Die EMSA-Studie – Erstes Mal, Menstruation und Schwangerschaftsabbruch in Sozialen Medien
Die sommersprossige Lisa ist 17 Jahre alt, spielt begeistert Volleyball, liebt ihren Hund Lexi und macht nächstes Jahr Abitur. Seit einem halben Jahr hat sie einen Freund. Ihre Eltern kennen und mögen ihn. Manchmal darf er auch über Nacht bleiben und mit ihr zusammen im Hochbett schlafen. Beide sind sehr verliebt und haben sogar schon einmal über Verlobung gesprochen. Ihr Erstes Mal hatten sie, als sie genau zwei Monate zusammen waren, am Tag des Monatsjubiläums.
Hinsichtlich ihrer romantischen und sexuellen Erfahrungen entspricht Lisa dem Durchschnitt der Jugendlichen in Deutschland: 17 Jahre ist das typische Alter für den Einstieg in ein aktives Liebes- und Sexualleben (Scharmanski & Hessling, 2021d). Was ihre sonstigen Startbedingungen ins Leben betrifft, geht es Lisa überdurchschnittlich gut: Deutsch ist ihre Muttersprache, sie kommt im Gymnasium problemlos mit, ist gesund und sportlich, hat ein entspanntes Verhältnis zu ihren Eltern, gute Freundinnen und einen netten Freund. Im Elternhaus wurde Lisa auch über Verhütung gut aufgeklärt; das können nicht alle Mädchen in Deutschland von sich behaupten (Scharmanski & Hessling, 2021c).
Für Lisa ist es ein Schock, als eines Tages ihre Menstruation ausbleibt und sie befürchtet, ungeplant schwanger zu sein. Sie hatten doch immer Kondome benutzt. Ihren Eltern will sie lieber erst mal nichts davon sagen. Lisa kramt in ihrem Gedächtnis, aber im Schulunterricht hat sie über die Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruchs definitiv nichts Konkretes gehört, daran würde sie sich erinnern. Tatsächlich berichten nur gut ein Drittel der 14- bis 17-jährigen Mädchen, im Sexualkundeunterricht über den Schwangerschaftsabbruch aufgeklärt worden zu sein (Scharmanski & Hessling, 2021b). Unter Lisas Freundinnen war der Abbruch bislang auch nie Thema. Also tut sie mit klopfendem Herzen das, was sie sowieso jeden Tag mehrfach tut: Sie googelt, schaut YouTube-Videos, Instagram-Posts und TikToks.
Auf welche Informationen rund um ausbleibende Menstruation und Schwangerschaftsabbruch stößt sie dort? Und welchen Reim macht sie sich auf diese Online-Informationen? Berichten möglicherweise einige der Influencer*innen1, denen Lisa folgt, etwas Hilfsreiches (siehe Abbildung 1)?
Bisheriger Forschungsstand
Die bisherige Forschung kann uns keine Antworten auf diese Fragen geben. Denn Online-Informationen über Schwangerschaftsabbruch, Menstruation und Erstes Mal wurden im deutschsprachigen Raum bislang noch nie systematisch wissenschaftlich untersucht. Es liegen nur vereinzelte inhaltsanalytische Studien aus dem englischsprachigen Raum vor, die erfassen, wie exemplarische Themen aus dem Feld der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte auf ausgewählten Social-Media-Plattformen dargestellt sind (Döring & Conde, 2021). Ebenso existieren im englischsprachigen Raum einige Befragungsstudien, die erkunden, wie unterschiedliche Gruppen von jungen Menschen im Internet Antworten auf ihre Fragen zu Fortpflanzung und Sexualität suchen und finden. Auf Deutschland übertragbar sind diese Befunde aber kaum.
Aktuelles Forschungsvorhaben »EMSA«
Das hier vorgestellte Forschungsprojekt »EMSA« (Erstes Mal, Menstruation und Schwangerschaftsabbruch in Sozialen Medien) soll die benannten Forschungslücken schließen. Das Vorhaben wird von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gefördert und basiert auf einschlägigen eigenen Vorarbeiten zur Online-Sexualaufklärung (Döring, 2017a, 2017b, Döring & Conde, 2021). Zu diesen Vorarbeiten gehört auch eine von der BZgA geförderte Studie zur Darstellung von Verhütungsmethoden in Sozialen Medien. Im Rahmen jener Studie wurden Verhütungsinformationen auf verschiedenen Plattformen (Wikipedia, YouTube, Instagram, TikTok) hinsichtlich ihrer Qualität kommunikationswissenschaftlich untersucht. Zudem wurden die Reaktionen des Publikums anhand der Kommentarspalten sowie auf der Basis von Interviews erfasst (Döring et al., 2021, 2023; Döring & Lehmann, 2022). Der Ansatz, mehrere Social-Media-Plattformen vergleichend mit unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden zu analysieren, hat sich beim Verhütungsthema sehr bewährt und wird daher auf die drei »EMSA«-Themen übertragen.
Untersucht werden sollen im Rahmen der »EMSA«-Studie somit reichweitenstarke YouTube- und TikTok-Videos sowie Instagram-Posts samt den zugehörigen Top-Kommentaren des Publikums. Bei den Top-Kommentaren handelt es sich um diejenigen öffentlichen Publikumskommentare, welche die meisten Likes erhalten haben. Zudem werden Interviews mit jungen Social-Media-Nutzer*innen geführt, um zu erkunden, wie Social-Media-Beiträge zu den »EMSA«-Themen wahrgenommen und hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit eingeschätzt werden.
Erwarteter Erkenntnisgewinn
Die Ergebnisse der »EMSA«-Studie werden zunächst eine wissenschaftliche Forschungslücke schließen. So weiß man aus bevölkerungsrepräsentativen Umfragen bereits, dass jedes fünfte Mädchen in Deutschland wichtige Informationen über Sexualität von Influencer*innen bezieht (Scharmanski & Hessling, 2021a). Die »EMSA«-Studie wird dazu beispielsweise konkretisieren, ob und wie Mädchen von Influencer*innen über Menstruation, Erstes Mal und Schwangerschaftsabbruch aufgeklärt werden. Darüber hinaus werden die Befunde für die Fachpraxis nützlich sein. Denn bei identifizierten Qualitätsmängeln in den Online-Informationen über die »EMSA«-Themen kann diese in zweierlei Hinsicht gegensteuern:
- Die Fachpraxis kann junge Menschen in ihrer Online-Gesundheitskompetenz fördern, damit diese Informationen über sexuelle und reproduktive Gesundheit in Sozialen Medien selektiv nutzen und kritisch einordnen können.
- Zudem ist die Fachpraxis selbst gefragt, evidenzbasierte Informationen verstärkt über Soziale Medien auszuspielen, insbesondere zu jenen Aspekten der »EMSA«-Themen, über die gemäß den dann vorliegenden Studienergebnissen besonders viele fehlerhafte, einseitige oder unvollständige Informationen kursieren.
Von daher liegt besonderes Augenmerk der Studie darauf, die Befunde nicht nur in wissenschaftlichen Fachjournalen (z. B. Bundesgesundheitsblatt; Zeitschrift für Sexualforschung), sondern auch in praxisorientierten Magazinen der Sexual- und Medienpädagogik zu verbreiten (z. B. FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung; pro familia magazin; merz – zeitschrift für medienpädagogik).
Nicht zuletzt ist hervorzuheben, dass das »EMSA«-Projekt Synergien bildet zu weiteren Projekten im Feld der sexuellen und reproduktiven Gesundheitsversorgung. Dazu gehört vor allem die vom Bundesgesundheitsministerium geförderte und aktuell noch laufende »ELSA«-Studie (Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung). Im Rahmen von »ELSA« wird unter anderem eine Analyse der Darstellung des Schwangerschaftsabbruchs auf Webseiten von Beratungsstellen und Ärzt*innen vorgenommen. Seit der Aufhebung des §219a StGB im Jahr 2022 ist es jetzt zumindest theoretisch möglich, dass Lisa bei ihrer Suche nach Online-Informationen zum Schwangerschaftsabbruch auch auf Webseiten von Gynäkolog*innen Antworten auf ihre Fragen findet. Denn diese dürfen nun informieren, ohne dass dies als »Werbung für Abtreibungen« gilt. Ob und wie Gynäkolog*innen den Schwangerschaftsabbruch auf ihren Webseiten thematisieren (Teilstudie im »ELSA«-Projekt), ist momentan noch ebenso unklar wie dessen Thematisierung durch Influencer*innen, Journalist*innen oder Privatpersonen auf Sozialen Medien (Teilstudie im »EMSA«-Projekt).
Fußnote
1Auf Wunsch der Autorin wird in diesem Beitrag der Gender-Stern verwendet.
Literatur
Döring, N. (2017a). Online-Sexualaufklärung auf YouTube: Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen für die Sexualpädagogik. Zeitschrift für Sexualforschung, 30(4), 349–367. doi: 10.1055/s-0043-121973
Döring, N. (2017b). Sexualaufklärung im Internet: Von Dr. Sommer zu Dr. Google. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 60(9), 1016–1026. doi: 10.1007/s00103-017-2591-0
Döring, N. & Conde, M. (2021). Sexuelle Gesundheitsinformationen in Sozialen Medien: Ein systematisches Scoping Review. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz. doi: 10.1007/s00103-021-03431-9
Döring, N., & Lehmann, S. (2023). Nutzung und Bewertung von Verhütungsinformationen in Sozialen Medien: Eine Interviewstudie mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Zeitschrift für Sexualforschung, 36(2), 66–75. doi: 10.1055/a-2055-3160
Döring, N., Lehmann, S., & Schumann-Doermer, C. (2022). Verhütung in der deutschsprachigen Wikipedia: Eine Inhalts- und Qualitätsanalyse. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 65(6), 706-717. doi: 10.1007/s00103-022-03537-8
Döring, N., Lehmann, S., & Schumann-Doermer, C. (2023). Verhütung auf YouTube, Instagram und TikTok: Eine Inhalts- und Qualitätsanalyse. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz. Online first. doi: 10.1007/s00103-023-03698-0
Scharmanski, S., & Hessling, A. (2021a). Medien der Sexualaufklärung. Jugendsexualität 9. Welle. BZgA-Faktenblatt. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). doi: 10.17623/BZgA_SRH:fb_JUS9_Medien
Scharmanski, S., & Hessling, A. (2021b). Sexualaufklärung in der Schule. Jugendsexualität 9. Welle. BZgA-Faktenblatt. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). doi: 10.17623/BZgA_SRH:fb_JUS9_Schule
Scharmanski, S., & Hessling, A. (2021c). Sexualaufklärung und Verhütungsberatung im Elternhaus. Jugendsexualität 9. Welle. BZgA-Faktenblatt. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). doi: 10.17623/BZgA_SRH:fb_JUS9_Eltern
Scharmanski, S., & Hessling, A. (2021d). Sexual- und Verhütungsverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Aktuelle Ergebnisse der Repräsentativbefragung Jugendsexualität Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 64(11), 1372–1381. doi: 10.1007/s00103-021-03426-6
Alle Links und Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Zitation
Döring, N. (2023). Die »EMSA«-Studie – Erstes Mal, Menstruation und Schwangerschaftsabbruch in Sozialen Medien, FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1, 93–96.
Veröffentlichungsdatum
Prof. Dr. Nicola Döring ist Professorin für Medienpsychologie und Medienkonzeption am Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft der TU Ilmenau.
Kontakt: Nicola.Doering(at)tu-ilmenau.de
Alle Links und Autorenangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.
Herausgebende Institution
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Artikel der Gesamtausgabe
- Geschlechterrollen, Hausarbeit, Paarkonflikte. Ein erster Blick in „FReDA – das familiendemografische Panel"
- Die Sicht der Eltern auf die Sexualaufklärung ihrer Kinder
- Ungewollte Schwangerschaften im Lebenslauf – Ergebnisse der Studie „frauen leben 3“
- Reproduktionspolitik im Ländervergleich: Eine neue internationale Datenbank
- Pioneering Change: ANSER's Impact Linking Research and Policy on Sexual and Reproductive Health
- Online-Videos zum Schwangerschaftsabbruch: Anbieter, Botschaften und Publikumsreaktionen
- KisS: Ein Programm zur Vermeidung sexueller Aggression bei jungen Erwachsenen
- Sexualisierte Gewalt in der Jugendphase − ein Vergleich dreier repräsentativer Studien
- „Wie geht’s euch?“ Psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden von LSBTIQ*
- Erfahrungen mit §219-Beratung per Telefon oder Video. Sichtweisen von Klientinnen
- Relevanz der sexuellen Rechte in der familiären und schulischen Sexualaufklärung der Schweiz
- Schulische Sexualerziehung aus Adressat*innenperspektive
- Erschwerter Zugang zu Verhütung in den Asylzentren: Perspektiven von geflüchteten Frauen in der Schweiz
- Die EMSA-Studie – Erstes Mal, Menstruation und Schwangerschaftsabbruch in Sozialen Medien
- Sexualaufklärung in der Grundschule. Eine Lehrkräftebefragung im Mixed Methods-Design
- Das EU-Projekt »PERCH«: Gemeinsam gegen HPV-bedingten Krebs
- Erasmus+ Projekt: Sexualaufklärung für Jugendliche und junge Erwachsene mit Fluchthintergrund
- »Safe Clubs« − Ein Transferprojekt zur Prävention sexualisierter Gewalt im Sport
- Unheilbar queer? Konversionsbehandlungen in Deutschland erforschen – eine Annäherung
- Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag (LeSuBiA)
- Infothek