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FORUM 2–2020

Digitale Beratung in der Krise – Corona fördert Telefon- und Videointerventionen

Emily Engelhardt , Stephanie Jaschke , Joachim Wenzel , Informationen zu den Autorinnen/Autoren
Beratende und andere Fachkräfte erleben während der Corona-Pandemie eine nie da gewesene Herausforderung, da ihre eigene Lebenssituation und zugleich die Lebenswelt ihrer Klient*innen sich grundlegend geändert haben. In besonderen Krisenzeiten wie bei einem Lockdown, Kontaktbeschränkungen oder Isolation/Quarantäne kommen dabei neue und ungewohnte Stressoren hinzu, die auf Nähe-Distanz-Regulierung sowie Intimität einen großen Einfluss haben. Beratung am Telefon oder per Video kann als Kontaktbrücke dienen, Menschen auch in schwierigen Zeiten zu erreichen.

Neue offene Situationen als Stressoren

Menschen sind unterschiedlich in der Art und Weise, wie sie mit Neuem umgehen – ob sie Herausforderungen eher als Chance oder als Gefahr ansehen. Jeder Mensch benötigt aber ein Mindestmaß an Ordnung und Struktur, um sein Leben selbstwirksam und mit dem Gefühl von Handlungskontrolle gestalten zu können. In Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie fallen viele sonst Halt gebende Abläufe, Vorhersehbarkeiten, menschliche Kontakte und Rahmenbedingungen, die Sicherheit gegeben haben, weg. Viele Menschen, die mehr Zeit auf engem Raum miteinander verbringen, als sie das gewohnt sind, erleben die auferlegte Nähe als Herausforderung. So können die Phasen der privaten Isolation/Quarantäne familiäre Stresslevel erhöhen und häusliche Gewalt begünstigen (Fatke et al., 2020). Die Studie »Kindsein in Zeiten von Corona« von Langmeyer et al. (2020) zeigt die zunehmenden Herausforderungen durch die Pandemie für Familien und Kinder auf (vergleiche auch: Buschle & Meyer, 2020; Voigts, 2020, und aus internationaler Perspektive: OECD, 2020).

 

Beziehungen und Sexualität bei Kontaktbeschränkungen

In der Corona-Pandemie ist das körperliche Abstand halten (nicht die soziale Distanz) ein wichtiges Mittel, um sich und andere vor Ansteckung zu schützen. Berührungen sind für Menschen aber überlebenswichtig. Sie spenden Trost, geben Sicherheit, vermitteln Emotionen, stärken Bindung und schaffen Kommunikation ohne Worte. »Berührung ist der erste Sinn, den wir im Mutterleib entwickeln, und er ist häufig auch dann noch aktiv, wenn Augen und Ohren im Alter schon nachgelassen haben. Begrüßungs- und Abschiedsrituale und -konventionen sind häufig berührend und gerade in existenziellen und Krisensituationen wie Trauer und Schmerz wird Berührung verstärkt möglich und nötig.« (Wagener, 2000, S. 119).

Ein Ansatz beim Wegfall von Körperkontakt ist es, sich in dieser Zeit intensiver auf sich selbst zu fokussieren, den eigenen Körper bewusster zu entdecken. Die Nutzung von Sextoys, das Verabreden zu Onlinedatings oder das Ausleben von Sexting (mediale Kommunikation über Sexualität mittels Sprache und Bildern/Filmen) sind weitere Wege zur Kompensation, deren sich Klient*innen bedienen. In der Sexualität entwickeln sich dabei neue Möglichkeiten mittels Medien (Wenzel 2018), die in der öffentlichen Diskussion häufig nur unter dem Aspekt der Internetrisiken betrachtet werden, ohne dass die Potenziale benannt würden. So schreibt Vogelsang (2019) zu den Ergebnisse einer Studie: »Mittels sexualisierter Selbstdarstellung können Jugendliche beispielsweise ihre sexuellen Identitätsentwürfe erproben, Normen von Schönheit, Attraktivität, ›Sexyness‹, Weiblichkeit/ Männlichkeit testen und auf Tauglichkeit für das eigene Selbst überprüfen. Mit welchen Potenzialen Sexting im Rahmen der sexuellen Sozialisation und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter verbunden sein kann, wird jedoch häufig nicht betrachtet« (ebenda, S. 21).

Mediale Interaktionen können die Entbehrungen punktuell kompensieren und neue professionelle Hilfemöglichkeiten verfügbar machen, etwa in Form von Onlineberatung selbst bei intimsten Themen (Wenzel, 2013; Justen-Horsten & Paschen, 2016; Engelhardt, 2018).

Durch Kontaktbeschränkungen werden unter Umständen aber auch sexuelle Suchtphänomene (Scholz, 2014) verstärkt.

 

Kreative Entwicklungen und Ressourcen

In der Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 zeigte sich, wie Menschen kreativ mit den Beschränkungen umgegangen sind und »das Beste daraus gemacht haben«: Musik und gemeinsames Klatschen auf den Balkonen, Regenbogenbilder an Fenstern und vieles mehr. Familien erzählen begeistert, dass sie Vergangenes wieder aufgegriffen haben und etwa mit viel Spaß Gesellschaftsspiele spielten, auch wenn sie das jahrelang nicht mehr getan hatten. Es zeigt sich, dass in Krisenzeiten auch Chancen für ein neues Miteinander entstehen. Um den Blick auf Ressourcen zu lenken, können u. a. folgende Fragen am Telefon oder in einer Videositzung hilfreich sein:

  • Was ist denn in den vergangenen Tagen gut gelaufen?
  • Was habt ihr Neues erlebt?
  • Wovon möchtet ihr mehr machen?
  • Was möchtet ihr einfach mal ausprobieren?
  • Wodurch habt ihr Kraft getankt?

 

Beratung in der Krise

Es ist davon auszugehen, dass in einer übergreifenden Krisenzeit wie einer Pandemie, mehr Menschen in eine persönliche Krise geraten als üblich. Deshalb werden nachfolgend die zentralen Krisenaspekte (Caplan, 1964; Cullberg, 1978; Sonneck et al., 2016) in den Blick genommen. Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, Menschen in einem geschützten Rahmen die Möglichkeit zu geben, durch wertschätzenden, sichernden Kontakt ihre Resilienz, Autonomie und ihr Selbstwirksamkeitserleben zu stärken, Krisen als überwindbar anzusehen, Ruhe zu bewahren, Lösungswege zu suchen und möglicherweise weitere soziale Netzwerke oder Inhilfenahmen anzuregen. Krisenintervention bemüht sich dabei, ein System kurzfristig zu stabilisieren, dem das Zusammenbrechen droht.

Dabei sind nach Eink und Haltenhof (2006) in einer akuten Krise der schnelle Anfang und die zeitliche Begrenzung sowie umschriebene Inhalte, realistische Ziele und ein möglichst pragmatisches Vorgehen hilfreich. Sonneck et al. (2016) benennen dazu als mögliche Aspekte der Krisenintervention das Bella-Konzept:

  • Beziehung aufbauen
  • Erfassen der Situation
  • Linderung von Symptomen
  • Leute einbeziehen, die unterstützen
  • Ansatz zur Problembewältigung in konkreten Schritten.

Zu den Strategien der Krisenintervention zählen Eink und Haltenhof (2006) vor allem das Schützen, Entlasten
und Stützen. Als Basis wird der tragfähige Kontakt zu einer als hilfreich und vertrauenswürdig erlebten Bezugsperson benannt. Zur weiteren Vertiefung können die Leitlinien für ein Kriseninterventionserstgespräch bei Hofer-Moser et al. (2020) dienen.

 

Besonderheiten am Telefon

Die Telefonberatung unterscheidet sich von einem Face-to-Face-Setting vor allem durch den Wegfall der visuellen Kanäle. Diese Kanalreduktion darf allerdings nicht einfach als Nachteil verstanden werden. Schließlich ist es für manche Menschen sogar leichter, sich am Telefon mit emotionalen oder gar schambesetzten Themen (z. B. Sexualität, Gewalt, Trennungsideen) zu öffnen, selbst wenn sie ihr Gegenüber bereits kennen. Das gilt erst recht, wenn der*die Ratsuchende* anonym bleibt. Kühne und Hintenberger (2020) geben einen aktuellen Überblick, welche medialen Möglichkeiten in der Coronakrise hilfreich sein können. In Bezug auf die Rahmenbedingungen von Telefonberatung nennen sie:

»Rahmenbedingungen für die Praxis:

  • Sicherstellung einer ruhigen akustischen Umgebung.
  • Ein Headset erleichtert in der Regel Hören sowie Sprechen und ermöglicht eine größere Bewegungsfreiheit.
  • Miteinbezug Stimmlage, Artikulation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Sprachmelodie, Atmung, ...
  • Selbstfürsorgekompetenz, um sich in einer angemessenen Art und Weise abgrenzen zu können.« (Kühne & Hintenberger, 2020, S. 38)

 

Methodische Aspekte von Telefonberatung

Sötemann (2019) legt nahe, dass es in der Telefonberatung hilfreich ist, sich bewusst mit der eigenen Stimme zu befassen. So sind Tonlage und Klang der Stimme, aber auch Sprechgeschwindigkeit im Kontakt mit den Anrufenden zu entwickeln. Zu Beginn eines Telefonats ist es hilfreich, sich der Sprechweise des anderen anzupassen, um an den* die Ratsuchende*n anzuschließen. Gerade bei Menschen mit einem hohen Stresslevel kann es dann aber wichtig sein, gemeinsam weg von einer flachen, hin zu einer ruhigeren, tiefen Atmung zu gelangen.

In der Telefonberatung eignen sich besonders die systemischen Fragetechniken, da sie helfen zu differenzieren, neue Perspektiven zu entwickeln und einen Weg aus den eigenen Fantasien hin zu*r Klient*in und ihrer oder seiner Lebenswelt zu ermöglichen. Insbesondere der ressourcenorientierte Blick ist dabei am Telefon sehr hilfreich, wie Seidlitz und Theiss (2008) ausführen. Am Ende des Gesprächs kann es sinnvoll sein, gemeinsam zusammenzufassen und zu strukturieren, was genau die Themen und Inhalte des Telefonats waren, und einen Ausblick auf das weitere Vorgehen zu entwerfen.

 

Besonderheiten bei Video

Die Beratung per Video erscheint auf den ersten Blick sehr nahe am kopräsenten Gespräch: Zwei oder mehr Gesprächspartner*innen treffen sich zu einem vereinbarten Zeitpunkt zu einem Beratungstermin. Gleichwohl gibt es einige Unterschiede, die in der Kommunikation und Beratung mittels Video beachtet werden müssen.

 

Technische Aspekte

Zunächst gilt es, die technischen Besonderheiten zu beachten. Bei der Übermittlung eines Videogesprächs wird eine relativ große Bandbreite benötigt. Idealerweise sind die Endgeräte beider Gesprächspersonen per LAN-Kabel mit dem Internet verbunden. Andernfalls kann es zu Verbindungsabbrüchen oder zeitverzögerter Übermittlung von Bild und Ton kommen. So kann das Bild »einfrieren« und das Audio nicht lippensynchron übertragen werden. Beides kann irritieren und im Gesprächsverlauf stören. Um mit technischen Schwierigkeiten im Notfall umgehen zu können, sollte der*die Berater*in auf einem weiteren Kanal erreichbar sein, und der ratsuchenden Person eine kurze technische Anleitung zukommen lassen, damit z. B. sichergestellt ist, dass diese in der Lage ist, Mikrofon und Kamera zu aktivieren.

 

Vor- und Nachteile von Videokommunikation

Als mediale Form der Beratung wird Videoberatung immer wieder mit schriftbasierter Onlineberatung verglichen. So gilt es, auch diese Unterschiede abzuwägen, wenn man entscheidet, welche Kontaktbrücke man für die Beratungskommunikation wählen möchte. Die Beratung per Video hat verschiedene Vor- und Nachteile gegenüber Face-to-Face-Beratung oder Onlineberatung.

 

    »Mögliche Vorteile sind:

      Die Übermittlung nonverbaler Signale (Mimik, Gestik).

  • Die Möglichkeit Kontextinformationen, die sich im Aufnahmebereich der Kamera und des Mikrofons befinden, zu übertragen.
  • Die Schaffung sozialer Nähe durch Telepräsenz.
  • Das Wahrnehmen von Pausen in der Kommunikation.
  • Die Möglichkeit, Feedback schneller und unmittelbarer zu geben und ggf. Interpretationsfehler zu reduzieren.
  • Der geringere Zeitaufwand im Vergleich zum Schreiben längerer Textnachrichten [...].
  •  

   Als Nachteile können folgende Faktoren gelten:

  • Hohe technische Anforderungen (Bandbreite, Equipment, Bedienung).
  • Fehlende Möglichkeit des direkten Augenkontakts.
  • Gefahr zusätzlicher Irritationen dadurch, dass die Kameras meist auf oder unter dem Projektionsmedium stehen, was dazu führt, dass die Gesprächsteilnehmer aneinander vorbeischauen (müssen).
  • Kognitive Überforderung durch das ständige Fixieren
    des Bildschirms, das die Konzentration auf die eigentlichen Kommunikationsinhalte erschwert und zur Ermüdung führen kann.
  • Hoher Aufwand für kurzen Nachrichtenaustausch durch organisatorische und vorbereitende Maßnahmen.« (Engelhardt & Gerner 2017, S. 21 f.)

 

Methodische Aspekte von Videoberatung

Videoberatung ist keine Face-to-Face-Beratung, insofern gilt es, einige Besonderheiten im methodischen Arbeiten zu berücksichtigen. So sind beispielsweise Körpersignale des Gegenübers nur begrenzt wahrnehmbar und die Übertragung von leiseren akustischen Signalen kann im Gespräch verloren gehen. Der*die Berater*in muss in der Lage sein, genau hinzuhören sowie hinzusehen und selbst auch auf eine deutliche Aussprache zu achten. Die eigene Körperhaltung vor der Kamera und der Blick zur ratsuchenden Person hin spielen eine ebenso wichtige Rolle.

Ansonsten kann in diesem Setting grundsätzlich methodisch wie im klassischen Beratungsgespräch gearbeitet werden. Schwieriger wird es jedoch, zum Beispiel gemeinsam ein Familienbrett oder Ähnliches zu nutzen. Allerdings wäre es hier auch denkbar, mit Hilfe eines digitalen Whiteboards zu arbeiten oder entsprechende Spezialtools zu nutzen – es bleibt jedoch eine Beschränkung, da nicht gleichzeitig die Handlungen des*der Ratsuchenden und seine*ihre Mimik etc. beobachtet werden können.

 

Eignung von Videoberatung

In einer akuten Krisenzeit wie einem Lockdown oder bei Isolation/Quarantäne eignet sich Videoberatung besonders für das In-Kontakt-Bleiben mit bereits bekannten Klient*innen, deren technische Kompetenzen ggf. eingeschätzt werden können oder für die es eine weniger große Hürde darstellt, im Notfall auch telefonisch in Kontakt zu kommen.

 

Mitmenschlichkeit und Zuversicht fördern

In Zeiten großer Verunsicherung ist es besonders wichtig, mit anderen Menschen in Verbindung zu sein, auch
wenn diese Verbindung mit räumlichem Abstand erfolgen muss. Eine große Kraft, um möglichst heil aus einer Krise herauszukommen, entsteht, wenn Hoffnung und Zuversicht entwickelt werden. Lösungsorientierte Bilder der Zukunft zu entwerfen, die weiterhelfen, kann neue Energie mobilisieren, die es braucht, um eine Krisenzeit zu bewältigen und vielleicht sogar gestärkt aus ihr hervorzugehen.

Eine Langversion dieses Beitrags ist auf der DGSF-Homepage zu finden unter: www.dgsf.org/ueber-uns/gruppen/fachgruppen/online-beratung/krisenberatung-am-telefonund-per-video-in-zeiten-von-corona

Veröffentlichungsdatum

Emily Engelhardt, Pädagogin (M.A.), Systemische Beraterin & Supervisorin (SG), Onlineberaterin und Online-Supervisorin, Lehrende für Onlineberatung, Dozentin für Systemische Beratung. Seit 2012 Geschäftsführerin am Institut für E-Beratung der TH Nürnberg sowie freiberufliche Supervisorin und Trainerin für Systemische Beratung und Onlineberatung.

Kontakt: www.der-dreh.net

 

Stephanie Jaschke, Klinische Psychologin (M. Sc.), Ergotherapeutin, Systemische Familientherapeutin (DGSF), Systemische Traumatherapeutin, Supervisorin, langjährige Tätigkeit in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und in der Jugendhilfe, freiberuflich tätig als Supervisorin, Dozentin und Systemische Therapeutin. Institutsleiterin des Weiterbildungsbereichs Systemische Beratung/Therapie

am ifs Essen.

Kontakt:

www.ifs-essen.de

 

Joachim Wenzel, Dr. phil., Diplom-Pädagoge, Lehrender für Systemische Therapie/Familientherapie, Beratung, Coaching und Supervision (DGSF), lang jährig tätig im hauptamtlichen Leitungsteam und der Beratungsstelle der Telefonseelsorge Mainz-Wiesbaden. Institutsleiter des Weiterbildungsbereichs Systemische Beratung/Therapie am ifs Essen.

Kontakt: wenzel(at)spi-mainz.de

www.ifs-essen.de

 

Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
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