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FORUM 2–2020

Digitale Beratung: Europäische Telefondienste bieten zunehmend auch Beratung per Chat und E-Mail an

IFOTES (International Federation of Telephone Emergency Services) ist einer von zwei weltweit agierenden Dachverbänden für Telefonseelsorge. In der gültigen Fassung der »Ethikcharta« von IFOTES sind die internationalen Grundsätze der Telefonseelsorge, die auch für digitale Beratung gelten, festgehalten. Diana Rucli berichtet über technische Entwicklungen, geltende Normen, Nutzer*innen und die Motivation junger Menschen, sich ehrenamtlich als Berater*innen zu engagieren.

Einführung

Beratungstelefone zur Unterstützung in emotionalen Krisen gibt es in Europa seit mehr als 60 Jahren. Geschaffen wurden sie in den 1950er-Jahren zur Suizidprävention, doch schon in kurzer Zeit entwickelten sie sich zu der am leichtesten zugänglichen Möglichkeit, jemanden zu finden, der einem zuhört und dabei auf alle Arten von emotionalen Notfällen vorbereitet ist – und zwar genau dann, wenn es gerade am nötigsten ist. Beratungstelefone sind täglich rund um die Uhr erreichbar und garantieren den Anrufenden nicht nur Vertraulichkeit, sondern auch das Recht auf Anonymität. Das gibt ihnen die Möglichkeit, frei über jede Art von Problem zu sprechen, ohne Angst vor Verurteilung oder Stigmatisierung.

Im Laufe der Jahrzehnte erweiterten die nationalen Verbände europäischer Beratungstelefone ihre Dienste um
neue digitale Kanäle, zunächst um eine Beratung per E-Mail, dann auch per Chats und Kurznachrichten, entweder über eigene Plattformen und Apps oder über bereits bestehende wie beispielsweise WhatsApp.

Die vor 60 Jahren festgelegten Regeln gelten bis heute für alle Beratungsaktivitäten, auch für die später entwickelten. Gleichwohl haben einige Aspekte Wandel und Anpassung erlebt, je nach den Eigenschaften der verschiedenen Medien, Veränderungen bei den Kommunikationsmethoden und auch im Hinblick auf die intimsten und privatesten persönlichen Themen.

 

Wer nutzt die digitalen Beratungsangebote?

Im Laufe der letzten zehn bis 15 Jahre haben die Kontakte per Chat und E-Mail deutlich zugenommen. Während sich die Anfragen per E-Mail inzwischen stabilisiert haben, legen die Chatkontakte weiter kontinuierlich zu. Dies wird teilweise auf die Tatsache zurückgeführt, dass heutzutage viele Nutzer*innen junge Menschen sind, die sich mit Technik und neuen Kommunikationsarten bestens auskennen.

Der Chat ist das Kommunikationsmedium, das den bereitstellenden Diensten die stärksten Anpassungen abverlangt. Er ist nicht allein eine Alternative zu Telefonanrufen, wenn Menschen sich in einer Situation befinden, in der
sie nicht frei sprechen können. Vielmehr ist der Chat ein Medium, das von den Betroffenen bewusst gewählt wird, und zwar von Menschen, die sich ausdrücklich an einen Chatdienst wenden, weil sie diese Kommunikationsform bevorzugen: Sie wollen chatten.

Nach den von IFOTES erhobenen Daten sind Chatnutzer*innen überwiegend jung (50 % unter 30) und weiblich (etwa 75 %). Sie kontaktieren die Chatberatung vor allem aus folgenden Gründen: Beziehungsprobleme (Liebe, Familie, Freund*innen, Kolleg*innen) 25 Prozent; psychische Probleme, Sucht und psychische Störungen 19 Prozent; Einsamkeit 10 Prozent; Suizidgedanken 9 Prozent.

Während Menschen, die bei Beratungstelefonen anrufen, eher aus der Altersgruppe der Über-40-Jährigen stammen, ist der Chat ein wichtiges Kommunikationsmedium für junge Ratsuchende: von allen digitalen Formen passt der Chat am besten zu ihrer Art der Kommunikation.

Für die Beratungsdienste bedeutete dies die Anpassung einiger Managementmethoden sowie eine veränderte Auswahl und Ausbildung der Ehrenamtlichen, ohne dass sich jedoch etwas an den ethischen Prinzipien und Richtlinien geändert hätte, die ihre Arbeit stets inspiriert haben.

 

Gleiche Normen für digitale wie telefonische Beratung

Die von Anfang an in der internationalen Ethikcharta festgelegten Regeln sind bis heute die feste Bezugsgröße aller Beratungsangebote. Sie sichern die ständige Verfügbarkeit für alle Menschen, die in Kontakt treten wollen, und zwar ohne Ansehen von Alter, Geschlecht, Religion oder Nationalität. Und sie garantieren, dass alle Anrufer*innen das Recht haben, angehört und im Hinblick auf ihre Ansichten, Überzeugungen und persönlichen Entscheidungen respektiert zu werden. Das Zuhören geschieht dabei auf freundliche und offene Weise: Die goldene Regel für die Zuhörenden lautet, ihrem Gegenüber niemals irgendeine Verpflichtung aufzuerlegen. Der Inhalt des Gesprächs bleibt in höchstem Maße vertraulich, vor allem im Hinblick auf Informationen über das Privatleben.

Während eines Telefongesprächs sollte die zuhörende Person streng anonym bleiben, und auch die anrufende Person hat ein Recht auf Anonymität. Bei der E-Mail- und Chatberatung wird dies durch den Einsatz technischer Systeme, Server und Apps sichergestellt, die an Mail-Absender*innen und Chatter*innen Spitznamen vergeben.

Für die anrufende Person ist das Angebot vollständig kostenlos, und auch für den Zugang zu dem Beratungsdienst wird keine Zahlung fällig. Die Zuhörenden arbeiten ehrenamtlich und werden sorgfältig ausgewählt, ausgebildet und per Supervision betreut, sodass sie ihre Fähigkeiten beim Zuhören kontinuierlich verbessern können.

Diese allgemeinen Regeln gelten für alle Medien und Kanäle, auf denen die Beratung angeboten wird; im Mittelpunkt steht immer die hilfesuchende Person mit ihren Anliegen, ihren Gefühlen und Werten. Dank der Gegenwart eines freundlichen und respektvollen Zuhörenden behält sie stets die Fähigkeit, auch in schwierigen Zeiten über ihren eigenen Weg selbst zu entscheiden.

 

Besonderheiten der digitalen Beratung

Beratungsdienste sind ständig bemüht, die digitale Beratung noch besser verfügbar zu machen, auch wenn die Suche
und Ausbildung von Ehrenamtlichen für diese Art von Arbeit nicht immer ganz leicht und zudem zeitaufwendig ist.

Letzteres ist auch der Grund dafür, warum der Chatdienst noch nicht rund um die Uhr, sondern nur an Nachmittagen und Abenden erreichbar ist, also immerhin dann, wenn er am stärksten nachgefragt wird. In der Regel gibt es für die

Chatberatung darüber hinaus auch ein zeitliches Limit: Man möchte in der Lage sein, auf die Bedarfe und emotionalen Notfälle der Anrufer*innen fokussiert zu bleiben, und verhindern, dass das Chatten für manche zu einer Art Zeitvertreib wird, zum Nachteil anderer Ratsuchender.

Während die Beantwortung von E-Mails keine Präsenz in Echtzeit erfordert und deshalb leichter gehandhabt werden kann (in der Regel erfolgt die Antwort innerhalb von 24 Stunden), erfordert das Chat-Angebot – ebenso wie die Telefonberatung – persönliche Anwesenheit, auch wenn es nicht an einen festen Platz gebunden ist. Darüber hinaus ist das Chatten oft mit einem gewissen Grad an Enthemmung in der Kommunikation verbunden – damit muss man umgehen können, um die Effektivität des Dialogs zu wahren.

Infolgedessen werden – zusätzlich zu den Kompetenzen beim Zuhören, die für die Telefonberatung unabdingbar sind – auf Seiten der Ehrenamtlichen ganz spezifische Fähigkeiten benötigt. Wer zum Beispiel per Chat »zuhört«, muss eine zu dieser Art von Kommunikation passende Denkweise mitbringen, gut mit einem Computer umgehen können, sicher und schnell schreiben können, den Stil eines Chats verstehen und die besondere Sprache dieses Mediums beherrschen. Dazu gehört auch, zwischen den Zeilen zu lesen und darauf zu achten, was und wie es geschrieben wird, kurze Antworten zu geben, sich direkt ausdrücken zu können und so weiter.

Kurz gesagt: Ehrenamtliche, die per Chat beraten, müssen mit dieser Art der Kommunikation vertraut sein, was in den meisten Fällen heißt, dass sie zur gleichen Altersgruppe gehören wie die Menschen, die diese Angebote in Anspruch nehmen. Für die Dienste bedeutet dies, dass sie junge Menschen als Ehrenamtliche suchen und gewinnen müssen. Diese bekommen eine entsprechende Ausbildung und sorgfältige Supervision, sorgen so für ein Update bei den Angeboten und garantieren deren Kontinuität auf der Basis der grundlegenden ethischen Regeln und Prinzipien, die bis heute Gültigkeit besitzen.

Die Fähigkeit zum Zuhören bei jungen Menschen stärken und neue Ehrenamtliche für die digitalen Angebote gewinnen

In den zurückliegenden Jahren haben sich die Kampagnen mit dem Ziel, junge Menschen für die ehrenamtliche Beratungsarbeit zu gewinnen, vervielfacht. Im Rahmen des YOUThES-Projekts (2016 bis 2018) koordinierte IFOTES die Erforschung der Motive junger Menschen für die Mitarbeit bei einem Beratungsdienst (siehe Abb. 1) und einen Vergleich der besten Strategien bei der Gewinnung junger Ehrenamtlicher für die wichtigsten nationalen Angebote in Europa. Das vom europäischen Erasmus+-Programm finanzierte Projekt ermittelte viele interessante Informationen über die Ausbildung junger Menschen im Hinblick auf ihre sozialen Kompetenzen sowie ihr Engagement für die Beratungsangebote.

Die stärkste Motivation junger Erwachsener für ihren ehrenamtlichen Einsatz ist das Gefühl und die Erfahrung, anderen Menschen helfen zu können. 96 Prozent derjenigen, die an der Umfrage des YOUThES-Projekts teilnahmen, nannten diesen Aspekt als »sehr wichtigen« oder »wichtigen« Grund für ihre Mitarbeit bei den TES (Telephone Emergency Services): »Das Gefühl, dass ich anderen helfe, dass die Ausbildung mich zu einem guten Zuhörer macht und meine ehrenamtliche Arbeit mir Lebenserfahrung gibt und mich auch persönlich weiterbringt.«

Dies zeigt: Junge Menschen suchen nicht nur einen Vorteil für sich selbst. Sie wollen auch etwas geben und in der Welt etwas bewegen.

Die Ausbildung stärkt ihre Kompetenzen beim Zuhören und bereitet sie gleichzeitig auf ihr berufliches, gesellschaftliches und persönliches Leben vor. Die Ausbildung wappnet sie auch für einen besseren Umgang mit Krisen und die Bewältigung schwieriger Situationen. Sie werden bewusster und aufmerksamer in Bezug auf die Belange anderer. Sie entwickeln sich zu engagierten Mitgliedern der Gesellschaft, was wiederum auf ihr privates und berufliches Umfeld zurückstrahlt. Sie tragen die Vorstellung weiter, dass Reden etwas bewirken kann und dass es hilft, wenn einem jemand zuhört. Sie lindern Einsamkeit und verbessern das Leben von vielen Menschen in Krisen.

Dennoch ist es für die Ehrenamtlichen nicht immer einfach zu erkennen, ob sie wirklich helfen konnten. Die Menschen am Telefon und im Chat bleiben letztlich anonym; die Gespräche finden ausschließlich im »Hier und Jetzt« statt, ohne dass sich sagen ließe, was nach einem Anruf oder einem Chat geschieht. Daher ist es wichtig, Feedback auf andere Weise einzuholen, zum Beispiel im Gruppengespräch mit anderen Ehrenamtlichen.

Auch die Qualität der Ausbildung macht die Mitarbeit für junge Menschen attraktiv. Sie können sich selbst ausprobieren, ihre Kompetenzen beim Reden und Zuhören ausbauen. Ausbildung und Beratungstätigkeit vermitteln ihnen wichtige Team- und Gruppenerfahrungen. Alle, die soziale Berufe anstreben oder ausüben, können dies als praktische Fallarbeit geltend machen, und die dabei gewonnenen Kompetenzen bleiben ihnen auch dann erhalten, wenn sie die Beratungsdienste wieder verlassen.

Gut ausgebildete Zuhörer*innen sind sowohl für die Beratungsdienste als auch für die Gemeinschaft ein großer Zugewinn. Ausbildung und Arbeit für die ehrenamtliche Beratung tragen stark dazu bei, die Kompetenzen beim Zuhören und Reden weiterzuentwickeln. Sie stärken Empathie, Offenheit und Respekt für andere und fördern Unvoreingenommenheit, Engagement, eine Kultur der Zuwendung, gemeinschaftliche Werte, ein Gefühl der Solidarität, Verantwortung und ein Interesse an sozialen Netzwerken.

Indem sie junge Erwachsenen im Zuhören schulen, bereichern Beratungsdienste die Gesellschaft als Ganzes.

 

Schlussfolgerung

Mit neuen jungen Ehrenamtlichen können Beratungsdienste ihre digitalen Angebote an gleichaltrige Hilfesuchende ausweiten und bereichern.

Jede Zeit entwickelt ihre eigenen Kommunikationsmethoden. Beratungsdienste, die von Anfang an auf moderne Technik wie das Telefon gesetzt haben, müssen ihre Angebote auch weiterhin anpassen und weiterentwickeln.

Das Ziel bleibt unverändert: Jedem Menschen in Not unmittelbare emotionale Unterstützung zukommen zu lassen, eine Kultur des Zuhörens zu fördern, den Zugang zu Kursen zur Schulung kommunikativer und sozialer Kompetenzen zu verbessern sowie Erfahrungen von Solidarität und gegenseitiger Hilfeleistung zu ermöglichen, besonders für die neuen Generationen.

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt.

Veröffentlichungsdatum

Diana Rucli, Direktorin von IFOTES (International Federation of Telephone Emergency Services) und Präsidentin von ARTESS (Association for Research and Training on Emotional Support Skills). Sie ist außerdem Trainerin für Soziale Kompetenzen und Selbstentwicklung sowie Projektleiterin bei verschiedenen europäischen Projekten für soziale Entwicklung.

Kontakt: d.rucli(at)ifotes.org

 

Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
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