, Jugendbücher etc. kaum von tauben und schwerhörigen Heranwachsenden zur Sexualaufklärung rezipiert werden, wird in der Untersuchung von Wienholz et al. (2013) bestätigt. Denn trotz hörtechnologischer Fortschritte, einer frühen Diagnosestellung und Förderung ist der Schriftspracherwerb bei Kindern mit Taubheit und Schwerhörigkeit gefährdet (Wauters, et al., 2006; Mayer & Trezek, 2018; Antia et al., 2020).

Studiendesign

Mit dem Projekt »Jugendsexualität im Kontext Taubheit/ Schwerhörigkeit«, das an der Humboldt-Universität zu Berlin (Abteilung Gebärdensprach- und Audiopädagogik) angesiedelt ist und in Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München (Lehrstuhl für Sonderpädagogik – Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation einschließlich inklusiver Pädagogik) durchgeführt wird, sollen Daten zur Sexualaufklärung und ersten sexuellen Erfahrungen von 200 jungen Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit zwischen 14 und 25 Jahren gewonnen werden. Der Fragebogen der neunten Erhebungswelle soll hierzu in einen Online-Fragebogen überführt und an die sprachlichen Bedarfe junger Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit angepasst werden. Empfehlungen von Wienholz u. a. (2013) werden dabei umgesetzt, zu denen die Mitarbeit von Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit bei der Adaption des Fragebogens und die Durchführung begleiteter Gruppenbefragungen an Schulen gehören. Zudem besteht für junge Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit die Möglichkeit, den Fragebogen selbstständig auszufüllen. Sie werden über die Befragung mit Hilfe von Verbänden, in denen junge Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit organisiert sind, informiert. Dazu gehören z. B. die Verbände »Bundesjugend – Verband junger Menschen mit Hörbehinderung e. V.« und »Deutsche Gehörlosen-Jugend e. V.«.

Die im Projekt generierten Daten bilden eine Grundlage für die Entwicklung adäquater Aufklärungsmaßnahmen, die junge Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit erreichen, z. B. die Anpassung von Angeboten wie »loveline« (www.loveline.de) der BZgA an die Bedarfe junger Menschen mit Taubheit und Schwerhörigkeit.

Veröffentlichungsdatum

Dr.in Katharina Urbann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Gebärdensprach- und Audiopädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht u. a. zu sexueller Aufklärung und sexualisierter Gewalt im Kontext von Taubheit/Schwerhörigkeit.
Kontakt: katharina.urbann(at)hu-berlin.de 

Dr.in Claudia Becker ist Professorin für Gebärdensprach- und Audiopädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht u. a. zu Themen der sozial-emotionalen Entwicklung tauber/schwerhöriger Kinder und Jugendlicher und der mehrsprachigen Bildung mit Laut- und Gebärdensprachen.
Kontakt: claudia.becker(at)hu-berlin.de 

Dr.in Laura Avemarie ist Professorin für Sonderpädagogik – Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation einschließlich inklusiver Pädagogik an der Ludwig- Maximilians-Universität München. Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen u. a. die Themen »Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mit Taubheit/Hörbehinderung« und »Entwicklung und Förderung exekutiver Funktionen im Kontext von Taubheit/ Hörbehinderung«.
Kontakt: Laura.Avemarie(at)edu.lmu.de 

Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

 

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

Studie

Jugendsexualität im Kontext von Taubheit/Schwerhörigkeit

Adaption der BZgA-Studie „Jugendsexualität“ für die Befragung von jungen tauben und schwerhörigen Menschen

Eine Hörbeeinträchtigung kann sich vor allem auf die Kommunikation auswirken, was sich in allen Lebens- und…
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