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FORUM 2–2018

Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und betroffenensensible Prävention

Ein Interview1 mit Sabine Andresen über die Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und die Frage, wie die Perspektive Betroffener in die Präventionsarbeit einfließen kann.
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Ein Interview1 mit Sabine Andresen über die Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und die Frage, wie die Perspektive Betroffener in die Präventionsarbeit einfließen kann.

1. Frau Professorin Andresen, seit wann ist die Aufarbeitungs kommission tätig und was sind ihre Ziele?

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wurde im Januar 2016 berufen und nahm zeitgleich ihre Arbeit auf. Sie setzt sich aus sechs ehrenamtlichen Mitgliedern zusammen – Expertinnen und Experten aus den Bereichen Wissenschaft, Justiz und Politik.

Die Kommission hat den Auftrag erhalten, sämtliche Formen von sexuellem Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zu untersuchen. Sie ist die erste Kommission weltweit, die nicht nur Institutionen in den Blick nimmt, sondern auch die Familie. Weitere Schwerpunkte sind sexueller Kindesmissbrauch im Rahmen von organisierter sexueller Ausbeutung sowie Missbrauch von Kindern und Jugendlichen mit Beein trächtigung und Behinderung. Die Kommission will Strukturen aufdecken, die sexuelle Gewalt in der Kindheit und Jugend ermöglicht haben, herausfinden, warum Aufarbeitung in der Vergangenheit verhindert wurde, und eine öffentliche Debatte für einen besseren Kinderschutz anstoßen.

 

2. Was sind die Grundlagen ihrer Arbeit und welche Erfahrungen wurden bisher gesammelt?

Die Kommission ermöglicht Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend sexueller Gewalt ausgesetzt waren, außerhalb von Gerichtssälen und Therapieräumen über das erlittene Leid und Unrecht zu sprechen, auch wenn dieses bereits verjährt ist.

Im Zentrum unserer Arbeit stehen Gespräche mit Betroffenen. Diese finden zum Beispiel als vertrauliche Anhörungen statt. Das sind bis zu zweistündige Gespräche, die die Kommissionsmitglieder oder die Anhörungsbeauftragten deutschlandweit und dezentral in einer geschützten Umgebung und mit psychosozialer Begleitung durchführen. Rund 1500 Menschen haben sich bisher bei uns für eine vertrauliche Anhörung angemeldet.

Aber nicht alle Betroffenen wollen oder können über das Geschehene sprechen. Für diejenigen gibt es auch die Möglichkeit, ihre Erfahrungen aufzuschreiben und uns zu schicken. Die Kommission führt außerdem Werkstatt gespräche zu ausgewählten Themen durch. Auch daran sind Betroffene beteiligt. Und sie veranstaltet öffentliche Hearings zu Schwerpunktthemen wie Familie, DDR oder Kirchen. An diesen Hearings nehmen viele Interessierte, oft mehr als 200 Menschen, teil. Wir wissen aus den Rückmeldungen von vielen Betroffenen, dass sie durch die Anhörungen eine für sie wichtige Anerkennung erfahren, die ihnen seitens der Gesellschaft bisher versagt blieb.

Aus unserer Sicht ist ohne das Wissen der Betroffenen keine Aufarbeitung möglich – und ohne Aufarbeitung bleibt Prävention ein leeres Versprechen. Nur wenn wir wissen, was geschehen ist, können wir Kinder und Jugendliche besser schützen.

 

3. Welche Erwartungen haben Betroffene an die Aufarbeitungskommission?

Betroffene haben zuallererst die Erwartung, dass wir ihnen zuhören und glauben. Denn viele Betroffene mussten in ihrer Kindheit die Erfahrung machen, dass ihnen nicht geglaubt und infolgedessen nicht geholfen wurde.

Von der Arbeit der Kommission erwarten Betroffene auch, dass sie das Ausmaß, die Art und die Folgen von Missbrauch aufzeigt und damit zu einer Enttabuisierung beiträgt. Eine wichtige Motivation, mit der Kommission zu sprechen, ist zudem die Hoffnung, mit der eigenen Geschichte dazu beitragen zu können, dass Kindern heute erspart bleibt, was sie erleiden mussten.

 

4. Was sollte die Prävention sexualisierter Gewalt aus der Perspektive Betroffener leisten?

Prävention sollte verbunden sein mit einer klaren Haltung, und diese muss auch gelebt werden. Wenn es in einer Institution, beispielsweise in einer Schule oder in einem Sportverein, aber auch in der Familie, keine vertrauens volle und offene Gesprächskultur gibt, entstehen immer wieder Räume des Schweigens und Verschweigens, in denen Missbrauch ermöglicht und geduldet wird.

Und wenn es darum geht, ein Schutzkonzept einzuführen, kann dieses nur ausreichend wirksam sein, wenn man den Blick in die Vergangenheit nicht scheut, Verantwortung für das übernimmt, was möglicherweise geschehen ist, und bestehende Strukturen und Bedingungen hinterfragt.

 

5. Welche strukturellen Bedingungen sollten aus Sicht der Kommission gegeben sein, um betroffenensensible Prävention möglich zu machen?

Zuallererst braucht es Erwachsene, die Kindern und Jugendlichen zuhören, glauben und handeln. Aber um im Verdachtsfall wirksam handeln zu können, braucht es auch das nötige Wissen überall dort, wo Kinder sind. Schulen zum Beispiel sind wichtige Anlaufstellen. Aber in nur wenigen Schulen werden systematische Präventionsprogramme umgesetzt. Nur bei richtiger Aufklärung verstehen betroffene Kinder: Wenn ich mich der Lehrerin anvertraue, dann weiß sie, was zu tun ist, und kann mir helfen. Ein solches betroffenensensibles Verhalten wird ermöglicht durch Vernetzung, Kompe tenzbündelung und eine verantwortungsvolle Haltung – an Schulen, in Gerichten, beim Jugendamt.

 

6. Können durch eine engere Verzahnung von Prävention und Aufarbeitung Synergien erzeugt werden?

Das steht außer Zweifel. Ich erwähnte bereits, dass das Wissen um die Bedingungen und Strukturen, die Missbrauch begünstigt oder ermöglicht haben, von großer Bedeutung ist, wenn Präventionsmaßnahmen wie z.B. Schutzkonzepte eingerichtet werden sollen. Erst wenn wir diese kennen, können Präventionsmaßnahmen passgenau eingesetzt und wirksam werden. Die Kommission wird in 2019 Leitlinien für eine gelingende Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch entwickeln. Diese sollen auch die Basis für eine gelingende Prävention bilden.

 

7. Wo liegt aus Sicht der Kommission der größte Bedarf an Forschung zu betroffenensensibler Prävention?

Es gibt noch viele Forschungslücken. Wir wissen noch zu wenig darüber, was Kinder und Jugendliche brauchen, um zu verstehen, was mit ihnen passiert, und um darüber sprechen zu können. Wie können Kinder eine Sprache dafür finden, was mit ihnen passiert? Was würde ihnen helfen, was können erwachsene Bezugspersonen tun, um sie zum Reden zu ermutigen, und wie können sich Kin der und Jugendliche gegenseitig stärken? Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden im Sinne des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt.

Fussnoten
1 Im Anschluss an das Interview veröffentlichen wir ein zweiseitiges Faktenblatt der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs im Original.

Abb. Faktenblatt 1&2

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Veröffentlichungsdatum

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Prof.in Dr.in Sabine Andresen

Prof.in Dr.in Sabine Andresen ist Erziehungs wissenschaftlerin mit Schwerpunkt Kindheits- und Jugendforschung und Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie lehrt an der Universität Frankfurt/Main.

Kontakt: S.Andresen(at)em.uni-frankfurt.de

 

Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

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