Evaluation der bundesweiten Initiative Trau dich! zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Ausgangslage
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) die bundesweite Initiative zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs - Trau dich! – im Rahmen des Aktionsplans 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung entwickelt. Die Initiative richtet sich mit verschiedenen Bausteinen an Schulkinder, Erziehungsberechtigte, Lehr- und Fachkräfte und hat das Ziel, Kinder über sexuellen Missbrauch und über ihre Rechte aufzuklären, Erwachsene für das Thema zu sensibilisieren und ihre Handlungssicherheit zu stärken sowie regionale Hilfsangebote bekannter zu machen.
Für die Zielgruppe der Kinder wurde das Theaterstück Trau dich! konzipiert, welches das Selbstbewusstsein und die Sprachfähigkeit der Mädchen und Jungen stärken und dazu beitragen soll, die eigenen Rechte zu kennen. Vermittelt wird in dem Stück u.a. auch, wie man sich an Erwachsene wenden kann, wenn man (von) Grenzüberschreitungen erfährt.
Begleitend zum Theaterbesuch wird den Erziehungsberechtigten der Kinder ein Informationsabend angeboten, bei dem sie ihr Wissen zur Prävention sexualisierter Gewalt erweitern können und Informationen zum Theaterstück und zu Fachstellen vor Ort erhalten. Darüber hinaus bietet die Initiative den Lehr- und Fachkräften, die mit den Kindern das Theaterstück besuchen, eine Trau dich!-Fortbildung zur Prävention sexualisierter Gewalt an, bei der neben Fakten wissen auch die weiterführenden Materialien der Initiative vorgestellt werden, um den Theaterbesuch mit den Kindern im Unterricht umfassend vor- und nachbereiten zu können. Durch diese Fortbildungsangebote sollen die teilnehmenden Schulen zudem darin bestärkt werden, die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen und -konzepten auf institutioneller Ebene weiter voranzutreiben.
Zur Überprüfung, ob die entwickelten Maßnahmen die erwünschte Wirkung zeigen, führte das SOKO Institut für Sozialforschung und Kommunikation in Bielefeld im Auftrag der BZgA im Zeitraum von 2013 bis 2014 eine erste grundlegende Evaluation der Pilotphase der Initiative in Schleswig-Holstein und Sachsen durch. Die Ergebnisse aus dieser Erhebung zur Wirksamkeit des Trau dich!-Theaterstücks wurden 2016 von Firnges/Amann publiziert.
Trau dich! entwickelte sich in der zweiten Laufzeit der Initiative auf vielen Ebenen weiter. So wurden etwa Kooperationen mit weiteren Bundesländern realisiert, die die Initiative umsetzen, wie auch die begleitenden Medien und Maßnahmen weiterentwickelt und überarbeitet. Zur kontinuierlichen Qualitätssicherung erfolgte von 2017 bis 2018 durch das SOKO Institut eine erneute und im Studiendesign optimierte Evaluation in Mecklenburg-Vorpommern, Bayern, Berlin und Hessen, die die Ergebnisse aus der ersten Erhebung mitberücksichtigt.
Im Folgenden werden der Aufbau und die Durchführung der Gesamtevaluation skizziert sowie erste zentrale Ergebnisse zur methodischen Umsetzung, zur Bewertung und Wirkung des Trau dich!-Theaterstücks sowie zur Bewertung der begleitenden Fortbildungen und Informationsabende vorgestellt. Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen für die Prävention sexualisierter Gewalt schließen sich an.
Konzept und Durchführung der Evaluation
Im Rahmen der Evaluation sollte bei der Zielgruppe der Kinder insbesondere überprüft werden, ob die zentralen Präventionsbotschaften verstanden werden, ob also ein Wissenszuwachs über Kinderrechte, zur Sexualität und Grenzverletzungen/sexueller Kindesmissbrauch sowie zu möglichen Vertrauenspersonen und Hilfsangeboten gemessen werden kann. Darüber hinaus wurde überprüft, ob eine Erweiterung der subjektiv wahrgenommenen Handlungskompetenzen bei den Kindern beobachtet werden kann, d.h., ob die Kinder nach dem Theaterbesuch ihre eigenen Gefühle besser einschätzen und artikulieren können, ob sie deutlicher zwischen »guten« und »schlechten« Geheimnissen sowie zwischen angenehmen und unangenehmen Berührungen unterscheiden können und sie darin bestärkt werden, sich bei möglichen Grenzverletzungen und sexuellem Kindesmissbrauch jemandem anzuvertrauen und Hilfe zu holen.
Ferner wurde untersucht, inwieweit die Initiative auch bei den Erziehungsberechtigten, Lehr- und Fachkräften zu einem Wissenszuwachs über Präventionsmaßnahmen und das Hilfesystem geführt hat, sodass sie nicht nur für das Thema sexueller Kindesmissbrauch sensibilisiert, sondern auch sicherer im Umgang mit der Thematik werden. Ziel ist, die Erwachsenen zu präventivem Handeln zu befähigen, damit sie zukünftig den Kindern als kompetente Ansprech- und Vertrauenspersonen zur Seite stehen können. Gemessen wurde vor allem, ob sich die Qualifikation, d.h. die Kommunikationsfähigkeit, Gesprächssicherheit und Handlungskompetenz der Erziehungsberechtigten, Lehr- und Fachkräfte nach dem Besuch der Infoabende und Fortbildungen verbessert hat.
Zu diesem Zweck wurden im Rahmen der beiden Evaluationsphasen mehrere Befragungen unter den drei zentralen Zielgruppen durchgeführt. Die Kinder wurden dabei insgesamt dreimal zu den Themen des Theaterstücks befragt (Nullmessung kurz vor dem Theaterbesuch, Effektmessung kurz nach und Nachhaltigkeitsmessung mehrere Monate nach dem Theaterbesuch). Die Erziehungsberechtigten erhielten im Anschluss an den Informationsabend die Möglichkeit, diesen zu bewerten, und die Lehr- und Fachkräfte die Fortbildung jeweils vor und nach der Veranstaltung. Zusätzlich wurden in der zweiten Evaluationswelle die Reaktionen der Kinder auf das Theaterstück sowohl aus Sicht ihrer Erziehungsberechtigten als auch aus Sicht der Lehr- und Fachkräfte erfasst. Diese begleiteten die Kinder beim Theaterbesuch und bereiteten den Besuch mit ihnen im Unterricht vor und nach. Diese multiperspektivische Betrachtung sollte Aufschluss über das Kommunikationsverhalten der Kinder im familiären Setting und innerhalb des Klassenverbandes geben.
Tabelle 1 liefert eine Übersicht über die teilnehmenden Kinder, Erziehungsberechtigten, Lehr- und Fachkräfte im Rahmen der verschiedenen Befragungsteile.
Das methodische Vorgehen war für die beiden Evaluationsphasen 2013/14 und 2017/18 nahezu identisch, sodass eine gemeinsame Auswertung möglich wurde. Im Rahmen der zweiten Evaluationsphase 2017/18 wurden das methodische Vorgehen sowie die Fragebogen lediglich an einzelnen Stellen auf Grundlage der Erkenntnisse aus der ersten Evaluation angepasst. So wurden insbesondere auch Kinder befragt, die das Theaterstück (noch) nicht gesehen haben (»Wartekontrollgruppe« [WKG]), um zu kontrollieren, ob mögliche Effekte verstärkt auf den Besuch des Theaterstücks zurückzuführen sind.
Tab. 1 Teilnehmenden
Zentrale Ergebnisse zur methodischen Umsetzung der Evaluation
Im Hinblick auf die Erkenntnisse zum praktischen, wissenschaftlichen und methodischen Vorgehen kann festgehalten werden, dass das komplexe Untersuchungsdesign den anspruchsvollen methodischen, organisatorischen und rechtlichen Herausforderungen gerecht wurde. Es gelang, die Genehmigungen aller Kultusministerien der teilnehmenden Bundesländer zur Durchführung der Befragungen in den Schulen einzuholen und die komplementär verlaufenden Befragungen der drei Zielgruppen einerseits und die Klassenzimmerbefragungen im Längsschnitt andererseits sehr gut umzusetzen. Auch die Empfehlungen aus der »Bonner Ethik-Erklärung« für die Forschung zu sexueller Gewalt in pädagogischen Kontexten konnten ohne Schwierigkeiten berücksichtigt werden. Dies beinhaltet u.a., dass zu allen Befragungszeitpunkten eine spezialisierte Beratungsfachkraft in den Schulen vor Ort zur Verfügung stand. Diese sollte eine Begleitung und Beratung sicherstellen, falls es aufgrund der Auseinandersetzung mit dem Fragebogen zu schmerzhaften Erinnerungen eigener negativer Erlebnisse käme.
Die Herausforderung lag bei allen Befragungsteilen vor allem darin, die Erziehungsberechtigten von dem Nutzen der Evaluation zu überzeugen und für die Teilnahme zu gewinnen. Nicht immer ist diese gelungen: Teilweise war die Bereitschaft gering, die Kinder an der Befragung teinehmen zu lassen; entsprechend war auch die Zahl der Teilnehmenden an den Befragungen der Erziehungsberechtigten niedrig. Auch die Kinderbefragungen im Rahmen der Wartekontrollgruppe waren – aus praktischer Sicht – sehr schwer zu realisieren. Insbesondere die Anforderung, drei Befragungen innerhalb von sechs bis acht Monaten vor dem eigentlichen Theaterbesuch, z.T. kurz hintereinander, durchzuführen, stellte eine große organisatorische Herausforderung dar und war an den meisten Veranstaltungsorten aufgrund der relativ kurzen Anmeldefristen nicht realisierbar. An den Orten, an denen die Befragungen aus organisatorischer Sicht möglich gewesen wären, scheiterte das Vorhaben meist daran, dass die Schulen nicht von der Teilnahme an einer freiwilligen, kurzfristigen dreimaligen Befragung ohne ersichtlichen Nutzen für die Kinder überzeugt werden konnten. Dennoch konnten wertvolle Erkenntnisse zur Wirksamkeit der Trau dich!-Maßnahmen gewonnen werden.
Zentrale Ergebnisse zum Trau dich!-Theaterstück
Bewertung
Die Evaluation zeigt, dass das Theaterstück sehr gut von den Kindern aufgenommen wird. Insgesamt gaben 82,8% der befragten Kinder an, dass ihnen das Stück gut gefallen hat, und 72,1 Prozent würden es an ihre Freundinnen und Freunde weiterempfehlen. Dieser positive Eindruck wird auch dadurch bekräftigt, dass ebenso 76,5 Prozent der befragten Erziehungs berechtigten das Stück weiterempfehlen würden, obwohl sie es vorrangig nur aus den Gesprächen mit ihren Kindern und dem Informationsmaterial kennen. Besonders betonten sie den Aufklärungsaspekt, kindgerechte Umsetzung und die Chance, den Theaterbesuch als Anlass nutzen zu können, mit ihrem Kind über sexuellen Missbrauch zu sprechen.
Aber nicht nur im familiären Setting, sondern auch im Klassenverband ermöglichen das Trau dich!-Theaterstück und die begleitenden Materialien einen Einstieg in das Thema. Hier decken sich die Eindrücke der Erziehungs berechtigten und der Lehr- und Fachkräfte in der multiperspektivischen Betrachtung des Kommunikationsverhaltens der Kinder. Beide Gruppen beschreiben, dass die Kinder durch diese Maßnahmen ein verstärktes Interesse an den Themen Liebe, Gefühle, Sexualität und Freundschaft, aber auch sexuellen Missbrauch aufweisen und vermehrt mit ihren Rechten argumentieren. Zudem gaben über 90 Prozent der Kinder an, dass das Theater stück noch Monate später Thema in den Gesprächen in der Schule und zu Hause war. In diesen Gesprächen berichteten die Kinder auch von den gespielten und erzählten Szenen aus dem Stück, in denen die Bandbreite von Grenzverletzungen bis hin zu sexuellen Übergriffen und sexuellem Missbrauch angedeutet wurde. Dies zeigt, dass die Kinder verstanden haben, worum es in dem Stück geht.
Ferner wurde aus den Antworten der Kinder deutlich, dass sie bereits sehr gut zwischen angenehmen und unangenehmen Berührungen unterscheiden können und es dem Theaterstück gelingt, »gerade mit den Szenen, die den Missbrauch explizit benennen, eine innere Auseinandersetzung der Kinder mit dem Thema sexueller Missbrauch zu erreichen«, wie auch schon in der ersten Evaluation des Stücks deutlich wurde (Puhe/Libuda-Köster 2016, S. 16). In diesem Prozess nehmen die Kinder unterschiedliche Gefühle bei sich wahr und geben diese auch sehr differenziert in der Beurteilung des Stücks wieder. So zeigte sich beispielsweise, dass insgesamt 51,3 Prozent der Kinder (59,8 % der Mädchen und 41,7 % der Jungen) das Theaterstück an einigen Stellen als unangenehm empfanden, obwohl sie die Schauspielerinnen und Schauspieler zu 88,2 Prozent durchaus als »lustig« bezeichneten und es schätzten, dass sie »gut mitmachen konnten« (72,6 %). Die unangenehmeren Gefühle nannten die Kinder vor allem im Kontext der ernsteren Szenen, bei denen es konkret um sexuellen Kindesmissbrauch und/oder Grenzüberschreitungen geht. Diese Ergebnisse lassen sich noch weiter differenzieren: Vor allem ältere Kinder waren von den ernsteren Szenen betroffen und Kinder mit Migrationshintergrund sowie Kinder muslimischen Glaubens haben verstärkt unangenehme Gefühle bei den Szenen ausgedrückt, in denen sexuelle Grenzüberschreitungen thematisiert werden. Entsprechend kohärent gaben hier auch nur 66,7 Prozent dieser Gruppe von Kindern an (vs. 82,8 % im Gesamtdurchschnitt), dass ihnen das Theaterstück »gut gefallen« habe.
Wie in vielen Studien gefordert (u.a. Davis/Gidycz 2000; Rispens/Aleman/Goudena 1997), ist es mit dieser besonderen Konzeption des Trau dich!-Theaterstücks gelungen, einen kind- und altersgerechten Zugang zu der sensiblen Thematik des sexuellen Kindesmissbrauchs herzustellen, indem die Kinder aktiv in das Geschehen eingebunden werden, sexueller Kindesmissbrauch deutlich und altersgemäß behandelt wird und das schwierige Thema in verschiedene – auch leichtere, »alltägliche« – Szenen einbettet wird, ohne den Ernst der Thematik zu verlieren. Auch die Rückmeldungen der Erziehungsberechtigten sowie der Lehr- und Fachkräfte spiegeln diese Eindrücke wider: Lediglich 8,2 Prozent der Lehr- und Fachkräfte und 5,4 Prozent der Erziehungsberechtigten gaben an, dass die Kinder durch das Theaterstück verunsichert wurden.
Wirkung
Die Ergebnisse der Evaluation weisen nach, dass die zentralen Ziele der Initiative kurzfristig und nachhaltig bei den Kindern verankert werden konnten und der Besuch des Trau dich!-Theaterstücks einen signifikanten positiven Einfluss auf die Selbsteinschätzung sowie die Handlungskompetenzen der Kinder hat. Sie erinnern die zentralen Präventionsbotschaften und gaben nach dem Theaterstück signifi kant häufiger an, dass sie ihre eigenen Gefühle besser kennen, »gute« von »schlechten« Geheimnissen unterscheiden können und wissen, an wen sie sich bei einer Grenzverletzung oder bei Missbrauchssituationen wenden können. Diese positiven Effekte konnten für nahezu alle Kinder gemessen werden, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft. Insbesondere für die Unterscheidung zwischen »guten« und »schlechten« Geheimnissen trifft dies zu.
Zudem wurde die Bedeutsamkeit und der Nutzen eines multiperspektivischen Ansatzes, bei dem neben speziellen Präventionsmaßnahmen für die Kinder gleichermaßen die Einbindung der Erziehungsberechtigten und Fachkräfte erfolgt, in dieser Evaluation vor allem beim Thema Vertrauenspersonen und Kenntnis von Hilfemöglichkeiten ersicht lich (s. hierzu auch Damrow 2010; Kindler/Schmidt-Ndasi 2011; Wurtele/Kenny 2010). So gaben die Kinder sowohl vor als auch nach dem Theaterbesuch an, dass sie sich bei Grenzverletzungen oder sexuellen Missbrauchs -
situationen primär an ihre Eltern oder Lehrkräfte wenden würden. Allerdings konnte auch festgestellt werden, dass sich der Kreis der Vertrauenspersonen nach dem Theaterbesuch nochmals erweitert und sich die Kinder vermehrt auch an Freundinnen und Freunde sowie andere Verwandte oder Fachberatungs stellen und andere Einrichtungen (vor Ort) wenden würden. Das heißt, insbesondere die Kinder, die das Theaterstück besucht haben und die Einbettung des Themas in ein wieder holtes und vertiefendes Maßnahmenpaket erfahren durften, profitieren in besonderem Maße davon.
Zugleich konnte mittels des Wartekontrollgruppen-Designs verdeutlicht werden, dass ein Teil der Effekte auch bei den Kindern messbar ist, die das Theaterstück noch nicht gesehen hatten (WKG), wobei die Effekte in einzelnen Fällen nicht signifikant bzw. nicht so stark sind wie bei den Kindern, die das Theaterstück bereits besucht hatten. Interessant dabei ist die Differenzierung in Effekte, die eindeutig auf das Theaterstück zurückzuführen sind, und andere Effekte, die dadurch begründet werden können, dass sich die Kinder, Lehr- und Fachkräfte sowie Erziehungs berechtigten intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt haben.
Ein Anstieg der Kenntnisse um das telefonische Hilfsangebot der »Nummer gegen Kummer« zeigte sich nach dem Theaterbesuch beispielsweise nahezu für alle Kinder der Experimentalgruppe – d.h. unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Diese Kinder gaben signifikant häufiger an, dass sie das Kinder- und Jugendtelefon kennen. Dieser Effekt war auch noch mehrere Monate nach dem Theaterbesuch messbar, zeigte sich hingegen nicht bei der Wartekontrollgruppe, weshalb hier auf die spezifische Wirkweise des Theaterstücks geschlossen werden kann. Andere Aufgaben konnten allerdings auch gut von den Kindern gelöst werden, die das Theaterstück (noch) nicht besucht hatten. Hier zeigte sich jedoch, dass die pädagogische Vorberei tung durch die Fachkräfte oder Gespräche mit den Erzie hungs berechtigten häufig bereits stattgefunden hatten. Dadurch konnten etwa Fragen nach möglichen Handlungsoptionen bei Grenzüberschreitungen auch von diesen Kindern valide beantwortet werden.
Über 75 % der Lehr- und Fachkräfte führten nach dem Theaterbesuch eine pädagogische Nachbereitung mit ihrer Klasse durch und stellten fest, dass sich diese positiv auf das Kommunikationsverhalten der Kinder auswirkte. Sie wur den in die Lage versetzt, mit ihren Rechten zu argumentieren, und stellten auch signifikant häufiger Fragen zum Thema sexueller Missbrauch im Klassenverband. Dass die Gesprächsimpulse seitens der Lehr- und Fachkräfte von den Schülerinnen und Schülern so rege aufgegriffen werden, unterstreicht das Interesse und die Bereitschaft der Kinder, sich auch im Schulsetting mit diesem sensiblen Thema auseinanderzusetzen, und eröffnet für die Fachkräfte die Möglichkeit, sich den Kindern als kompetente Gesprächs- und Vertrauenspersonen für diese Thematik anzubieten.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch die vorliegenden Ergebnisse bestätigen, dass sich die(se) Form des Theaterstücks zur Vermittlung von Präventionsbotschaften und Aufklärung über sexuellen Missbrauch für Kinder im Grundschulalter in besonderem Maße eignet (siehe hierzu auch Andresen/Gade/Grünewald 2014; Firnges/Amann 2016; Krahé/Knappert 2009).
Zentrale Ergebnisse zu den Informationsabenden für Erziehungs berechtigte und den Fortbildungen für Lehr- und Fachkräfte
Die Befragung der Erziehungsberechtigten und Lehr- und Fachkräfte nach dem Elterninfoabend und den Fortbildungen belegt eindeutig, dass sich diese nach dem Besuch der Veranstaltung bestärkt fühlen, mit Grenzverletzungen und sexuellen Missbrauchssituationen besser umgehen zu können. Diese positive Wirkung zeigt sich auch darin, dass die Erziehungsberechtigten und Lehr- und Fachkräfte die Veranstaltungen zum allergrößten Teil weiterempfehlen würden und auch die verwendeten Materialien genutzt und als sehr geeignet bewertet werden.
Die Erziehungsberechtigten waren mit der Durchführung und Umsetzung des Trau dich!-Informationsabends sehr zufrieden und betonten dies vor allem bei den Aspekten Verständlichkeit, Anschaulichkeit und dem Informationsgehalt. Diese positive Bewertung steht im Zusammenhang mit einer besseren Selbsteinschätzung des Wissenszuwachses durch den Informationsabend, d.h., die Erziehungsberechtigten wur den bezüglich der Themen Missbrauch und dessen Folgen sowie zu Kinderrechten sensibilisiert. So gab ein großer Teil der Erziehungsberechtigten an, dass sie nach dem Besuch des Informationsabends besser über das Thema sexueller Missbrauch sowie Kinderrechte Bescheid wussten und dadurch in die Lage versetzt wurden, eine eigene Haltung zu dem Thema zu entwickeln. Dass sie nun aufmerksamer seien und konkreter auf die Signale der Kinder achten und ggf. angemessen darauf reagieren könnten, gaben mehr als die Hälfte der Erziehungsberechtigten an. Zudem trauen sich 45,8 Prozent von ihnen nach der Veranstaltung eindeu tig und weitere 51,1 Prozent immerhin nun eher zu, mit ihren Kindern über sexuellen Missbrauch zu sprechen.
Die Trau dich!-Fortbildung wurde besonders positiv im Hinblick auf die Bereitstellung von Literatur, Informationen zu Zahlen und Fakten bewertet sowie der Klärung der Rolle als Lehrperson in Bezug auf Präventionsmaßnahmen. Kenntnisse zu rechtlichen Grundlagen, Tätergruppen und -strate gien, Risikofaktoren für Kinder, Häufigkeiten des Vorkommens sexualisierter Gewalt sowie deren Folgen konnten erweitert werden. Darüber hinaus konnten z.T. deutliche Effekte durch die Fortbildung hervorgerufen werden hinsichtlich der eigenen Gesprächssicherheit mit den Kindern und ihren Erziehungsberechtigten im Falle eines Hinweises auf sexuellen Missbrauch, der Bewertung der eigenen Sensibilität für die Signale der betroffenen Kinder und der Einschätzung der subjektiven Handlungssicherheit bei notwendigen Interventionen. Ein Wissenszuwachs bei den Lehr- und Fachkräften in Bezug auf die rechtlichen Schritte und Maßnahmen, die im konkreten Fall zu ergreifen sind, wurde u.a. auch darin ersichtlich, dass sie nach der Fortbildung vermehrt angaben, sich zunächst an eine spezialisierte Fachberatungsstelle vor Ort zu wenden und nicht zwingend die Polizei einzuschalten.
Obwohl die vorliegende Untersuchung ausweist, dass die Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs zu den wichtigsten Zusatzaufgaben in der Grundschule gezählt wird und in den teilnehmenden Bundesländern eine pädagogische Kultur zu erkennen ist, die Grenzverletzungen direkt an spricht, sind Arbeitskreise zur Prävention sexuellen Missbrauchs oder einheitliche Präventionskonzepte in den jeweiligen Schulen nach wie vor kaum vorhanden.
Fazit und Schlussfolgerungen: Trau dich! wirkt
Der im Rahmen der bundesweiten Initiative umgesetzte multiperspektivische Ansatz, bei dem neben den Kindern auch ihre erwachsenen Bezugspersonen einbezogen werden, trägt dazu bei, dass die Maßnahmen die erwünschten Effekte bewirken und sich gegenseitig positiv beeinflussen. Insbe sondere die spielerische Umsetzung der Themen und Geschichten im Trau dich!-Theaterstück und die inhaltliche Ausgestaltung der begleitenden Fortbildungen und Infor mationsabende haben sich sehr bewährt und sollten weiter hin in gleicher Qualität fortgeführt werden.
Da die Evaluation teilweise unterschiedliche Ergebnisse je nach Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund aufweist, sollte bei der Entwicklung zukünftiger Präventionsmaßnahmen geprüft werden, ob diese noch stärker altersdifferenziert sowie geschlechter- und kultursensibel gestaltet werden können.
Es wurde deutlich, dass die Erwachsenen für die Wichtigkeit der Prävention sexualisierter Gewalt sensibilisiert werden konnten und durch die gemeinsame Qualifizierung von Erziehungsberechtigten und Lehr- und Fachkräften zu präventivem Handeln befähigt werden, indem sie die Verantwortung für dieses Thema übernehmen und den Kindern als kompetente Ansprech- und Vertrauenspersonen zur Seite stehen.
Wie in anderen Studien deutlich ausgewiesen (Pulido et al. 2015; Topping/Barron 2009; Zwi et al. 2007), kann auch mit der vorliegenden Untersuchung die Wirksamkeit von schulischen Präventionsmaßnahmen bestätigt werden. Die Schule eignet sich in besonderer Weise als zentraler Ort, um alle Kinder und ihre engsten Bezugspersonen zu erreichen. So können auch einmalige Maßnahmen wie der Besuch des Trau dich!-Theaterstücks durch die tiefergehende pädagogische Vor- und Nachbereitung und parallele Qualifizierung der Erwachsenen als längerfristiges Thema im (Schul-)Alltag der Kinder gesetzt werden. Ziel ist es, eine dauerhafte Verankerung und flächendeckende Verstetigung von Präventionsangeboten im gesamten Bundesgebiet zu erreichen und diese mit qualitätsgesicherten Maßnahmen zu unterstützen. Hierzu setzt die Trau dich!-Initiative vielfältige und wertvolle Impulse.
Eine Publikation mit ausführlicheren Ergebnissen der Evaluation der bundesweiten Initiative Trau dich! zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs und weiteren Schlussfolgerungen wird voraussichtlich im Frühjahr 2019 über die BZgA erscheinen.
Literatur
Andresen, S./Gade J.D./Grünewalt, K. (2014): Prävention in der Grundschule. Wirkung, Wahrnehmung und Sichtweisen von Kindern und Erwachsenen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa
Damrow, M. K. (2010): Was macht Prävention erfolgreich? Zur Kritik klassischer Präventionsansätze und deren Überwindung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.): FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung 3/2010: »Sexueller Missbrauch«
Davis, M. K./Gidycz, C. A. (2000): Child Sexual Abuse Prevention Programs: A Meta-Analysis. Journal of Clinical Child Psychology, 29(2), 257–265. doi.org/10.1207/S15374424jccp2902_11
Firnges, C./Amann, S. (2016): Evaluation des Theaterstücks »Trau dich! Ein starkes Stück über Gefühle, Grenzen und Vertrauen« im Rahmen der bundesweiten Initiative zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 59(1), 57–65. doi.org/10.1007/s00103-015-2266-7 Kindler, H./Schmidt-Ndasi, D. (2011): Wirksamkeit von Maßnahmen zur Prävention und Intervention im Fall sexueller Gewalt gegen Kinder. Expertise im Rahmen des Projekts »Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen«. München: Deutsches Jugendinstitut e.V., nbn-resolving.de/urn:nbn:de:101:1-201201237551
Krahé, B./Knappert, L. (2009): A group-randomized evaluation of a theatre-based sexual abuse prevention programme for primary school children in Germany. Journal of Community & Applied Social Psychology, 19(4), 321–329, doi.org/10.1002/casp.1009
Poelchau, H.-W./Briken, P./Wazlawik, M./Bauer, U./Fegert, J. M./
Kavemann, B. (2015): Bonner Ethik-Erklärung. Empfehlungen für die Forschung zu sexueller Gewalt in pädagogischen Kontexten. Entwickelt im Rahmen der BMBF-Förderlinie »Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten, www.bmbf.de/files/Ethikerklaerung(1).pdf
Puhe, H./Libuda-Köster, A. (2016): Evaluation des Theaterstücks. Ausgewählte Ergebnisse der Befragung von Kindern, Eltern und Lehrkräften in Schleswig-Holstein und Sachsen. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Pulido, M. L./Dauber, S./Tully, B. A./Hamilton, P./Smith, M. J./Freeman, K. (2015): Knowledge Gains Following a Child Sexual Abuse Prevention Program Among Urban Students: A Cluster-Randomized Evaluation. American Journal of Public Health, e1–e7. doi.org/10.2105/ AJPH.2015.302594
Rispens, J./Aleman, A./Goudena, P. P. (1997): Prevention of child sexual abuse victimization: A meta-analysis of school programs. Child Abuse & Neglect, 21(10), 975–987, doi.org/10.1016/S0145-2134(97)00058-6
Topping, K. J./Barron, I. G. (2009): School-Based Child Sexual Abuse Prevention Programs: A Review of Effectiveness. Review of Educational Research, 79(1), 431–463, doi.org/10.3102/0034654308325582
Wurtele, S. K./Kenny, M. C. (2010): Partnering with parents to prevent childhood sexual abuse. Child Abuse Rev., 19: 130–152. doi:10.1002/car.1112
Zwi, K. J./Woolfenden, S. R./Wheeler, D. M./O’Brien, T. A./Tait, P./Williams, K. W. (2007): School-based education programmes for the prevention of child sexual abuse. Cochrane Database of Systematic Reviews (Online). Retrieved from www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17636754
Alle Linkangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Stefanie Paschke
Stefanie Paschke ist Dipl.-Heilpädagogin und wissenschaftliche Referentin im Bereich Nationale und Internationale Zusammenarbeit, Forschung und Fortbildung bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Dort arbeitet sie schwerpunktmäßig zu den Themen Sexualität und Behinderung sowie Prävention sexualisierter Gewalt.
Kontakt: stefanie.paschke(at)bzga.de
Frederik Knirsch
Frederik Knirsch ist Studienleiter beim SOKO Institut für Sozialforschung und Kommunikation in Bielefeld und war im Auftrag der BZgA federführend mit der Evaluation der Initiative Trau dich! betraut.
Kontakt: knirsch(at)soko-institut.de
Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
- Prävention sexualisierter Gewalt als Aufgabe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
- Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und betroffenensensible Prävention
- Erfahrungswissen in der Prävention von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend – Qualität lässt sich beschreiben
- Hinsehen, Handeln und Schützen mit Ben und Stella
- Jugendliche und ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt
- Sexuelle Gewalterfahrungen von Schülerinnen und Schülern und sexuelle Gewalt als Thema in der Schule
- Evaluation der bundesweiten Initiative Trau dich! zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
- Umgang mit sexuellem (grenzüberschreitendem) Verhalten von Kindern und Jugendlichen
- Die BKSF stellt sich vor
- Infothek - Ausgabe 02/2018