Im März 2020 traten Infektionsschutz- und Hygienevorschriften in Kraft, Bund und Länder einigten sich auf Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, Schließungen von Geschäften, Kitas und Schulen. Auch Unterstützungsangebote, wie Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend, mussten ihre Angebote einstellen bzw. neue Wege finden, um ihre Zielgruppen und insbesondere auch die Betroffenen sexualisierter Gewalt weiterhin zu erreichen.
Fachleute äußerten schon früh die Befürchtung, dass Kinder im Lockdown verstärkt von Gewalt betroffen sein könnten. Lehrkräfte, Schulpsychologie, Schulsozialarbeit, Erzieherinnen und Erzieher, aber auch zugewandte Erwachsene verloren durch die Kontaktbeschränkungen den direkten Zugang zu potenziell gewaltbetroffenen Kindern und Jugendlichen. Die üblichen Wege des Erkennens, der Aufdeckung und Beendigung von Gewalt an Kindern funktionierten nicht mehr. Eine erhöhte Nachfrage bei verschiedenen Hotlines (z. B. Kinderschutzhotline, Kinder- und Jugendtelefon der Nummer gegen Kummer, Hilfetelefon) bestätigten dies.
Auch Öffentlichkeitsarbeit und Präventionsprojekte, um Menschen für das Thema sexualisierte Gewalt zu sensibilisieren, konnten nur eingeschränkt umgesetzt werden. Regional bieten Fachberatungsstellen altersspezifische Präventionsveranstaltungen direkt für Kinder und Jugendliche in Kitas, Schulen, Sportvereinen, Jugendzentren usw. an. Auch die bundesweite Initiative „Trau dich!“ zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs (https://www.multiplikatoren.trau-dich.de/), die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) seit 2013 in enger Kooperation mit den Bundesländern durchführt, setzt auf die direkte Ermutigung von Kindern in Zusammenarbeit mit örtlichen Fachberatungsstellen, die den direkten Zugang zu Hilfen ermöglichen. Die „Trau dich!“-Theateraufführungen und die begleitenden Aufklärungsveranstaltungen für Kinder, Eltern und Lehrkräfte mussten abgesagt werden. Über solche Präventionsangebote werden Kinder aufgeklärt und ermutigt, sich jemandem anzuvertrauen. Fachberatungsstellen können kompetent die Verdachtsklärung und Intervention übernehmen, sodass sexualisierte Gewalt beendet werden kann und Betroffene passende Hilfen bekommen. Was passiert, wenn keine Präventionsangebote mehr durchgeführt werden können?
Aktuelle Erhebung
In dieser Sorge um gewaltbetroffene Kinder entschieden BZgA und die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung (BKSF), im Frühsommer 2020 eine Befragung der Fachberatungsstellen durchzuführen, um zu erfahren, wie sich die Pandemie auf ihre Arbeit auswirkt und wie die Kontaktaufnahme zu Kindern und Jugendlichen sowie die Versorgung der Klientinnen und Klienten weiter aufrechterhalten werden kann. Welche Beeinträchtigungen sind in den verschiedenen Arbeitsbereichen Beratung, Prävention, Fortbildung zu verzeichnen. Welche Probleme, Herausforderungen und spezifischen Hilfebedarfe gibt es während einer Pandemie?
Die Befragung wurde von der BZgA im Rahmen von „Trau dich!“ aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegeben. Die Konzeption und Online-Befragung wurde von der BKSF durchgeführt. Das Sozialwissenschaftliche Institut zu Geschlechterfragen Freiburg im FIVE e. V. (SoFFI F.) unterstützte bei der Entwicklung des Fragebogens und übernahm die technische Umsetzung, Programmierung und Auswertung.
An der Online-Befragung haben sich 224 Personen aus 204 Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend aus allen Bundesländern beteiligt. Die Resonanz und die ungewöhnlich hohe Zahl an Freitextantworten auf die offenen Fragen verdeutlichen die Dringlichkeit des Themas. Gefragt wurde u. a. nach:
- Situation der Fachberatungsstellen und Umgang mit den Herausforderungen der COVID 19-Pandemie
- Wünsche und Bedarfe der Fachberatungsstellen angesichts der Pandemie
- Erfahrungen mit digitalen Formaten und neuen Kommunikationswegen
- erlebte Herausforderungen, Chancen und Grenzen (der Digitalisierung)
- Belastung, Bewältigungsstrategien und Unterstützungsbedarf bei den Betroffenen sexualisierter Gewalt
Relevanz des Forschungsprojekts
Die Ergebnisse zeigen, wie flexibel und innovativ die Fachberatungsstellen ihre Angebote auf die pandemiebedingten Gegebenheiten angepasst haben. Die Pandemie verdeutlicht aber auch, wie bedeutsam eine gesamtheitliche, krisenfeste und zugängliche Infrastruktur für Aufklärung, Beratung und Hilfe ist.
Die Befragung gibt nur eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt des ersten Lock-downs wieder. Danach hat sich gezeigt, dass die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen und erforderlichen Anpassungen in der Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt uns noch viel länger begleiten werden. Diese Befragung liefert Hinweise, wie eine Unterstützungsstruktur in Zukunft aussehen müsste, damit Kinder und Jugendliche auch in Krisen nicht alleine gelassen werden. Die Antworten der Fachberatungsstellen zu Veränderungen ihrer Angebotsformen zeigen, dass vieles möglich ist, wenn entsprechende Ressourcen und Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt werden.